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01. März 2008

Der steinige Weg ins globale Zeitalter

In Bukarest muss die NATO die Weichen für das 21. Jahrhundert stellen

Afghanistan, Balkan, Raketenabwehr, Erweiterung: Baustellen, wohin man schaut. Die NATO bietet heute das Bild eines Bündnisses, dem es an Klarheit über seinen Daseinszweck mangelt. Große strategische Konzepte sind aus Bukarest nicht zu erwarten. Entscheidend ist etwas anderes: die Bereitschaft der NATO-Mitgliedsstaaten, sich globalen Herausforderungen auch dann zu stellen, wenn der Preis hoch ist.

Vom 2. bis zum 4. April wird die NATO ihren nächsten Gipfel in der rumänischen Hauptstadt Bukarest abhalten. Es wird der zweite Akt einer „Drei-Gipfel-Strategie“ sein, die mit dem Treffen von Riga im November 2006 begann und im nächsten Jahr mit einem weiteren Gipfel zum 60. Geburtstag der Allianz enden soll. War der Gipfel von Riga eine eher „introvertierte“ Veranstaltung – ohne die Teilnahme der Partnerstaaten und nahezu vollständig von operativen Fragen geprägt1 –, so ist das Treffen in der rumänischen Hauptstadt das genaue Gegenteil: hochrangige Politiker und Diplomaten aus mehr als 60 Nationen werden erwartet, ebenso Vertreter zahlreicher internationaler Institutionen. Bereits organisatorisch werden damit Zeichen gesetzt: die NATO als Bündnis, das sich globalen Herausforderungen stellt – und dies zunehmend gemeinsam mit anderen Nationen und Organisationen aus der ganzen Welt.

Ob es der NATO in Bukarest gelingt, dieses positive Bild einer breiteren Öffentlichkeit überzeugend zu vermitteln, wird sich zeigen. Die schwierige Lage in Afghanistan lenkt die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf den Einsatz am Hindukusch – und befördert damit eher das Bild einer ratlosen Allianz. Denn inzwischen ist deutlich geworden, dass sich die NATO-Staaten dort auf eine Aufgabe eingelassen haben, die ihnen mehr abverlangt, als zumindest einige von ihnen zu geben bereit sind. Entsprechend häufig wird folglich das Bild eines Bündnisses gezeichnet, dem es an Klarheit über seinen Daseinszweck mangelt. Vorschläge, um die Allianz aus ihrer vermeintlichen Krise herauszuführen, gibt es zuhauf. Einige Autoren sehen die NATO als Kern einer künftigen weltweiten „Gemeinschaft der Demokratien“ – weit über die Gruppe der gegenwärtigen Mitglieder hinaus.2 Andere befürworten die rasche Aufnahme Georgiens oder gar Israels in die NATO. Der ehemalige spanische Premier-minister Aznár will das Bündnis zum globalen Terroristenjäger mutieren sehen.3 Andere Beobachter hingegen – insbesondere innerhalb der Organisation selbst und in manchen ihrer Hauptstädte – sehen das Problem nicht in einem Mangel an neuen Ideen, sondern vielmehr in deren Überangebot. Sie hegen die Sorge, dass das Bündnis bereits heute an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit angelangt ist – und an seinem Ehrgeiz scheitern könnte.

Die Ausgangslage: ein unvollkommener transatlantischer Konsens

Gleichgültig, ob man der maximalistischen oder der minimalistischen Denkschule den Vorzug gibt, muss eine nüchterne Analyse zuerst und vor allem der Tatsache ins Auge sehen, dass der Versuch, nach „9/11“ und der Irak-Kontroverse einen neuen transatlantischen Konsens in der Sicherheitspolitik herzustellen, bislang nur unvollkommen gelungen ist. Zu den zahlreichen positiven Entwicklungen gehört zweifelsohne die Einsicht, dass das geografische, „territoriale“ Sicherheits-verständnis des Kalten Krieges ausgedient hat und Sicherheitspolitik im Zeitalter globaler Bedrohungen in erster Linie eine Politik des aktiven Handelns ohne geografische Beschränkungen sein muss. Auch über die Richtung der militärischen Transformation der NATO – weg von großen Armeen zur Territorialverteidigung und hin zu Expeditionsfähigkeiten – besteht bei den Verbündeten weithin Einigkeit. Die Erkenntnis, dass Nation-building ein integraler Bestandteil moderner Sicherheits-Politik sein muss, hat inzwischen auch bei jenen Einzug gehalten, die dieses Konzept lange Zeit als „social engineering“ verächtlich gemacht haben. Ebenso ist die Notwendigkeit einer engeren Abstimmung zwischen den militärischen und zivilen Akteuren in einem Krisengebiet („vernetzte Sicherheit“) inzwischen unbestritten, wenngleich unterschiedliche Auffassungen über die Priorität ziviler und militärischer Maßnahmen fortbestehen. Und die wachsende amerikanische Bereitschaft, sich mit der Realität einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik abzufinden, eröffnet größere Spielräume für neue transatlantische Ansätze – auch in sicherheits-politischen Fragen.

Diese Elemente eines neuen transatlantischen Konsenses sind einmal mehr Beleg für die Anpassungsfähigkeit der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen. Zugleich widerlegen sie die vor allem während der Irak-Krise kolportierte These einer irreversibel gewordenen Entfremdung zwischen den USA und Europa. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass in einigen wichtigen Fragen der Sicherheitspolitik nach wie vor kein Konsens besteht – und wohl auch längerfristig nicht zu erwarten ist. Deutlichstes Beispiel hierfür ist die Terrorismusbekämpfung. Während die USA den „war on terror“ zum zentralen sicherheitspolitischen Paradigma erhoben haben und dafür auch erhebliche politische (Guantánamo) und militärische (Irak) Kosten zu zahlen bereit sind, bleibt Europa von einer derart dramatischen Lageeinschätzung weit entfernt. Auch die Auffassungen über die Legitimität präventiver Militäreinsätze gehen weit auseinander. Während die USA die präventive Anwendung militärischer Macht in zahlreichen Fällen für richtig erachten (z.B. zur Verhinderung von Proliferation), sind die Europäer nur im Falle akuter terroristischer Bedrohungen zu einem solchen Schritt bereit. Auch die Frage, welchen Stellenwert die Demokratie-Förderung in der Sicherheitspolitik einnehmen soll, wird auf beiden Seiten des Atlantiks unterschiedlich beantwortet.

Und nicht nur dies. So erfreulich der transatlantische Schulter-Schluss in der Iran-Frage ist, so wenig hat er sich bislang in einen umfassenden Konsens über den Umgang mit der Herausforderung der nuklearen Proliferation verwandelt. Europäische Hoffnungen, das Irak-Debakel habe die USA wieder auf den Pfad der multilateralistischen Tugend zurückgeführt, dürften sich schon bei der nächsten größeren Krise als Illusion entpuppen: Für jede amerikanische Regierung stellt sich die Frage, ob die NATO oder eine „Koalition der Willigen“ vorzuziehen sei, in jedem Einzelfall neu. Zu guter Letzt bleibt der Anspruch der EU auf eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungs-Politik – ungeachtet seiner inzwischen auch von Washington nicht mehr bestrittenen Legitimität – eine ständige Herausforderung für das transatlantische Sicherheits-Arrangement in der NATO. Das ambivalente Verhältnis zwischen EU und NATO zeigt dies nur allzu deutlich. Denn was sich vordergründig als bürokratisches Gerangel um eine pragmatische Zusammenarbeit der beiden Institutionen darstellt, ist im Kern ein Machtkampf zwischen europäischer Selbstbehauptung und amerikanischer Dominanz, der wohl nie völlig aufgelöst werden kann.

Zu diesen Faktoren hat sich inzwischen ein weiterer hinzugesellt, der den transatlantischen Konsens belastet: die zunehmende militärisch-operative Beanspruchung der NATO, insbesondere durch den Afghanistan-Einsatz. Diese neue operative Realität hat bereits eine Reihe von Problemen offenbart, die die Verbündeten bislang nicht überwinden konnten. So hat der Einsatz am Hindukusch beispielsweise deutliche Unterschiede in der Bedrohungsperzeption wie auch in den „strategischen Kulturen“ der NATO-Staaten erkennen lassen. Während einige Verbündete den Einsatz als Kampf gegen eine unmittelbare Bedrohung verstehen und folglich auch Verluste in Kampf-Einsätzen hinzunehmen bereit sind, erwecken andere Bündnisnationen den Eindruck, die Operationen berührten ihre Sicherheit bestenfalls mittelbar. Sie sehen daher auch keine Veranlassung, den als Hilfe zum Wiederaufbau konzipierten Charakter ihres militärischen Engagements zu hinterfragen. Die unterschiedlichen verfassungspolitischen Wirklichkeiten in den Mitgliedsstaaten tun ein Übriges, um den Eindruck zu verstärken, der Allianz fehle es an einer einheitlichen Strategie. Der Einsatz der Streitkräfte mancher NATO-Staaten erfolgt nur mit nationalen Vorbehalten; die Vermeidung von innenpolitisch schwer zu rechtfertigenden Verlusten hat einen höheren Stellenwert als die Frage nach der größt-möglichen militärisch-operativen Wirksamkeit.

Mehr noch. Während die NATO-Staaten mit den operativen Herausforderungen am Hindukusch ringen, zeigen die Entwicklungen in Russland, im Kaukasus und auf dem Balkan, dass auch in Europa ein Sicherheitsdefizit fortbesteht. Moskaus massive Kritik an den amerikanischen Raketenabwehrplänen und seine Suspendierung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), das Drängen Georgiens und der Ukraine auf NATO-Mitgliedschaft und nicht zuletzt die offene Kosovo-Frage haben in Erinnerung gerufen, dass die NATO ungeachtet ihrer globalen Aufgaben nach wie vor auch eine genuin europäische Mission hat: Die Konsolidierung Europas als gemeinsamer Sicherheitsraum ist noch lange nicht zu Ende.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb es bei der Reform der NATO nicht darum gehen kann, mit möglichst spektakulären Vorschlägen aufzuwarten. Die Befindlichkeit vieler kontinentaleuropäischer Verbündeter ist noch immer zu „eurozentrisch“, um der ambitionierten globalen Agenda der USA vorbehaltlos folgen zu können. Vielmehr muss es die Aufgabe der Verbündeten sein, die NATO als Koordinations- und Handlungsrahmen zu nutzen, um den transatlantischen Konsens schrittweise auf neue Problem-Bereiche auszuweiten. Der Gipfel in Bukarest kann folglich trotz seiner „globalen“ Dimensionen kein Gipfel sein, der sich ausschließlich mit globalen Fragen beschäftigt. Wie jeder Gipfel der NATO wird auch Bukarest ein breites Spektrum von Themen abdecken müssen – darunter auch solche, die innerhalb der Allianz nach wie vor kontrovers diskutiert werden.

Afghanistan

Auch wenn es manche Beobachter inner- wie außerhalb der NATO nicht immer wahrhaben wollen: Jeder NATO-Gipfel ist heute in erster Linie ein Afghanistan-Gipfel. Und dies aus gutem Grund. So wie der Streit um die militärische Lastenteilung und nationale „caveats“ in Afghanistan bereits im Vorfeld des Riga-Gipfels für Aufregung gesorgt hatte, prägte die Debatte um amerikanische Forderungen an ihre NATO-Verbündeten, sich militärisch stärker in Afghanistan zu engagieren, auch die Vorbereitungen für Bukarest. Unter diesen Bedingungen die gewünschte Einigkeit zu demonstrieren, dürfte dem Bündnis nicht leicht fallen. Die in den verschiedenen Teilen Afghanistans stark unterschiedliche Sicherheitslage hat zu unterschiedlichen Lageeinschätzungen und folglich unterschiedlichen Strategien geführt: Diese Divergenzen sind vor allem verantwortlich für die Wahrnehmung einer Allianz ohne Kompass. So ist das Regionalkommando Süd de facto bereits zur „Koalition der Willigen“ innerhalb der NATO geworden – als Koalition derjenigen Verbündeten, die sich in Kampfeinsätzen befinden und daher ihre Strategien untereinander abstimmen. Damit rührt der Afghanistan-Einsatz am Grundprinzip der Bündnis-Solidarität – ein Zustand, der in Bukarest notwendigerweise zur Sprache kommen muss.

Ein Teil der Antwort wird in einer umfassenderen politisch-militärischen Strategie liegen, die man bis zum Gipfel erarbeiten will. Ein weiteres Element dürfte die Veröffentlichung eines „Vision Statement“ sein, mit dem nicht nur die Einheit des Bündnisses beschworen, sondern zugleich dem Eindruck entgegengewirkt werden soll, der Afghanistan-Einsatz habe keine klar definierten Ziele. Aus diesem Grund dürfte auch die Definition von „benchmarks“ breiten Raum einnehmen. Zentrales Thema wird jedoch der „Comprehensive Approach“ sein. Dieser Begriff, der in Deutschland unter dem Begriff der „vernetzten Sicherheit“ firmiert, ist Zustands-Beschreibung und Forderung zugleich. Er reflektiert zum einen die Tatsache, dass moderne Sicherheitspolitik zu großen Teilen Wiederaufbauleistung ist und daher nicht allein mit militärischen Mitteln bestritten werden kann. Zugleich mahnt er eine enge Abstimmung der für dieses Nation-building verantwortlichen zivilen und militärischen Akteure an. Eine solche Abstimmung findet bisher nur in unzureichendem Maße statt – jede Institution folgt ihren eigenen Prioritäten; Zusammenarbeit vollzieht sich auf Ad-hoc-Basis im Krisengebiet, nicht jedoch zwischen den Hauptquartieren.

Für die NATO ist diese Situation in besonderem Maße unerquicklich: Da die für die langfristige Stabilisierung Afghanistans zwingend notwendige wirtschaftliche Entwicklung nur von anderen Akteuren geleistet werden kann, wird das Bündnis gleichsam zur Geisel des Engagements der internationalen Gemeinschaft. Bleibt dieses Engagement hinter dem militärischen zurück, ist ein Misserfolg der NATO vorprogrammiert: Das Bündnis würde auf eine perspektivlose militärische Präsenz ohne nachhaltige Verbesserung der Gesamtlage zurückgeworfen. Die Teilnahme zahlreicher hoher Vertreter der wichtigsten dieser Organisationen am Bukarester Gipfel soll die Forderung nach einem ganzheitlichen Ansatz der internationalen Gemeinschaft unterstreichen. Dass die NATO damit aus ihrer unbequemen Rolle herauskommen kann, ist jedoch unwahrscheinlich. So hat bereits die bündnisinterne Diskussion zum „Comprehensive Approach“ gezeigt, dass auch unter den Verbündeten selbst unterschiedliche Auffassungen über den Stellenwert der NATO im Rahmen eines Gesamtansatzes der internationalen Gemeinschaft fortbestehen.

Kosovo

Die zweite große Operation der NATO, der Kosovo-Einsatz, wird von den Problemen in Afghanistan überschattet, ist jedoch kaum weniger bedeutsam. Schließlich steht die NATO noch immer mit mehr als 15 000 Soldaten in dieser unter internationaler Verwaltung stehenden, nach Unabhängigkeit strebenden serbischen Provinz. Die in den vergangenen Jahren erfolgreich betriebene Marginalisierung der radikalen Kosovaren einerseits sowie die Wahl des gemäßigten serbischen Präsidenten Boris TadiŤ andererseits geben Grund zu der Hoffnung, dass es für das Kosovo bald doch noch eine tragfähige politische Lösung geben könnte. Die NATO jedenfalls hat deutlich gemacht, dass sie ihre militärische Präsenz in dieser schwierigen Phase nicht reduzieren wird. Sollte es tatsächlich zur Unabhängigkeit des Kosovo kommen – in welcher Form auch immer – so wird sich auch die Rolle der NATO wandeln. Der Schwerpunkt wird dann vermutlich auf die Reform des Sicherheitssektors gelegt werden. In Bukarest wird es daher vor allem darauf ankommen, neben der fortbestehenden Mitverantwortung der NATO für die friedliche Zukunft eines multi-ethnischen Kosovo auch ein starkes Signal der Zusammenarbeit mit Serbien zu senden.

NATO-Erweiterung

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die NATO-Erweiterung ein wirkungsvolles Instrument zur Konsolidierung Europas. Auch auf dem Balkan wird der Wunsch nach Aufnahme in das Bündnis von der NATO genutzt, um den Staaten innenpolitische Reformen abzuringen. Ob es in Bukarest jedoch zur Einladung aller drei gegenwärtig im Membership Action Plan (MAP) vertretenen Aspiranten (Albanien, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien4 und Kroatien) kommt, wird bis zur letzten Minute offen bleiben. Zwar haben sich Politiker aus diversen NATO-Staaten bereits seit langem zu den von ihnen favorisierten Kandidaten geäußert, doch eine kollektive Entscheidung wird sich erst im unmittelbaren Vorfeld des Gipfels ergeben. Gleiches gilt für die Frage, ob man Georgien und der Ukraine in Bukarest die Aufnahme in den MAP anbieten wird. Sollte sich ein Konsens gegen eine solche Entscheidung abzeichnen – sei es aus Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten oder mit Blick auf die mangelnden Reformschritte –, so müsste von Bukarest zumindest ein deutliches Signal der „offenen Tür“ ausgehen.

Beziehungen zu Russland

Mit der Einladung an Präsident Putin nach Bukarest haben die NATO-Staaten deutlich gemacht, dass sie trotz der zahlreichen Probleme in den NATO-Russland-Beziehungen an ihrem Kurs der Partnerschaft festhalten. Ob es gelingt, die kontroversen Themen wie Raketenabwehr, KSE-Vertrag oder Kosovo zugunsten einer positiven Agenda in den Hintergrund zu drängen, wird in erster Linie von Moskau abhängen. Auch die fortbestehende Zusammenarbeit in den Bereichen Terrorismus- und Drogenbekämpfung oder bei der taktischen Raketenabwehr kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die NATO-Russland-Beziehungen gegenwärtig stagnieren. Aufgrund der Veränderungen der russischen Innen- und Außenpolitik, aber auch aufgrund der Skepsis vieler neuer NATO-Mitglieder gegenüber ihrer ehemaligen Bündnisvormacht fehlt es dem NATO-Russland-Verhältnis an neuen Impulsen. Neue Initiativen, wie beispielsweise im Bereich militärischer Interoperabilität, werden nichts bewirken können, so lange Russland es als strategisch vorteilhafter betrachtet, die Kooperation mit der NATO auf ein Minimum zu beschränken. Dieser aus Sicht der NATO unbefriedigende Zustand kann letztlich nur durch einen Politikwechsel in Moskau beendet werden. Bukarest kann diesen Politikwechsel anmahnen, mehr jedoch nicht.

Globale Partnerschaften

Die Zusammenarbeit der NATO mit Partnern aus der ganzen Welt ist eine Realität der Globalisierung, die den Gipfel von Bukarest maßgeblich prägen wird. Australien und Neuseeland stellen schon seit langem Truppen für die NATO-geführte Operation in Afghanistan, Japan und andere Staaten engagieren sich vor Ort oder leisten indirekte Unterstützung. Durch die Teilnahme dieser und weiterer Staaten am Gipfel wird Bukarest zum Symbol für die Art und Weise, in der die NATO heute operiert. Gleichwohl bleibt auch dieses wachsende Netzwerk von Beziehungen weit von den Vorschlägen einer „Allianz der Demokratien“ entfernt. Denn noch immer begegnen viele Verbündete der amerikanischen Konzeption der „global partnerships“ mit Skepsis. Zwar akzeptieren alle die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit anderen Ländern und Institutionen, vor allem mit den ISAF-Truppenstellern. Eine weitergehende Formalisierung dieser Beziehungen sucht man jedoch zu verhindern, weil man befürchtet, sie beförderte lediglich die Hinwendung Amerikas zu neuen Partnern in Asien – auf Kosten der traditionellen europäischen Partner und NATO-Mitglieder. In Bukarest wird es darauf ankommen, die wachsende Bedeutung der „globalen“ Aspekte der Partnerschaftspolitik zu betonen, ohne dabei den (falschen) Eindruck zu vermitteln, die traditionellen europäischen Partnerschafts-Foren, allen voran der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat, hätten ausgedient. Sollte es darüber hinaus gelingen, das seit langem in Vorbereitung befindliche NATO-UN-Dokument über eine engere Zusammenarbeit rechtzeitig zum Gipfel fertig zu stellen, ließe sich auch der Verdacht weitgehend entkräften, die NATO träte mit ihren globalen Partnerschaften in direkte Konkurrenz zu den Vereinten Nationen.

Militärische Transformation

Es gehört zum Wesen einer operativ mehr und mehr beanspruchten Allianz, die militärische Transformation zu einem Dauerthema zu machen. Gleichwohl wird dieses Thema in Bukarest nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dies liegt nicht allein daran, dass sich dieses Thema ob seiner Komplexität als öffentlich schwer vermittelbar erwiesen hat. Es ist vor allem die Tatsache, dass die großen militärischen Transformationsprojekte der NATO derzeit keinen Anlass zu positiver Selbstdarstellung geben. Das Beispiel der NATO Response Force (NRF) zeigt dies deutlich. Die NATO hatte die volle operative Einsatzfähigkeit der NRF im Vorfeld des Riga-Gipfels konstatiert, doch bereits ein Jahr später musste man in Brüssel einräumen, dass die NRF mangels militärischer Beiträge der Mitgliedsstaaten ihre Einsatzfähigkeit wieder verloren hatte. Da eine Änderung dieser Lage nicht zu erwarten ist – viele der für die NRF vorgesehenen Verbände befinden sich im Afghanistan-Einsatz –, das Konzept der NRF von den Verbündeten jedoch als sakrosankt betrachtet wird, blieb nur die Option, Umfang und Anspruch der NRF deutlich zu reduzieren. Ähnlich verfuhr man mit dem bereits seit zwei Jahrzehnten debattierten Alliance Ground Surveillance System (AGS): Nur durch eine dramatische Reduzierung der Systemauslegung gelang es, das bedeutende transatlantische Rüstungsprojekt vor dem Scheitern zu bewahren. Diese Entwicklungen deuten an, weshalb man in Bukarest den Schwerpunkt nicht auf neue ambitionierte Initiativen legen, sondern Maßnahmen zur kurzfristigen Beseitigung operativer Lücken, etwa bei Hubschraubern in Afghanistan, in den Vordergrund rücken wird.

Cyber Defence

Im April 2007 wurden zahlreiche Server in Estland zum Ziel von Hackern. Regierungsinstitutionen, Banken und Firmen des kleinen baltischen NATO-Mitglieds sahen sich drei Wochen lang massiven Angriffen ausgesetzt. Estland, dessen Infrastruktur stark von der Nutzung des Internets abhängt, erlitt durch die über Server aus verschiedenen Ländern gesteuerten Attacken großen finanziellen Schaden. Die Urheber wurden nicht ausgemacht, doch der Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Streit mit Russland über die Verlegung eines Kriegerdenkmals und entsprechende Internetaufrufe russischer Nationalisten, Estland zu bestrafen, sprachen für sich. Damit hat die Frage der Sicherung der eigenen Informations- und Kommunikationssysteme gegen elektronische Angriffe, die in der amerikanischen Sicherheitsdebatte seit langem breiten Raum einnimmt, auch für die NATO eine neue Qualität erhalten. Zwar ist das Thema zu technisch, um die Staats- und Regierungschefs der NATO im Detail damit zu befassen; doch ihre öffentliche Unterstützung für die Erarbeitung einer „Cyber Policy“ im Bündnis ist gleichwohl wünschenswert. Sie würde der NATO das Mandat geben, dieses Thema mit größerem Nachdruck zu verfolgen.

Energiesicherheit

Auch das Thema Energiesicherheit wird auf der Agenda von Bukarest stehen. Zwar ist die NATO seit Jahrzehnten auf vielfältige Weise mit dem Thema Energie-Sicherheit befasst, doch eine kohärente Politik hat sich bislang nicht entwickelt. Vor allem durch die Marktentwicklung der letzten Jahre hat hier bei einigen Staaten ein Umdenken eingesetzt. Dies gilt zumal für einige der jüngeren NATO-Mitglieder, die mit dem Missbrauch von Energie als politischem Druckmittel bereits in unterschiedlicher Weise konfrontiert wurden. Die Partnerschaftsbeziehungen der NATO mit zahlreichen ölproduzierenden bzw. Transitländern tut ein Übriges, um das Thema zu einem legitimen Anliegen des Bündnisses zu machen. Wie ein konkreter NATO-Beitrag aussehen könnte, ist jedoch noch unklar. Einige Staaten billigen der NATO hier nur eine geringe Rolle zu und wehren sich – nicht zuletzt mit Blick auf Russland – gegen eine„Militarisierung“ des Themas. Am anderen Ende steht die Auffassung, Energiesicherheit sei ein Thema, das unter Umständen sogar den Bündnisfall auslösen könnte. Diese unterschiedlichen Sichtweisen werden es nicht zulassen, den bereits beim Riga-Gipfel 2006 erteilten Auftrag vollständig zu erfüllen und in Bukarest einen umfassenden politisch-militärischen NATO-Ansatz zu präsentieren. Die Grundlinien einer künftigen NATO-Rolle sind bereits heute erkennbar, beispielsweise der Schutz von Energieinfrastruktur und von kritischen Seewegen. Die Erfahrungen seit Riga haben jedoch gezeigt, dass ein tragfähiger Konsens über diese Fragen weit mehr Zeit braucht.

Raketenabwehr

Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Raketenabwehr. Durch die Kritik Präsident Putins an den amerikanischen Raketenabwehrplänen hat dieses Thema weit mehr an Bedeutung erhalten als es verdient. Schlimmer noch: Die Debatte um eine Raketenabwehr, die eigentlich eine Debatte über die Verbreitung von Massen-Vernichtungswaffen und Trägermitteln hätte sein sollen, wurde durch Putins Kritik zur Debatte über den „richtigen“ Umgang mit Russland. Aber auch in anderer Hinsicht brachte die amerikanische Konzeption die NATO in Zugzwang. Durch ihr Beharren auf das politisch zwingende, militärisch jedoch unerreichbare Prinzip der „ungeteilten Sicherheit“ für alle Bündnismitglieder, ist die NATO nun gefordert, ihre existierenden Abwehrprogramme gegen Raketen kürzerer Reichweite so zu modifizieren, dass sie die Abdeckungslücken im geplanten US-System schließen können. Es überrascht daher nicht, wenn einige Verbündete – auch mit Blick auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen – auf eine Politik des Abwartens setzen oder das missliebige Thema durch die auffällige Betonung von Rüstungskontrolle zu umschiffen versuchen. Auch hier gilt die Vermutung, dass ein belastbarer Konsens erst lange nach Bukarest erreicht werden wird.

Ein neues Strategisches Konzept

Afghanistan, Energiesicherheit, Raketenabwehr: Der Gipfel von Bukarest wird auf diese und andere Fragen nur unvollständige Antworten geben können. Nicht zuletzt aus diesem Grund richten zahlreiche Beobachter der NATO ihre Hoffnungen auf den Gipfel zum 60-jährigen Bestehen der Allianz im kommenden Jahr. Zum einen könnte sich Frankreichs Neubestimmung seines Verhältnisses zur NATO bis dahin konkretisiert haben. Vor allem soll dieser NATO-Gipfel, der erste mit Beteiligung einer neuen amerikanischen Regierung, ein neues Strategisches Konzept in Auftrag geben. Damit, so eine weitläufige Meinung, biete sich die Chance zu einem umfassenden Neu-Ansatz in den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen, zumal dann, wenn es gelänge, den NATO-Prozess mit der Überarbeitung der Europäischen Sicherheits-Strategie abzustimmen. Die Themen, die in einem solchen Dokument angesprochen werden müssten, sind unschwer aufzulisten: ein breiter angelegter strategischer Dialog im Bündnis; das Verhältnis der NATO zu anderen Institutionen, insbesondere der EU; die Beziehungen zu den Partnerländern innerhalb und außerhalb Europas; die Rolle der NATO bei der Antwort auf neue Probleme wie Energiesicherheit; die Rolle der Nuklearwaffen und vieles mehr.5 Ebenso unbestritten ist die Tatsache, dass ein neues Dokument, das den sicherheitspolitischen Veränderungen seit 9/11 umfassend Rechnung trägt, unter dem Gesichtspunkt der „public diplomacy“ für die NATO von großer Bedeutung sein wird.

Doch die Hoffnung, ein neues Strategisches Konzept werde die NATO mit einer neuen Agenda und damit zugleich mit neuem Selbstvertrauen versehen, trügt. Politik, zumal Sicherheitspolitik, funktioniert anders. Ein neues Strategisches Konzept kann einen bestehenden politischen Konsens dokumentieren, aber keinen neuen Konsens begründen. Die Zukunft der NATO wird nicht durch Dokumente entschieden, sondern allein durch die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, sich globalen Herausforderungen auch dann zu stellen, wenn dafür ein hoher Preis zu entrichten ist.

MICHAEL RÜHLE, geb. 1959, ist Leiter des Redenschreiber-Referats in der Politischen Planungseinheit des NATO-Generalsekretärs. Der Verfasser gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

  • 1Vgl. Michael Rühle: Mehr Hügelkuppe als Gipfel, Internationale Politik, November 2006, S. 108–115.
  • 2Vgl. den Beitrag von Karl Kaiser in dieser Ausgabe.
  • 3Vgl. den von ihm in Auftrag gegebenen Bericht An Alliance for Freedom, FAES, Madrid, 2005. Aznár fordert darin auch die Aufnahme Israels, Australiens und Japans in die NATO, eine Assoziierung Indiens und Kolumbiens sowie eine Rolle der NATO bei der Terrorbekämpfung im Inneren.
  • 4Die Türkei erkennt die Republik Mazedonien unter ihrem verfassungsmäßigen Namen an.
  • 5Vgl. Klaus Wittmann: Ein neues Strategisches Konzept, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.7.2007.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2008, S. 6 - 15

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