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01. Okt. 2002

Russland und der Westen

Der Preis der Partnerschaft

Das Ziel einer sicherheitspolitischen „Einbindung“ Russlands, so der Autor, wird sich nur realisieren lassen, wenn die Erwartungen an den Erfolg des „westorientierten Autokraten“ Wladimir Putin auf ein realistisches Maß gebracht und laufend überprüft werden. Auf Kritik an Menschenrechtsverletzungen und Mängeln im Rechtssystem sollte nicht verzichtet werden.

Uneingeschränkter Beifall war dem russischen Präsidenten nur im Westen sicher, als er den USA spontan seine Unterstützung im Krieg gegen den Terror zusagte. In Russland war diese außenpolitische Wende umstritten. Hochrangige Militärs, patriotische Politiker und vorlaute Journalisten haben sich inzwischen in ihrer Kritik mit Rücksicht auf die historischen Gipfeltreffen von Moskau und Rom (und ihre Karrierechancen) zurückgenommen, aber trotz intensiver Einflussnahme des Kremls sind die skeptischen Kommentare nicht ganz verstummt.

Souveränitätsverlust wegen der Gefolgstreue zum Führer der Koalition gegen den Terror, die militärische Präsenz der Vereinigten Staaten im Kaukasus und in Zentralasien und die Gefahr weiterer rüstungspolitischer Marginalisierung werden nicht nur von notorischen Nationalisten beklagt. Dass Russlands Großmacht-rolle angesichts der wirtschaftlichen Schwäche nicht durchzuhalten war, bestreiten mittlerweile auch die Konservativen nicht. Aber die schweigende Mehrheit der außenpolitischen Eliten steht nach wie vor in der Tradition kritischer Distanz zur amerikanischen Außenpolitik.

Wladimir Putin ist sich der Grenzen der auf Energieexporten und Nuklearwaffen beruhenden Restmacht Russlands bewusst, aber er kann sich nur auf eine kleine Gefolgschaft verlassen – bei den Gewinnern der Transformation. Zwar kontrolliert der Kreml den außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess nach Belieben, und die Außenpolitik dürfte auch kaum zum zentralen Thema der bevorstehenden Wahlkämpfe um Duma-Mehrheiten und Präsidentschaft werden. Aber er muss bei Militär, Sicherheitsapparaten, Rüstungsindustrie und Diplomatie mit Funktionseliten rechnen, die einem höchst traditionellen Weltbild anhängen und eine Wende rückwärts in das traditionell konfrontative Rollenverständnis russischer Außenpolitik nur zu gerne mittragen würden – sollte der Wind drehen.

Die Dauerhaftigkeit des neuen Kurses in Moskau steht und fällt mit der Modernisierung von Wirtschaft und Staat durch Integration in die Weltwirtschaft. Dabei lässt die akute Schwäche der internationalen Märkte kurzfristig bestenfalls eine Aufwertung Russlands als Gegenspieler der OPEC erwarten, nicht aber die vom Präsidenten immer wieder geforderte Beschleunigung des Wirtschaftswachstums.

Wichtige Argumentationsbasis für die Öffnung zum Westen wäre die Erweiterung des Spektrums konkreter militärischer und industrieller Zusammenarbeit. Ansatzpunkt könnte die Zusammenarbeit bei der Entschärfung der Altlasten an russischen Massenvernichtungswaffen sein, wo verstärkte Anstrengungen möglich und gefordert sind, um Unfälle und Proliferation zu verhindern. Aber auch bisher ausgesparte Felder kritischer militärischer Technologien sollten geprüft werden; hier hat Russlands Forschung und Entwicklung immer noch einiges zu bieten. Mehr als in anderen Bereichen sind dabei freilich Vertrauen in die Fairness der Partner und die Bereitschaft zur Gegenleistung wichtige Voraussetzungen. Gleiches gilt für den Austausch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, ein weiteres Feld der Bewährung für die neue Partnerschaft insbesondere im amerikanisch-russischen Verhältnis.

Hier, wo es jenseits diplomatischer Großereignisse ans Eingemachte wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen geht, ist die Bilanz der vergangenen zehn Jahre eher negativ, denkt man nur an das Schicksal eines wirtschaftlich wie politisch so plausiblen Projekts wie den Großraumtransporter AN-70, der am Widerstand der europäischen Luftfahrtlobby scheiterte. Auch die amerikanische Ablehnung russischer Kooperationsangebote für die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen kann nicht optimistisch stimmen. Die Zielvorstellungen der neokonservativen Globalstrategen in den USA entziehen sich jeder ernsthaften Diskussion. Zu der Gleichgültigkeit gegenüber den In-teressen des Partners kommt auch noch Desinteresse an den politischen Grundlagen und der längerfristigen Tragfähigkeit der komplizierten Partnerschaft mit Russland.

Das Ziel der sicherheitspolitischen „Einbindung Russlands“ wird sich nur realisieren lassen, wenn die Erwartungen an den Erfolg des westorientierten Autokraten Putin auf ein realistisches Maß gebracht und laufend überprüft werden. Im Ergebnis wird man auch die Skeptiker im sicherheitspolitischen Establishment Moskaus einbeziehen müssen, und zwar in konkrete Projekte. Zu hoch wäre der Preis der neuen Partnerschaft allerdings, wenn die Kritik an der Verletzung der Menschenrechte in Tschetschenien und an Mängeln im Rechtssystem Russlands auf dem Altar der Koalition gegen den Terror geopfert würde. Die in der Charta von Paris 1990 beschworenen Grundüberzeugungen wurden in den letzten Monaten bereits bis an die Grenzen der Unkenntlichkeit kompromittiert.

Hier heißt es, die Spannung zwischen Kritik an der Nichteinhaltung verpflichtender Standards einerseits und dem Angebot intensivierter Zusammenarbeit andererseits auszuhalten. Die Erfahrung zeigt, dass Standfestigkeit in Grundsatzfragen nicht nur moralisch angezeigt, sondern auch politisch produktiv ist, solange die Partner gesprächsbereit bleiben.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2002, S. 47 - 48.

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