Alle in einem Boot
Deutschland und die Visegrád-Gruppe trennt politisch einiges – wirtschaftlich sind sie eng verflochten. Grund genug, den ökonomischen Wandel in der Region aufmerksam zu verfolgen.
Als sich die Vertreter Polens, Tschechiens, Ungarns und der Slowakei Anfang der 1990er Jahre in der ungarischen Stadt Visegrád, rund 40 Kilometer nördlich von Budapest, zusammenfanden, hatten sie zwei Ziele: Gemeinsam wollte man auf einen Beitritt zur EU und zur NATO hinarbeiten. Als namensgebender Ort wurde Visegrád aus symbolischen Gründen gewählt: Im 14. Jahrhundert hatten sich dort drei mitteleuropäische Könige getroffen, um über neue Handelswege zu beraten, die nach Westeuropa führen, aber Wien umgehen sollten.
Ganz ähnlich lautete der wirtschaftliche Kurs, den die V4 nach dem Ende des Kalten Krieges verfolgten: wirtschaftliche Integration mit Deutschland und dem europäischen industriellen Kern (dieses Mal ohne Umgehung Wiens). Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: Die Visegrád-Staaten erhielten Zugang zum europäischen Markt, und deutsche Firmen konnten vergleichsweise gut ausgebildete und billige Arbeitskräfte aus dem Osten anwerben.
Politisch bemerkbar machten sich die Visegrád-Staaten in der EU ab 2014, als sie sich dazu durchrangen, ihre Politik in Brüssel miteinander abzustimmen, um ihre politische Schlagkraft zu erhöhen und EU-Entscheidungen mitzugestalten. Ein erstes Resultat dieser pragmatischen Strategie war die Ernennung des polnischen Premierministers Donald Tusk zum Präsidenten des Europäischen Rates.
Doch dann kamen die Flüchtlingskrise und der Erfolg der populistischen Rechten in Warschau. Seitdem ist die Visegrád-Gruppe vor allem wegen fremdenfeindlicher Äußerungen einzelner Regierungschefs und mangelnder Solidaritätsbekundungen bekannt. Die Tatsache, dass die V4 ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland derweil stark ausgebaut haben, wurde von diesen Negativschlagzeilen überschattet.
Annäherung und Integration
Nach 1989 flossen immer mehr ausländische Direktinvestitionen in die Visegrád-Staaten und sorgten für einen beständigen Know-how- und Technologietransfer sowie steigende Gehälter. Nach der anfänglichen Schrumpfung der Volkswirtschaften im europäischen Osten in den frühen 1990er Jahren begannen sich die Visegrád-Staaten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts allmählich zu erholen.
Das auf Annäherung und Integration zielende „Konvergenzmodell“ der V4 beinhaltete immer engere wirtschaftliche Beziehungen mit Deutschland. Im Jahre 2017, dem letzten Jahr, für das entsprechende Datensätze vorliegen, war Deutschland der größte ausländische Investor in Ungarn, der zweitgrößte in Polen und Tschechien und der viertgrößte in der Slowakei. Für alle vier Länder ist Deutschland mit Anteilen zwischen 22 und 33 Prozent an den Gesamtausfuhren der mit Abstand wichtigste Exportpartner.
Die starke wirtschaftliche Verflechtung der Region mit Deutschland spiegelt sich auch in der Industriestruktur ihrer Volkswirtschaften wider: Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung liegt zwischen 19 Prozent in Polen und 26 Prozent in Tschechien. Flossen die Geldströme anfangs von West nach Ost, so gestaltet sich das Verhältnis zwischen Deutschland und den Visegrád-Staaten mittlerweile wesentlich ausgeglichener. So sind die Märkte der V4 zum mit Abstand wichtigsten Exportmarkt Deutschlands geworden. Im Jahr 2018 erwarb man hier deutsche Waren im Wert von 147 Milliarden Euro. Für fast 40 Prozent dieses Einkaufsvolumens ist Polen verantwortlich, ein weiteres Drittel entfällt auf Tschechien. Zum Vergleich: China kaufte „nur“ für 106 Milliarden Euro ein.
Wirtschaftsmodell in der Kritik
Die V4-Volkswirtschaften sind ungewöhnlich stark in regionale Wertschöpfungsketten integriert. In allen V4-Staaten macht der Handel mit anderen EU-Mitgliedern fast zwei Drittel des gesamten Außenhandels aus – das sind die Spitzenwerte in der EU. Und obwohl die Endprodukte meist vom Rest der Welt nachgefragt werden, werden Güter aus der Region häufig zunächst zur Weiterverarbeitung nach Deutschland geliefert, bevor sie ins außereuropäische Ausland exportiert werden.
Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch eine Reihe von Unterschieden zwischen den V4-Volkswirtschaften. So ist Polen dank seines größeren Binnenmarkts weniger exportabhängig als seine Nachbarn. Zudem verfolgen die Visegrád-Staaten nicht immer eine gemeinsame Strategie. Das betrifft geopolitische Themen wie die Beziehungen zu Russland oder China, aber auch Wirtschafts- und EU-Fragen. So ist nur die Slowakei Teil der Eurozone, während die drei anderen Staaten nicht planen, sich in naher Zukunft an der gemeinsamen Währung zu beteiligen.
Obwohl die V4 in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas als Vorbild gelten, stand ihr durch ausländische Direktinvestitionen angetriebenes Konvergenzmodell von Anfang an in der Kritik. Dieses zielt vor allem darauf ab, dass ein Großteil der Unternehmensgewinne wieder aus der Region abfließt. Mit der Folge, dass die Lohnentwicklung in den vier Staaten zunächst nicht mit dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts Schritt halten konnte.
Für viele Menschen in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei zahlt sich der wirtschaftliche Erfolg kaum aus. Kritiker sind zudem der Meinung, dass die drei kleineren V4-Ökonomien zu stark von ihren Exporten abhängig sind und einen stärkeren Fokus auf den Binnenkonsum legen sollten. Und auch der Braindrain aus den V4-Ländern nach Westeuropa wird immer wieder kritisiert.
Dunkle Wolken
Während die politischen Spannungen und die gesellschaftliche Polarisierung in den Visegrád-Staaten anhalten, ist die Region aus ökonomischer Sicht insgesamt einer der wenigen Lichtblicke in der Weltwirtschaft. Das schleppende Wirtschaftswachstum in Schlüsselmärkten wie China und Deutschland haben die V4-Wirtschaften bisher gut verkraftet. Drei Jahrzehnte der investitionsgetriebenen wirtschaftlichen und politischen Integration mit dem Westen haben sich bezahlt gemacht. Die Visegrád-Staaten verfügen heute über gut ausgebildete Arbeitskräfte und eine relativ zuverlässige öffentliche Infrastruktur.
Dennoch ziehen am Horizont bereits dunkle Wolken auf. Eine ganze Reihe von Problemen lassen es höchst unwahrscheinlich erscheinen, dass die V4-Länder ihre beeindruckenden Wachstumsquoten in Zukunft halten können. Ein Grund dafür ist paradoxerweise das starke Wirtschaftswachstum. Denn in einer Zeit ungünstiger demografischer Trends wirkt es sich negativ auf den Arbeitsmarkt aus. Die Leerstandsquote, die als Indikator für Arbeitskräftemangel gilt, liegt laut Eurostat in vielen wichtigen Sektoren auf einem historisch hohen Niveau. Und angesichts von Überalterung und anhaltender Abwanderung junger Menschen dürfte sich diese Situation noch einmal verschärfen.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den Visegrád-Staaten in den kommenden Jahrzehnten stark zurückgehen wird. Das Wachstumspotenzial dürfte dadurch ernsthaft eingeschränkt werden, ebenso die Wettbewerbsfähigkeit. Zusammen mit den steigenden Löhnen könnte das dazu führen, dass ausländische Investoren ihre Anlagen in den Süden oder Osten verlagern, wo Arbeitskräfte billig und reichlich vorhanden sind.
Hinzu kommt, dass die V4-Länder weiterhin stark vom produzierenden Gewerbe abhängig sind. Während Wertschöpfungsketten, die Firmenzentralen, Vertriebsabteilungen, Marketing, Forschung und Entwicklung sowie Logistik umfassen, hohe Werte generieren, werden in den rein produktionsgetriebenen Ökonomien der Visegrád-Staaten nur äußerst geringe Werte geschaffen. Geht es um die Investitionen in Forschung und Innovation, dann stehen die V4-Länder schlecht da. Um den Anschluss an westeuropäische Wirtschaften zu halten, reicht das eindimensionale Konvergenzmodell womöglich nicht aus.
Zudem gefährden die Entwicklungen in der Automobilindustrie, von der die V4 stark abhängig sind, das Wachstum in der Region. Die Stagnation der Nachfrage nach Fahrzeugen aus Schlüsselmärkten wie China, die Entwicklung hin zu klimafreundlicheren Autos und neue Umweltstandards stellen nicht nur die Visegrád-Staaten, sondern auch die deutsche Wirtschaft vor bisher ungeahnte Herausforderungen.
Darüber hinaus sind auch die politischen Prognosen für die V4 eher mau. Polen und Ungarn werden angesichts ihrer Abkehr von europäischen Grundwerten und bedenklicher rechtsstaatlicher Entwicklungen immer wieder von der EU-Kommission gemaßregelt. Gegen den tschechischen Premierminister wird wegen eines mutmaßlichen Interessenkonflikts ermittelt, und in der Slowakei bröckelt das Vertrauen in die Justiz und die Sicherheitsbehörden. Das schwächt die Verhandlungsposition der V4-Länder im Hinblick auf den nächsten EU-Haushalt. Und das, obwohl dieser einen „Green Deal“-Schwerpunkt haben wird und die Visegrád-Staaten angesichts ihres Rückstands in Sachen Nachhaltigkeit besonders stark betreffen könnte.
Die Visionen von Visegrád
Doch zu Fatalismus ist kein Anlass. Die wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen die V4-Länder stehen, könnten mit der Zeit auch zu positiven strukturellen Veränderungen führen. Der Arbeitskräftemangel und die Lohnzuwächse könnten erste Schritte hin zu einer Automatisierung und Modernisierung der Wirtschaft sein. Dies könnte die Abwanderung stoppen, eine weitere Annäherung an den westeuropäischen Lebensstandard ermöglichen und die Grundlage für ein Wirtschaftsmodell bilden, das weniger exportabhängig und stärker konsumgetrieben ist.
Allerdings bleiben die Gesellschaften der Visegrád-Staaten in starkem Maße polarisiert. Der Graben zwischen weltoffenen und wohlhabenden Großstädten und ärmeren ländlichen Gebieten ist groß. Immerhin: Während die Regierungen der V4 wahlweise zum Rechts- oder Linkspopulismus neigen, wurden in den Hauptstädten erst kürzlich junge, progressive Bürgermeister gewählt. Im November 2019 gründeten sie den „Pakt der freien Hauptstädte“. Die Bürgermeister wollen ihre Städte moderner, unternehmensfreundlicher und sozialverantwortlicher gestalten und sich gemeinsam um EU-Fördermittel bewerben. Auch inoffiziell hat der Pakt bereits einen Namen: „kleines Visegrád“.
Die Zukunft der Region, sie wird wahrscheinlich eine Mischung aus kleinen und großen Visegrád-Visionen sein.
Richard Grieveson ist Ökonom und stellvertretender Leiter des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche.
Milan Nič leitet das Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.
Übersetzung aus dem Englischen: Kai Schnier
Internationale Politik Wirtschaft 1, März - Juni 2020, S. 6-10