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01. Febr. 2008

Die Neokons von Moskau

Die Spin-Doktoren des Kremls und ihr Traum von einer "imperialen Präsidentschaft"

Russland ist zurückgekehrt auf die Weltbühne, und seine Führung genießt in vollen Zügen den neuen Status einer Energiegroßmacht, an der niemand mehr vorbeikommt. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte – neben Putins Popularität und der unübersehbaren Erholung der Wirtschaft – die gezielte Propaganda der Spin-Doktoren des Kremls.

Durch ständige Wiederholung einiger Formeln in der Selbstdarstellung („Stabilisierung durch Putin“, „Chaos der Jelzin-Zeit“ und „Russische Form der Demokratie“) ist es diesen Spin-Doktoren gelungen, westliche Kritik an der autoritären Entwicklung der Innenpolitik als Ausdruck von Kalter-Kriegs-Mentalität und Teil einer Destabilisierungsstrategie dunkler Mächte umzudeuten.

Neu in Deutschland ist, dass auch Politiker ohne die protokollarischen Beschränkungen eines Regierungsamts die unwiderlegliche Leerformel „Russland ist anders“ übernehmen und Rücksichtnahme auf Empfindlichkeiten in Moskau empfehlen. Begründung: Europa sei schließlich von Energieimporten aus Russland abhängig, die Führung in Moskau könnte sich beleidigt von Europa abwenden und den Nachbarn im Osten an den Hals werfen.1 Im Folgenden sollen die Hauptargumente dieses Russland-Bilds sowie einige sich abzeichnende gravierende Kursänderungen in der russischen Politik diskutiert und mit den möglichen Folgen einer unreflektierten Kapitulation westlicher Positionen konfrontiert werden. „Ohne Zweifel ist in den acht Jahren von Putins Präsidentschaft in Russland ein hohes Maß an Stabilität erreicht worden“ – diese Feststellung von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier entspricht dem offiziellen Meinungsbild in Wirtschaft und Politik. Ausgeblendet bleibt dabei, dass Putin von unverhofft positiven Rahmenbedingungen begünstigt wurde: Ein starker Preisanstieg auf den Weltenergiemärkten generierte beträchtliche Windfalls für den russischen Staatshaushalt; gleichzeitig profitierte der Kreml von einer selbstzerstörerischen Außenpolitik Washingtons, die Raum für rivalisierende Ambitionen schuf.

Das Selbstbewusstsein des Kremls gründet auf der Kontrolle über einen großen Teil der Energieströme in Europa und Zentralasien. Der neuerdings erhobene Anspruch auf einen vorderen Rang im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb allerdings steht auf schwachen Füßen. Die unter Putin eingeleitete Verstaatlichung der Schlüsselindustrien hat erhebliche Nachteile, wie alle internationalen Vergleiche belegen: Der Kausalnexus zwischen autoritärer Kontrolle und wirtschaftlichem Wachstum ist negativ, die sozialen Kosten – verursacht durch Korruption und wachstumsbremsende Prioritäten staatswirtschaftlicher Programme – sind unverhältnismäßig hoch.2 In diesem Umfeld drohen auch die Windfalls weiter steigender Energiepreise zu verpuffen.

Wie stabil die innenpolitische Lage Russlands wirklich ist, bleibt allerdings umstritten. Das Verwirrspiel um die Wahl des neuen Parlaments und die Nachfolge Putins im Präsidentenamt3 kann schwerlich als Beweis für die Funktionsfähigkeit der Institutionen des russischen Staates gewertet werden, für den Kreml aber zählt nur das Ergebnis: Die Fassade einer verfassungskonformen Kontinuität der Macht wurde frisch gestrichen, die Wahl des Nachfolgers ist nur noch Formsache. Dieser Erfolg der Kremlführung beruht auf einer Strategie der bewussten Rückkehr zur Tradition russischer Machtausübung, die durch drei Aspekte beschrieben ist: (1) das Fehlen institutionalisierter Mechanismen, mit denen die Staatsführung für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden könnte, (2) die grundsätzliche Widerrufbarkeit von Eigentumsrechten und ein umfassender Interventionsvorbehalt der Politik bei allen wirtschaftlichen Entscheidungen sowie (3) die uneingeschränkte Instrumentierung des Rechtssystems für Zwecke der Staatsmacht.

Putin und seine Mannschaft haben nach den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Turbulenzen der neunziger Jahre sicher einen entscheidenden Beitrag zur Konsolidierung der wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Kernfunktionen des russischen Staates erbracht. Die Leistung, zentrifugale Kräfte eingefangen und die Demoralisierung der Gesellschaft geheilt zu haben, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Seine Popularität spiegelt denn auch die anhaltende Sehnsucht des russischen Volkes nach Ruhe und Ordnung. Dieses politische Kapital wurde zur Etablierung einer imperialen Präsidentschaft genutzt. Nach acht Jahren der Rezentralisierung staatlicher Funktionen und der Wiederverstaatlichung wichtiger Unternehmen besteht jetzt die Gefahr der Lähmung wichtiger Vitalfunktionen in Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Gesellschaft Russlands ist in ihren Strukturen kaum gefestigt und in ihren Reaktionen nur bedingt berechenbar. Wie alle Umfragen zeigen, vertrauen die Bürger der Person Putin, nicht aber den Institutionen des Staates. Die Identifikation Russlands mit Putin bietet jedoch kaum eine ausreichende Basis für einen belastbaren Gesellschaftsvertrag. Zunehmende soziale Spannungen infolge steigender Inflationsraten und grotesker Einkommensunterschiede, aber auch externe Störungen – ein durch Abschwächung der Weltkonjunktur bedingter Rückgang des Wirtschaftswachstums oder auch eine plötzliche Gefährdung der inneren Sicherheit – können hier ungleich größere politische Dynamik gewinnen als in Staaten mit ausbalancierter Gewaltenteilung und effizienter Verwaltung.

Die Verantwortung für die Wahrung einer prekären Balance tragen die Erben des KGB, Technokraten der Sowjetzeit und Transformationsgewinnler, die die machtpolitisch bedeutsamen Teile von Industrie und Finanzvermögen unter sich aufgeteilt und die Schlüsselpositionen der Verfassungsorgane besetzt haben. Diese Machteliten räumen den Bürgern vor allem wirtschaftliche Freiheiten ein, explizit pluralistische oder gar oppositionell-politische Regungen und eine kritische Berichterstattung in den Medien werden dagegen mit selektiv-brutaler Repression unterbunden. Die Duma fällt als Raum für politische Kontroversen aus, und die „Gesellschaftliche Kammer“, ein Gremium, welches die Rückkopplung zur Gesellschaft herstellen soll, erweist sich als kaum mehr als eine Quarantänestation zur Abklärung der Systemkonformität neuer Ideen.

Aber was erreicht wurde, ist nicht politische Stabilität, sondern eine aufwändige, ja verlustreiche Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kontinuität der mehrfach abgesicherten Macht scheint perfekt, sie ist jedoch von innen bedroht. Der sorgfältig gewahrte Mythos vom „Kreml“ als einer Phalanx verschworener Patrioten wurde im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen schwer beschädigt; spektakuläre Verhaftungen und Indiskretionen über undurchsichtige Geschäfte hoher Amtsträger ließen die Funktionsprinzipien eines auf nachrichtendienstlichen Methoden gegründeten Staates deutlich werden, in dem sich Konkurrenten um die Macht durch wechselseitige Androhung der Veröffentlichung kompromittierender Dossiers im Schach halten. Ein offener „Krieg der Tschekisten“ hat jetzt die Interessengegensätze zwischen den verschiedenen Clans der Sicherheits- und Nachrichtendienste offengelegt.

Gleichgültig in welcher Funktion (als Präsident, Ministerpräsident oder russischer Deng Xiaoping) – Putin ist mit seiner Erfahrung als Manager des Interessenausgleichs derzeit unentbehrlich, denn nur er garantiert den Status quo in der Verteilung der einflussreichsten Positionen. Nach acht Jahren scheint jetzt allerdings ein Punkt erreicht, an dem die von ihm für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre als operativer Modus russischer Politik proklamierte „Handsteuerung“ überfordert sein könnte, zumal die Kopiloten erkennbar zerstritten sind. Das Propagandabild von Stabilität durch Kontinuität der Macht könnte durch die Realität sehr schnell überholt werden.

Chaos als Referenzpunkt

Die Kritik am Overkill von Zentralisierung und Kontrolle wird vom Kreml stereotyp mit der Erinnerung an die traumatischen Erfahrungen von Anomie, Megainflation und Korruption in den Jelzin-Jahren beantwortet. Dieses inzwischen zum Mantra der offiziellen Propaganda gewordene Argument dient heute der Mystifizierung der Machtverhältnisse und der Immunisierung der Gesellschaft gegen Versuchungen einer Öffnung des „Systems Putin“ nach der Formel: Wer sich nicht unter- und einordnet, verantwortet den Rückfall ins „Chaos“.

Eine besonders aggressive Variante geht noch weiter mit der Behauptung, die Turbulenzen jener Jahre seien im Transformationskonzept des Westens eingeplant und dann von naiven oder verbrecherischen Kollaborateuren umgesetzt worden. In dieser Sicht waren die „Reformen“ nur ein Vorwand, um Russland auszuplündern und erniedrigen. Im Weltbild des Ressourcennationalismus hatten vor allem die USA mit den „Reformen“ nichts anderes im Sinn, als sich den Zugriff auf die Rohstoffvorräte Russlands zu sichern. Hier richtet der arrogante Triumphalismus der amerikanischen Diskussion über die Frage „Who lost Russia?“ noch heute erheblichen Flurschaden an.4 Die früher nur von Nationalbolschewisten vertretene These einer amerikanisch gesteuerten Verschwörung des Westens gehört jetzt zum Standardprogramm der Propaganda von „Einiges Russland“ und ihren Untergruppierungen. Eine faire Bewertung der Faktoren, die das Entstehen des derzeitigen politischen Systems begünstigten, kann tatsächlich Zweifel wecken, ob in den westlichen „Hilfsprogrammen“ zur Unterstützung der Transformation immer die richtigen Prioritäten gesetzt wurden. Die Terminologie der angelsächsisch dominierten Reformdiskussion jener Jahre („market-democracy“) lässt den Schwerpunkt der Erwartungen in den neunziger Jahren erkennen – die Entfesselung der Kräfte des Marktes als des einzig relevanten Motors für die Entwicklung zur Demokratie. Nach diesem Modell haben die „Oligarchen“ nur die Gunst der Anomie jener Jahre genutzt, denn nur das Fehlen gesetzlicher Schranken ermöglichte es dieser Gruppe von Insidern, Milliardenvermögen beiseite zu schaffen.

Ob die Phase der Plünderung öffentlichen Eigentums in den turbulenten Jahren unter Jelzin hätte vermieden werden können, mag dahingestellt bleiben. Doch dass die prioritäre Einübung rechtsstaatlicher Verhaltensnormen, der Aufbau einer unabhängigen Justiz und einer modernen Verwaltung wesentlich mehr Nachdruck bei der Einführung marktwirtschaftlicher Systemkomponenten verdient hätten, ist unbestreitbar.

Russische Demokratie als neokonservatives Projekt

Das dritte Mantra der russischen Propaganda fasst mehrere Facetten eines zur Ideologie ausformulierten Selbstfindungsprozesses in der innenpolitischen Diskussion zusammen: Danach hat sich Russland von der Dominanz westlicher Demokratievorstellungen emanzipiert und folgt einem eigenen Entwicklungspfad zur „souveränen russischen Demokratie“. Zentrale Elemente der neuen Ideologie sind die Wiedergewinnung der gefährdeten nationalen Würde und die Reinterpretation der sowjetischen Vergangenheit.

Der Traum von der imperialen Präsidentschaft, die zentrale Rolle traditioneller Werte, der Primat militärischer Macht und der Anspruch auf absolute außenpolitische Souveränität rechtfertigen in gewisser Weise die Analogie zum amerikanischen Neokonservativismus, wie er sich in der Vision vom „American Twenty-First Century“ artikulierte.5 Auch die politische Instrumentierung eines slawisch-orthodoxen Exzeptionalismus durch den Kreml, der die moralische Überlegenheit des orthodoxen Russland gegenüber dem dekadenten Westen postuliert und z.B. die bedingungslose Unterstützung für die serbischen Nationalisten rechtfertigt, erinnert an das Zusammenspiel neokonservativer Republikaner in den USA mit evangelikalen Fundamentalisten.

Für die Disziplinierung des innenpolitischen Diskurses und die aktuelle Mobilisierung entscheidend ist die Abgrenzung von westlichem Gedankengut, das nicht nur als unvereinbar mit russischen Traditionen, sondern als subversiv gewertet wird. Einige der dabei entwickelten Leitbilder lassen aufhorchen. So fordert eine von teilweise namhaften Autoren erarbeitete „Russische Dok-trin“6 die Umwandlung der derzeitigen politischen Ordnung in ein System paralleler politischer und ökonomischer Institutionen („Das unsichtbare vernetzte Russland“), die vom „Nationalen Führer“ Putin und den hinter ihm stehenden Silowiki kontrolliert werden sollen.

Dabei mag es sich nur um Gedankenspiele übereifriger Claqueure des Kremls handeln. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient die von Wladislaw Surkow – immerhin dem für Innenpolitik zuständigen Leiter der Kremladministration – formulierte ideologische Plattform von „Einiges Russland“.7 Surkow ist sicher kein Alfred Rosenberg, aber die Nähe seiner Programmatik zu faschistischen Staatsdoktrinen verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihr bisher zuteil wurde.

Er bezieht seine geistesgeschichtliche Inspiration bei Berdjajew, der am Anfang des 20. Jahrhunderts die russische Kultur im Gegensatz zur „analytisch-differenzierenden“ Kultur Europas als „religiös-synthetisch“, „intuitiv“ und „holistisch“ charakterisierte. Surkow geht darüber hinaus: „Die Synthese kommt vor der Analyse, der Idealismus vor dem Pragmatismus, die Bildhaftigkeit vor der Logik, die Intuition vor der Vernunft und das Ganze vor den Einzelteilen“. Davon leitet er dann drei „Besonderheiten der politischen Praxis“ in Russland ab: das „Streben nach Einheitlichkeit durch Zentralisierung der Machtfunktionen“, die „Idealisierung der Ziele im politischen Kampf“ und die „Personifizierung der politischen Institutionen“.

Die Frage der Legitimität der Macht erledigt sich mit dem Verweis auf die Popularität der Führung, Loyalität ist wichtiger als Legalität. Es wäre verfehlt, solche Formulierungen als Wahlkampflyrik abzutun. Sprachliche Mystik dieser Art dient nicht zuletzt der Mystifizierung der aktuellen Machtverhältnisse und der emotionalen Motivierung der Bürger für beliebige Ziele. Die Phase mühsamer Tautologien (Vitalij Tretjakow: „Demokratie ist souverän, und Souveränität ist demokratisch“) im Vorfeld der Duma- und Präsidentschaftswahlen ist jetzt beendet. Das machtpolitische Leitbild der politischen Eliten wurde vom Chefredakteur der kremlnahen Moskauer Zeitschrift Profil, Michail Leontiew, mit schöner Offenheit formuliert: „Demokratie ist nichts anderes als die Steuerung des Volkes durch die Eliten. … Unsere heutigen Machthaber sind für immer gekommen. Man mag schreien, sie seien blutrünstig oder sie seien Gauner. Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie wissen, dass sie die Macht für immer behalten werden.“

Nimmt man die intensiven Bemühungen um den Aufbau einer parteiübergreifenden Massenbewegung („Für Putin“) und die Forderungen nach Institutionalisierung eines „Nationalen Führers“, gewählt von einer „Bürgerversammlung“ („Grazhdanskij Sobor“), hinzu, so zeichnet sich als Ziel eine Parallelstruktur von Staat und „Partei der Macht“ ab, die mit der geltenden Verfassung nichts mehr zu tun hat. Solche Aktivitäten werden vom Kreml nicht nur toleriert, sondern organisatorisch und finanziell gefördert – ganz im Gegensatz zu den demokratischen Parteien oder Bürgerinitiativen. Gewiss tragen die inzwischen von der politischen Bühne Russlands verdrängten demokratischen Politiker ein gerüttelt Maß an Schuld für den Rückfall in vordemokratische Verhältnisse. Andererseits ist auch die ideologische Verunsicherung der aus allen Verankerungen gerissenen Gesellschaft nicht zu übersehen. Die sozialen und psychologischen Voraussetzungen für die beschriebene politische Entwicklung wurden bei weitem nicht hinlänglich untersucht. Die Verunsicherung ist jedenfalls nicht auf die Generation der heutigen Rentner beschränkt; auch und gerade die nach 1970 Geborenen sind frustriert und suchen nach Zukunftsmodellen.8

Das Dilemma europäischer Politik

Eine realistische Betrachtung führt zu dem Schluss, dass der Traum von einer Partnerschaft mit Russland nach westlichen Standards ausgeträumt ist. In jedem Fall greifen Analysen zu kurz, die die Verhärtung der russischen Außenpolitik allein der eingeschränkten Kooperationsbereitschaft einer machtbewusst-autoritären Führung in Moskau zuschreiben. Die Herausforderung durch die Hegemonialpolitik der USA und die Beobachtung des Auseinanderdriftens der politischen Kulturen Amerikas und Europas sowie der immer offener zutage tretenden Interessendivergenzen im atlantischen Bündnis spielen eine wichtige Rolle im Kalkül des Kremls. Bis heute betrachten die postsowjetischen Eliten die USA als den einzigen ernst zu nehmenden machtpolitischen Gegenspieler. Die amerikanische Einflussstrategie im postsowjetischen Raum, kombiniert mit Autonomiebestrebungen eigener Minderheiten im Kaukasus und den eingefrorenen Konflikten vor der russischen Haustür, hat nun die Rivalitätsreflexe der Sowjetzeit wiederbelebt.

Dieses außenpolitische Umfeld verstärkt den regressiven Trend der russischen Innenpolitik: Einerseits wird jegliche Kritik von außen als Teil einer Subversionsstrategie denunziert, andererseits kokettieren die politischen Würdenträger und ihre intellektuellen Claqueure in Moskau auch mit dem westlichen Vorwurf des Autoritarismus, der als Bestätigung der neuen authentisch-russischen Souveränität gedeutet wird. Die Putin-Administration besetzt eine propagandistisch höchst wirkungsvolle Position, indem sie die Allianz im Kampf gegen den Terrorismus, aber auch die Krise der amerikanischen Demokratie für die Rechtfertigung des „russischen Demokratiemodells“ nutzt.

Nun finden das europäische Modell der politischen Integration und die gegenüber Russland betriebene Politik von Kooperation und kritischer Einbindung eine ungleich größere Resonanz in der russischen Öffentlichkeit als amerikanische Konzepte. Die in Umfragen ermittelte anhaltend positive Einstellung zu Europa erklärt die besondere Mischung aus machtpolitischer Arroganz und nervöser Empfindlichkeit des Kremls gegenüber Brüssel; die Lippenbekenntnisse zu europäischen Werten sind dementsprechend deutlich zurückgegangen. Andererseits ist die Europäische Union als Abnehmer russischer Energieträger, Lieferant moderner Technologien und Luxusgüter sowie als sicherer Hafen für Kapitalexporte kaum zu ersetzen, d.h. sie bleibt der unbequeme Präferenzpartner für das schwierige Modernisierungsprojekt der Administration Putin/Medwedew.

Dieser in systempolitischer Hinsicht vielleicht sogar entscheidende Vorsprung wird bedroht durch die Politik europäischer Energiekonzerne, die sich bereitwillig dem russischen Pipeline-Imperialismus unterordnen. Wenn dann noch führende europäische Staatsmänner beflissene Glückwunschtelegramme zum Sieg der „Partei Putins“ versenden, wenn sie die europäische Wettbewerbspolitik mit ihrem Ziel multilateraler Verflechtung durch die nationale Förderung bilateraler Großprojekte mit Russland unterlaufen, dann werden langfristig europäische Interessen der Logik russischer Marktmacht geopfert.

Mit der Machtübernahme durch die Neokonservativen in Moskau hat sich der Korridor europäischer Politik zwischen Appeasement und argumentativer Einflussnahme weiter verengt. Daraus aber den Schluss zu ziehen, die energiepolitische Abhängigkeit von Russland sei zu groß, um Kritik an bedenklichen innenpolitischen Entwicklungen zu riskieren, läuft auf Kapitulation vor einem geopolitischen Konzept aus dem 19. Jahrhundert und Verrat an den letzten Hoffnungen auf eine mit europäischen Standards kompatible Entwicklung in Russland hinaus.

Gerade wegen des hohen Grads an energie- und wirtschaftspolitischer Verflechtung kann die europäische Russland-Politik sich weder eine resignierte Kollusion mit einem Petrostaat leisten, noch sich auf die absurde Vision eines von außen zu erzwingenden Regime Change einlassen. Die geostrategischen Nullsummenspiele im amerikanisch-russischen Verhältnis haben die langfristigen Interessen Europas bereits erheblich beschädigt. Die Sicherung des europäischen Einflusses und die langfristige Annäherung der Leitbilder russischer Politik an europäische Standards steht und fällt deshalb mit der Emanzipation der EU von amerikanischer Dominanz in der Bestimmung von Zielen und Methoden der Außen- und Sicherheitspolitik. Es wäre verfehlt, diesen Aspekt europäischer Russland-Politik mit Verrat an der transatlantischen Partnerschaft zu verwechseln. Washington muss die Eckpunkte der Zusammenarbeit neu justieren.

Alle Beteiligten stehen vor dem Kernproblem der Unvereinbarkeit nationalistisch-rückwärtsgewandter Leitbilder der politischen Eliten Russlands mit dem globalen Charakter der sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Herausforderungen. Die von Putin angestrebte Modernisierung kann nicht mehr im nationalen Rahmen realisiert werden, und der Dialog mit den verantwortlichen Technokraten in Moskau lässt sich nicht mehr auf einen hermetisch abgeschirmten Kreis von Fachleuten beschränken, d.h. die Weltöffentlichkeit ist nicht nur Beobachter, sondern Mitspieler in einem erweiterten Zusammenhang der Beziehungen Moskaus zur Außenwelt. Globalisierung setzt Transparenz nicht nur bei wirtschaftlichen Interaktionen voraus. Weltweit lassen sich Berichte über Verstöße gegen Menschen- und Bürgerrechte, Repression und Korruption auf Dauer nicht unterdrücken. Nicht nur in Moskau vergrößern die Versuche von Pressesprechern, diese Skandale mit Spin zu neutralisieren, den Imageschaden, und sie unterminieren das auch aus Sicht der Technokraten notwendige wechselseitige Vertrauen. Insofern geht es für alle Beteiligten um wesentlich mehr als um Utopien von einer besseren Welt. Dominique Moïsi hat Recht, wenn er formuliert: „In einem von Transparenz und Interdependenz geprägten Zeitalter, wo die Herzen der Menschen über die Zustimmung der Medien gewonnen werden, ist moralisch zu sein realistisch und zynisch zu sein naiv.“10

Demokratiedefizite beinhalten immer auch das Risiko des Prestigeverlusts für die Verantwortlichen. Dieses Argument mag in der öffentlichen Diskussion Russlands heute keine Rolle spielen; für die politische Führung bleibt es jedoch von erheblicher Bedeutung. Wie sonst ist die Intensität zu erklären, mit der sich die russische Regierung im Ministerrat der OSZE bemüht, Sicherheit in Europa auf den rein militärischen Aspekt zu reduzieren, d.h. die menschliche Dimension auszuklammern? An dieser Stelle wird aber auch deutlich, wo die europäische Diplomatie ansetzen muss, wenn sie ihren Einfluss auf die Entwicklungen in Russland nicht völlig verlieren soll: Es gilt, jene Verträge, in denen Russland sich in den neunziger Jahren vertraglich zur Zusammenarbeit im Rahmen gesamteuropäischer Institutionen (PACE, OSZE, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) verpflichtet hat, mit neuem Leben zu erfüllen. Die Formulierung des erneuerten Abkommens zwischen EU und Russland darf keine Leichtversion des auslaufenden Vertrags werden.

Konkrete Ansatzpunkte für eine solche Politik gibt es genügend. So sollten russische Beobachter ausdrücklich zu allen Wahlen in der EU eingeladen und Moskauer Forderungen nach Reziprozität bei der Zulassung von nichtstaatlichen Organisationen11 positiv aufgenommen werden, denn sie helfen, die Klammern der bestehenden Verträge zu verstärken und die Kontinuität der Arbeit westlicher Einrichtungen in Russland zu sichern. Die diplomatische Offensive Moskaus, von der Aufkündigung des KSE-Vertrags bis zur Blockade der Finanzierung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die anmaßende russische Propaganda verlangen Gegeninitiativen.

Angesichts der beschriebenen Trends der russischen Innenpolitik wäre Leisetreterei kontraproduktiv. Nur eine nichtkonfrontative, aber intensive Auseinandersetzung über strittige Grundsatzfragen kann die Chance für einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Welt durch die russischen Eliten offen halten.

Prof. Dr. HEINRICH VOGEL, geb. 1937, war Direktor des Instituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln.

  • 1 Erhard Eppler: Europa darf Russland und China nicht verprellen, Süddeutsche Zeitung, 28.11.2007.
  • 2Michael McFaul und Kathryn Stoner-Weiss: The Myth of the Authoritarian Model. How Putin’s Crackdown Holds Russia Back, Foreign Affairs, Januar/Februar 2008, S. 68–84.
  • 3Heinrich Vogel: Machtwechsel als Hütchenspiel, RusslandAnalysen Nr. 154, 21.12.2007.
  • 4Vgl. die Kritik von Dmitri K. Simes: Losing Russia – the Costs of Renewed Confrontation, Foreign Affairs, November/Dezember 2007, S. 36–52.
  • 5http://www.newamericancentury.org/statementofprinciples.htm.
  • 6Vgl. Victor Yasmann: Russia: Putin’s Plan to become „Father of a New Country“, RFE/RL, 20.12.2007 sowie http://www.rusdoctrina.ru/index.php?subject=1.
  • 7Nachzulesen auf der Homepage von „Einiges Russland“: http://www.edinros.ru/print.hmtl?id=121456.
  • 8Lesenswert das Feature von Sophia Kishkovsky über Sergei Minaev: The Tortured Voice of Russia’s Lost Generation, New York Times, 22.12.2007.
  • 10Financial Times, 16.12.2007.
  • 11Etwa für die Gründung eines russischen Instituts zur Beobachtung der Situation von Minderheiten, Einwanderern und Medien in Brüssel: Nikolaus von Twickel: Putin Says Russia Will Check EU on Rights, Moscow Times, 29.10.2007.