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01. Juli 2009

Begrenzt bündnisfähig?

Deutschland und die NATO

60 Jahre nach Gründung des transatlantischen Bündnisses droht der einstige Mustermichel zum Problemkind zu werden. Angesichts neuer Bedrohungen wie Terror oder Proliferation muss der deutsche Versuch, die Allianz auf „weichere“ Themen festzulegen, scheitern. Bündnisfähigkeit setzt heute die Bereitschaft voraus, militärische Risiken zu tragen.

Wenige Wochen, bevor sich die NATO-Staaten auf den dänischen Premier Anders Fogh Rasmussen als neuen Generalsekretär der Atlantischen Allianz einigten, wagte das britische Wochenmagazin Economist ein ungewöhnliches Plädoyer: Ein deutscher Kandidat, so das britische Blatt, könne vielleicht verhindern, dass Berlin zum „zweiten Paris“ werde. Die NATO selbst brauche zwar nicht notwendigerweise einen Deutschen an der Spitze, Deutschland aber schon: Ein deutscher Generalsekretär könne vielleicht die Entfremdung aufhalten, die zwischen Deutschland und der Atlantischen Allianz eingesetzt habe. Der Economist war nicht der erste, der den Vergleich mit Frankreich bemühte. Bereits ein Jahr zuvor hatte Karl-Heinz Kamp in der FAZ vor einem sinkenden Einfluss Deutschlands im Bündnis gewarnt und die Befürchtung geäußert, Deutschland sei auf dem Wege, zum „zweiten Frankreich“ in der NATO zu werden.

Träfe dieser Befund zu, so gäbe er Anlass zur Sorge. Denn anders als Frankreich, über dessen Bereitschaft und Fähigkeit zu militärischen Interventionen an der Seite der USA trotz mancher Eigenwilligkeiten nie ernsthafte Zweifel bestanden, kann es sich Deutschland nicht leisten, als nörgelnder Verweigerer wahrgenommen zu werden. Dies umso weniger, als Paris seine ambivalente Haltung zum atlantischen Bündnis inzwischen revidieren will. Ist Deutschland also tatsächlich dabei, seine Bündnisfähigkeit fahrlässig aufs Spiel zu setzen? Oder hat sich die NATO in den 60 Jahren ihres Bestehens so sehr verändert, dass sie nur noch bedingt in der Lage ist, deutsche sicherheitspolitische Interessen abzubilden?

Schaut man sich den Entwicklungsprozess der NATO über die vergangenen sechs Jahrzehnte an, dann stehen wir heute in der dritten Phase dieses Prozesses. Die erste Phase, der Ost-West-Konflikt, war mit rund 40 Jahren die bei weitem längste und dominiert noch heute in weiten Teilen der Öffentlichkeit das Bild der Allianz. In dieser Phase war die NATO in erster Linie ein Instrument westlicher Selbstbehauptung gegen eine politisch-militärische Herausforderung durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten.

Für die Bundesrepublik Deutschland war der sich in der NATO manifestierende „transatlantic bargain“ ein gutes Geschäft. Nicht nur erhielt die Bundesrepublik durch den Beitritt zum Bündnis 1955 ihre Souveränität zurück; sie konnte als verlässlicher Bündnispartner zugleich das Misstrauen ihrer westlichen Nachbarn abbauen und gewann Einfluss auf die transatlantischen Entscheidungsprozesse.

Das bestimmende Szenario der Verteidigung gegen einen östlichen Großangriff war die Geschäftsgrundlage für eine defensiv orientierte, ausschließlich auf Territorialverteidigung ausgerichtete Bundeswehr, deren Konzeption als Wehrpflichtarmee auch dem Ideal einer fest in der Gesellschaft verankerten Armee entsprach. Mit der Wiedervereinigung im NATO-Rahmen erwies sich einmal mehr die symbiotische Beziehung zwischen der NATO, Deutschland und der politischen Ordnung Europas: Deutschland hatte zwar viel in seine NATO-Mitgliedschaft investiert, doch gehörte es am Ende des Kalten Krieges auch zu den Verbündeten, die am stärksten vom Bündnis profitierten.

Kulturschock Kampfeinsatz

Diese positive Bilanz mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Deutschland auch in der zweiten Phase, die man vom Fall der Berliner Mauer 1989 bis zu den Terrorangriffen auf die USA im September 2001 definieren kann, aktiv an der Weiterentwicklung der NATO beteiligt war. Die zunehmende gesamteuropäische Verantwortung des Bündnisses, die sich im Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen mit den ehemaligen Gegnern in Mittel- und Osteuropa und schließlich im Erweiterungsprozess der NATO niederschlug, entsprach dem deutschen Interesse nach Einbindung seiner östlichen Nachbarn in gemeinsame Sicherheitsstrukturen. Vor allem der Aufbau institutionalisierter Beziehungen zwischen der NATO und Russland war ein deutsches Anliegen, an dessen Zustandekommen Berlin großen Anteil hatte. Als weitaus schwieriger erwies sich hingegen die Anpassung an die neuen militärischen Aufgaben der NATO. Die Beteiligung an den ersten Out-of-area- Einsätzen der NATO auf dem westlichen Balkan bereitete Deutschland politisch wie militärisch zunächst große Mühe – angesichts der besonderen historischen Belastungen nicht überraschend. Immerhin, die geografische Nähe der Einsätze und das geringe Risiko eigener Verluste gestatteten es Deutschland, einen substanziellen militärischen Beitrag zur „neuen NATO“ zu leisten.

Doch schon die Einsätze auf dem Balkan wiesen in eine Richtung, die für Deutschland bald Probleme aufwerfen sollte. Einsätze jenseits der traditionellen Landesverteidigung, zumal Kampfeinsätze, verlangten nicht nur nach einer anderen Armee, sie verlangten vor allem auch nach einem anderen sicherheitspolitischen Bewusstsein. Anderenfalls drohte das, was man bislang erfolgreich hatte verhindern können: eine Entfremdung von den anderen großen Bündnispartnern, deren „strategische Kulturen“ traditionell von einer höheren militärischen Risikobereitschaft geprägt sind.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben eine neue Epoche eingeläutet, in der genau diese Befürchtungen Realität werden könnten. Konzeptionell markierte der Anschlag auf die Bündnisvormacht USA den Beginn der dritten Phase der NATO – der Phase nämlich, in der das traditionelle, auch und gerade von Deutschland kultivierte Selbstverständnis der Allianz als ein rein „eurozentrisches“ Bündnis obsolet geworden ist. Die Ausrufung des kollektiven Beistandsfalls der NATO nur einen Tag nach den Terroranschlägen und die Übernahme des Oberbefehls über die Internationale Schutztruppe (ISAF) in Afghanistan reflektieren diese Erkenntnis. Die NATO ist zum Handlungsrahmen zur Verfolgung gemeinsamer Ziele ohne geografische Beschränkungen geworden.

Der Afghanistan-Einsatz ist die deutlichste Manifestation der Anpassung der NATO an ein neues Sicherheitsumfeld, aber bei weitem nicht die einzige. So umfasst das Spektrum heute eine Antiterroroperation im Mittelmeer, die Piratenbekämpfung am Horn von Afrika, die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte, humanitäre Hilfsflüge für Erdbebenopfer in Pakistan und den Lufttransport von Soldaten der Afrikanischen Union. Mehr noch. In der NATO hat inzwischen auch eine Debatte über neue Bedrohungen eingesetzt, darunter die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln, Angriffe gegen die elektronische Infrastruktur eines Landes („cyber attacks“), die Unterbrechung der Energieversorgung und die sicherheitspolitischen Konsequenzen des Klimawandels.

All diesen Entwicklungen ist eines gemeinsam: Das Bündnis definiert sich nicht mehr vornehmlich als passives Instrument zur Verhinderung zwischenstaatlicher Konflikte, sondern durch sein aktives Handeln. Zugleich bekräftigt diese Agenda, dass Bündnisinteressen und Bündnisterritorium nicht mehr deckungsgleich sind. Damit stellt sie jedoch auch völlig neue Anforderungen an die Bündnispartner – und macht Strukturprobleme sichtbar, die bislang unsichtbar geblieben waren.

Permanentes Plebiszit

Deutschland, das als einer der ersten Bündnisstaaten eine NATO-Rolle in Afghanistan ins Spiel gebracht hatte, trägt diese Entwicklungen mit und ist sogar drittgrößter Truppensteller der ISAF. Doch nicht nur in Afghanistan, auch in anderen wichtigen Bündnisfragen tut sich Deutschland erkennbar schwer mit einer operativ ausgerichteten NATO. Zahlreiche Strukturprobleme machen eine unbefangene Debatte über aktuelle Sicherheitsfragen schwierig. Die in der Abschreckungslogik des Kalten Krieges gewachsene Auffassung, wonach der Einsatz militärischer Macht stets ein Versagen der Politik bedeute, hat im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs tiefe Spuren hinterlassen.

Zu den Strukturproblemen der deutschen Sicherheitspolitik gehört daher zuerst und vor allem ein gesellschaftspolitischer Erwartungshorizont, der „harte“ Sicherheitspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges weitgehend verdrängt hat. In einer Gesellschaft, für die 9/11 letztlich ein bloßes Fernsehereignis geblieben ist, erweist es sich als äußerst schwierig, eine Bedrohungsdebatte zu führen und durchzuhalten – nicht zuletzt deshalb, weil die Bedrohungen für Deutschland bislang weitgehend abstrakt geblieben sind. Doch damit nicht genug. Der Parlamentsvorbehalt setzt die deutsche Sicherheitspolitik einem permanenten Plebiszit aus, durch das jede wichtige Entscheidung zum innenpolitischen Drahtseilakt gerät und oft auch Entscheidungen im Bündnis verzögert. Der sarkastische Kommentar eines NATO-Mitarbeiters, der Deutsche Bundestag entscheide inzwischen über die gesamte Politik der Allianz, hat daher einen durchaus beunruhigenden Kern.

Diese Ambivalenz gegenüber der militärischen Dimension von Sicherheit zeigt sich auch bei den Streitkräften. Anders als andere Armeen, die immer auch Interventionsarmeen waren, reflektiert die Bundeswehr das schwierige Verhältnis der deutschen Gesellschaft gegenüber militärischer Macht. Zwar spricht heute niemand mehr von der „Zivilmacht“ Deutschland, aber den militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur internationalen Krisenbewältigung sieht man nach wie vor nahezu ausschließlich in der Konfliktnachsorge und der Friedenserhaltung – als Übung in internationaler Solidarität ohne direkten Bezug zur eigenen nationalen Sicherheit.

Diese Strukturprobleme der deutschen Sicherheitspolitik sind nicht auf den Afghanistan-Einsatz beschränkt, sondern wirken sich auch auf andere Bereiche der NATO-Agenda aus. Dies gilt vor allem für die Entscheidung zum Einsatz von Streitkräften, in welcher Form auch immer: gleichgültig, ob es sich um die Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Afrikas, die Entsendung von AWACS-Aufklärungsflugzeugen nach Afghanistan, eine stärkere Rolle der ISAF bei der Drogenbekämpfung oder den Einsatz der NATO Response Force in einer plötzlich auftretenden Krise handelt.

uch bei der für die NATO besonders wichtigen Frage der militärischen Transformation zeigt sich, wie groß die Lücke ist, die zwischen politischem Anspruch und militärischer Wirklichkeit klafft. Als einer der größten NATO-Staaten verfügt Deutschland zwar über umfangreiche Streitkräfte; doch die seit der deutschen Wiedervereinigung von allen politischen Kräften tolerierte Unterfinanzierung der Bundeswehr hat inzwischen zu einer massiven Ausrüstungslücke geführt, die sich in den aktuellen Operationen sichtbar auswirkt. Nur ein kleiner Teil der deutschen Streitkräfte ist tatsächlich für anspruchsvolle militärische Aufgaben einsetzbar – eine Tatsache, die zumindest indirekt ein Rollenverständnis fördert, das sich nahezu ausschließlich auf die Konfliktnachsorge konzentriert.

Bündnispolitischer Drahtseilakt

Zu den militärischen Zwängen gesellen sich politische. So hat der unter den Bündnispartnern anlässlich des NATO-Gipfels von Bukarest im April 2008 öffentlich ausgetragene Disput über die Haltung zu den Beitrittswünschen Georgiens und der Ukraine gezeigt, dass die Mittlerrolle, die Deutschland traditionell in der Frage der NATO-Erweiterung und des NATO-Russland-Verhältnisses spielte, nicht mehr durchzuhalten ist. Spätestens, als der deutsche Außenminister öffentlich seine Skepsis hinsichtlich einer Einladung dieser beiden Staaten in den Membership Action Plan (MAP) unter anderem mit der Notwendigkeit begründete, auf Russland Rücksicht zu nehmen, war klar, dass Deutschland – notgedrungen – seine Prioritäten nun in einer Eindeutigkeit setzen musste, die der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik eher wesensfremd ist.

Bliebe die russische Überreaktion im Konflikt mit Georgien kein Einzelfall, so würde Deutschland in eine schwierige Lage geraten: bei der Verfolgung seiner nationalen Interessen müsste Deutschland zugleich amerikanische wie auch mittel- und osteuropäische Befindlichkeiten respektieren – ein bündnispolitischer Drahtseilakt, der im Irak-Konflikt gründlich misslang.

Das Solidaritätsdilemma dürfte sich auch bei anderen Themen der NATO-Agenda wie der Energiesicherheit zeigen. Nicht zuletzt mit Blick auf seine Energieabhängigkeit von Russland wird Deutschland einen Kurs steuern müssen, der eine unbotmäßige Militarisierung des Themas verhindert. Ähnliches gilt für den Zankapfel Raketenabwehr. Hier hat die massive russische Kritik an den amerikanischen Plänen zur Stationierung eines Raketenabwehrsystems in der Tschechischen Republik und in Polen nicht nur vom eigentlichen Problem – der weltweiten Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen – abgelenkt; sie hat auch deutsche Reflexe befördert, das ungeliebte Thema im längst überholten Ost-West-Kontext zu verorten und ausschließlich rüstungskontrollpolitisch zu „lösen“. Bei der Frage nach der Zukunft der nuklearen Teilhabe im Bündnis verhält es sich ebenso. Auch hier ist die Versuchung groß, jeden bündnis- und ordnungspolitischen Bezug durch die Forderung nach Abrüstung schon im Ansatz zu ersticken, um schwierigen Entscheidungen auszuweichen.

Zurück in die Zukunft?

Die Entscheidung der NATO, ein neues Strategisches Konzept zu erarbeiten, bietet den Verbündeten die Gelegenheit zu einer umfassenden Bestandsaufnahme und – soweit nötig – zu einer Kurskorrektur des Bündnisses. Zwar steht der Prozess erst am Anfang, doch bereits jetzt ist offenkundig, dass die Verbündeten das Projekt nutzen wollen, um ihren spezifischen Anliegen Nachdruck zu verleihen. So dürften die USA die Anpassung der NATO an neue Bedrohungen, Großbritannien die Bedeutung der militärischen Transformation und die östlichen Verbündeten die kollektive Verteidigung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Deutschland hingegen dürfte – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Probleme in Afghanistan – den Versuch unternehmen, auf ein Konzept hinzuwirken, das sich bescheidener gibt. Die Hervorhebung von Konfliktnachsorge gegenüber Kampfeinsätzen, von „vernetzter Sicherheit“ und von Abrüstung dürfte zu den Eckpfeilern dieses Ansatzes gehören, aber auch der Widerstand gegen einen allzu anspruchsvollen militärischen Transformationsbegriff und gegen zu stark institutionalisierte „globale Partnerschaften“, etwa mit Australien oder Japan.

Bei dem Versuch, die NATO wieder auf „weichere“ Themen festzulegen, dürfte Deutschland nicht alleine stehen. Auch für andere Bündnispartner mit ähnlichen strukturellen Problemen verspräche eine weniger ambitionierte Bündnisagenda weniger innenpolitische Belastungen. Doch die Hoffnung, die Entwicklung der NATO der letzten Jahre gleichsam rückgängig machen zu können, wird sich nicht erfüllen. Weder die Schwierigkeiten in Afghanistan noch die von manchen geforderte Rückbesinnung auf die klassische kollektive Bündnisverteidigung werden zu einer neuen Selbstbeschränkung der NATO führen. Zu vermuten ist eher, dass ein neues Konzept noch größere Freiräume für kollektives Handeln schafft – auch wenn die Allianz in vielen Fällen nur unterstützende Funktion leisten wird. Diese Verbreiterung des Aufgabenspektrums steht im Einklang mit der Logik der Globalisierung. Jedes andere Ergebnis würde eine Abkopplung der NATO von der amerikanischen Sicherheitsagenda bedeuten – ein Ergebnis, dass letztendlich kein Verbündeter sehen möchte.

Gestalten statt verwalten

Für Deutschland wird dieser Prozess also nicht einfach. Geht man davon aus, dass Themen wie Kampfeinsätze, Energiesicherheit oder globale Partnerschaften die wirklichen Zukunftsthemen für die NATO sind und bleiben werden, dann wird deutlich, dass Deutschland mit ministerialbürokratischer Folklore – von der Verklärung des Harmel-Berichts von 1967 bis zur Überschätzung der KSZE – nicht reüssieren kann. Und selbst dort, wo der konzeptionelle Beitrag Deutschlands unbestritten ist – etwa bei der „vernetzten Sicherheit“ – bleibt der Verdacht, die Betonung dieses Ansatzes sei letztlich bloßes Alibi, um die mangelnde Bereitschaft zu Kampfeinsätzen zu kaschieren. Die Tatsache, dass Deutschland einer der größten Truppensteller der NATO ist, ändert an alldem nichts.

Der Verweis auf die Strukturprobleme deutscher Sicherheitspolitik soll nicht den Eindruck erwecken, Deutschland sei nur noch begrenzt bündnisfähig. Der politische und militärische Kurs der NATO wird im Konsens entschieden, weshalb es eine gleichsam von Deutschland unabhängige NATO per definitionem nicht gibt. Doch Bündnisfähigkeit bemisst sich heute nach anderen Kriterien als im Kalten Krieg. Angesichts der militärisch anspruchsvollen und politisch kontroversen Antworten auf neue Bedrohungen wie Terrorismus, Proliferation oder „gescheiterte Staaten“ ist der militärische Beitrag, den ein Staat auf dem Papier zu leisten vermag, nicht mehr der alleinige Maßstab für seinen Einfluss. Weitaus bedeutsamer dürfte am Ende die politische Bereitschaft sein, militärische Risiken zu tragen. In der Irak-Debatte hat sich bereits eine neue Bündnishierarchie abgezeichnet, in der nicht in erster Linie nach militärischen Fähigkeiten, sondern unerbittlich nach politischer Solidarität unterschieden wird. Durch den Afghanistan-Einsatz ist diese neue Realität auch zur NATO-Realität geworden.

Dass eine solche neue Bündnishierarchie den gegenwärtigen deutschen sicherheitspolitischen Befindlichkeiten zuwider läuft, ist offenkundig. Doch sie ist die unmittelbare Konsequenz aus einem globalisierten Sicherheitsumfeld – und daher irreversibel. Soll die NATO auch künftig den kongenialen Rahmen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik abgeben, dann muss Deutschland einen Gestaltungswillen aufbringen, der weit über die nostalgische Verklärung des alten, passiven Verteidigungsbündnisses von einst hinausreicht.

Dr. MICHAEL RÜHLE ist Stellvertretender Leiter der Politischen Planungseinheit im Kabinett des NATO Generalsekretärs. Er gibt seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2009, S. 76 - 82.

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