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27. Apr. 2018

Europas Quälgeist

Wie die EU und Deutschland mit Orbáns Wiederwahl umgehen sollten

Nach seinem Wahlsieg hofft Viktor Orbán, eine euroskeptische Allianz in der EU zu schmieden, um noch mehr Einfluss auf den Kurs Europas zu gewinnen und seine Stellung daheim zu sichern. Die EU sollte alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen und den politischen Druck erhöhen. Sonst wird Ungarn zu einem antidemokratischen Vorbild.

Viktor Orbán ist ein Mann mit großem Charisma. Bei den Wahlen am 8. April gewann er erneut die Unterstützung großer Teile der ungarischen Gesellschaft. Entgegen den Erwartungen nutzte die hohe Wahlbeteiligung von fast 70 Prozent nicht der Opposition, sondern vor allem Orbáns Fidesz-Partei. Die Strategie, mit fremdenfeindlichen Parolen und einer Angstkampagne zum Thema Einwanderung zu polarisieren, hatte Erfolg. Damit lag er im Trend rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien überall in Europa, der sich auch in Wahl­erfolgen im März in Italien und 2017 in Österreich und ­Deutschland ­niederschlug.

Im Vergleich zu den rechtsextremen Parteien jener Länder ging Orbán aber noch einen Schritt weiter. Mithilfe der staatlichen Medien verbreitete Fidesz eine Verschwörungstheorie: Die ungarische Opposition und Zivilgesellschaft steckten mit den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und dem amerikanisch-ungarischen Investmentbanker und Philanthropen George Soros unter einer Decke. Gemeinsam hätten sie sich verschworen, um Ungarn in ein Einwanderungsland zu verwandeln. Sicherheit und nationale Identität seien in Gefahr, so suggerierte die Partei immer wieder,

Die von der Regierung kontrollierten Medien unterstützten diese Botschaft durch die massive Verbreitung solcher „Fake News“. Auf ähnliche Weise – wenn auch im kleineren Maßstab – war es Miloš Zeman, dem ehemaligen Vorsitzenden der Sozialdemokraten in der Tschechischen Republik, gelungen, mit einer monothematischen Kampagne und dem Einsatz von Fake News im Januar zum tschechischen Präsidenten gewählt zu werden. Die beiden Kampagnen verliehen den gegen die EU und Einwanderung gerichteten Positionen in den Visegrád-Staaten und anderswo in Europa zusätzliche Legitimität. Zweifellos werden sie in Zukunft weitere Nachahmer finden.

Orbáns Erfolg geht zum Teil auf die Zerstrittenheit der ­Opposition zurück. Sie hat ihre Wurzeln im historischen Versagen der Sozialisten und Liberalen, als sie vor 2010 in der Regierungsverantwortung waren. Bei der Wahl am 8. April schafften es die Oppositionsparteien nicht, in den Wahlkreisen außerhalb von Budapest, in denen nur ein einziges Mandat zu vergeben war, taktisches Stimmverhalten zu begünstigen. Wären sie dort taktische Bündnisse eingegangen, hätten die Oppositionsstimmen gegen die regierende Fidesz wirksamer gebündelt werden können.

Zwar wurde Jobbik zur zweitstärksten Partei, blieb aber besonders stark hinter den Erwartungen zurück. Die Partei gewann nur einen der Einzelwahlkreise, während Fidesz fast alle übrigen Sitze errang. Nach ihrer Niederlage traten der Vorsitzende von Jobbik und die mehrerer kleinerer liberaler Parteien zurück. Ihre Nachfolger sollten versuchen, diese Lektion für die ungarischen Kommunalwahlen 2019 zu beherzigen.

Doch die Niederlage der Opposition erklärt sich nicht allein durch ihr Unvermögen, sich gegen Fidesz zu verbünden. Wie die Wahlbeobachter der OSZE in ihrem vorläufigen Bericht festhielten, war die Wahl in Ungarn geprägt von „einer durchgängigen Überlagerung der Ressourcen des Staates und der Regierungspartei, die die Möglichkeiten der Kandidaten untergrub, unter gleichen Voraussetzungen anzutreten“.

Tatsächlich war die Wahl von Grund auf unfair. Das zeigte sich beispielsweise daran, dass die Oppositionsparteien mit Geldbußen belegt wurden; dass die Regierung Korruptionsvorwürfe nicht aufklärte; dass sie sich weigerte, an politischen Debatten teilzunehmen; und dass sie private Detekteien beauftragte, um an Informationen über Vertreter der Zivilgesellschaft zu kommen und diese abzuhören.

Anti-EU, Anti-Demokratie

In seiner neuen Amtszeit wird Orbán seine Macht voraussichtlich noch weiter festigen können – die hohe Wahlbeteiligung und das gute Abschneiden von Fidesz stärken ihn. Schon während der Wahlkampagne versprach er, mit seinen Gegnern „Rechnungen zu begleichen: moralisch, politisch und juristisch“. Dabei geht es besonders um zivilgesellschaftliche Gruppen und kritische Medien, die eine Vielzahl von Korruptionsskandalen bei Spitzenvertretern seines Regimes und sogar Mitgliedern seiner Familie aufdeckten.

Einer der ersten Entwürfe, mit denen sich das neue Parlament im Mai befassen soll, ist ein Gesetzespaket gegen Nichtregierungsorganisationen, die im Bereich der Migration tätig sind, wie Regierungssprecher Zoltán Kovács ankündigte. Er nannte es das „Stoppt-Soros-Paket“ – ein Echo der Verschwörungskampagne von Fidesz.

Es sind weitere harte Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien zu erwarten. Ebenso wird es zu weiteren Einschnitten bei der Justiz und den kommunalen Behörden kommen, die derzeit noch teilweise unabhängig sind. Insgesamt werden diese Schritte nicht nur die autokratischen Züge von Orbáns Regierung stärken, sondern auch dazu führen, dass Ungarn de facto die demokratischen Normen der Europäischen Union aufgibt.

Die starke Stellung, die Orbán nun im eigenen Land genießt, verschafft ihm auch zusätzliche Verhandlungsmacht in Brüssel. Einige der Entscheidungen, die die EU in den kommenden Monaten treffen will, müssen einstimmig von den Mitgliedstaaten verabschiedet werden. Dazu gehört auch die Reform der europäischen Asylgesetzgebung, die bis Juni abgeschlossen sein soll. Orbán dürfte versuchen, dieses für Deutschland besonders wichtige Thema zu nutzen, um Zugeständnisse zu erreichen. Tatsächlich umwirbt der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament, Manfred Weber – der zugleich stellvertretender CSU-Vorsitzender ist – bereits den ungarischen Ministerpräsidenten, um einen Kompromiss zu finden.

Orbáns Einfluss als „erfolgreicher Anführer“ Mitteleuropas wird noch weiter wachsen. Die Partner Ungarns in der Europäischen Union werden sich darauf einlassen müssen, den ungarischen Interessen stärker entgegenzukommen. Trotzdem wäre es ein furchtbarer Fehler, Orbáns innenpolitisches Ziel aus den Augen zu verlieren: seine Macht auszubauen, indem er Ungarns demokratische Fundamente weiter deformiert.

Die erste Verteidigungslinie bilden die EU-Institutionen, auch wenn sie in Zeitlupe arbeiten. Das Europäische Parlament könnte die so genannte „Nuklear-Option“ auslösen und Artikel 7 des Vertrags der Europäischen Union aktivieren. Bei einer Verletzung der gemeinsamen Grundwerte sieht er Sanktionen bis hin zum zeitweiligen Entzug von Stimmrechten und EU-Geldern vor. Das Verfahren ist allerdings sehr kompliziert. Es würde auf einem Bericht über den Stand der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn fußen, der zurzeit vom Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europaparlaments erarbeitet wird. Über diesen Bericht soll im September 2018 im Plenum abgestimmt werden. Zur Verabschiedung bedarf es einer Zwei-Drittel-Mehrheit.

Was das EU-Budget angeht, wird die Kommission ein Verfahren vorschlagen, um die Kohäsionsfonds der EU an die Einhaltung rechtsstaatlicher Normen zu binden. Am Ende muss aber auch dies einstimmig von den Mitgliedstaaten verabschiedet werden.

Visegrád, die EU und Deutschland

Orbáns bisherige Handlungen zeigen, dass er gegenüber der EU selektiv vorgeht und sich teils für weniger, teils aber auch für mehr Europa einsetzt. Diese zweigleisige Strategie wird er vermutlich in seiner neuen Amtszeit weiterführen. Orbán wird versuchen, die EU zu schwächen, um zu verhindern, dass sie sich in nationale innen- und justizpolitische Fragen einmischt, die von Brüssel als problematisch angesehen werden. Gleichzeitig wird er sich für ein stärkeres Engagement der EU einsetzen, wenn es um den Binnenmarkt, die Kontrolle der Außengrenzen, Abschiebungen oder um die europäische Verteidigung und die Erweiterung der EU geht.

Letztlich macht Orbán Politik so, als wäre er ein Geschäftsmann, der einen großen Deal abschließen will. Wenn er glaubt, dass ihm umstrittene Maßnahmen ernste Konsequenzen eintragen könnten, macht er tendenziell Rückzieher. Anders als der illiberale polnische Politiker Jaroslaw Kaczynski achtet Orbán sorgfältig darauf, nicht das Risiko einer zu starken Isolierung in der EU einzugehen. Orbán ist sich bewusst, dass Ungarn ein relativ kleiner Mitgliedstaat ist und dass er Beziehungen pflegen muss, um seine eigene internationale Stellung und die Position seines Landes zu festigen.

Von der Migrationsfrage abgesehen, ist Ungarns Einfluss im Europäischen Rat relativ gering. Es ist Orbán nicht gelungen, die Führung bei konstruktiven Politikvorschlägen zu übernehmen, die auf ein anderes europäisches Leitbild abgezielt hätten. Nicht, dass seine Schritte gar keine Wirkung gehabt hätten – aber sie waren bislang eher obstruktiv. Seine Haltung bringt oft neue Impulse in EU-Debatten, aber mit seinen wirklichen Plänen für die künftige Entwicklung der EU hält der ungarische Ministerpräsident hinter dem Berg. In Regierungskreisen meint man, er strebe einen größeren euroskeptischen Block um Ungarn und Polen herum an. Als neue Allianz innerhalb der EU würden diese Länder dann die Rolle übernehmen, die Großbritannien bisher spielte, und ein Gegengewicht zu den Europa-Vorstellungen Deutschlands und Frankreichs bilden, die eine engere Integration anstreben.

Die Visegrád-Staaten haben Orbán eine regionale Bühne verschafft. Aber sie sind immer weniger in der Lage, sich auf eigene Vorschläge zu Europa zu einigen. Bei wichtigen Abstimmungen in Brüssel unterliegen die Visegrád-Staaten häufig. So war es auch im Oktober 2017 bei der neuen Entsenderichtlinie, bei der am Ende Tschechen und Slowaken für einen vorteilhaften Kompromiss mit Frankreich stimmten. Im Juli 2018 wird die Slowakei den Vorsitz der Visegrád-Gruppe übernehmen – gefolgt von der Tschechischen Republik 2019 – und voraussichtlich einen pragmatischeren EU-Kurs einschlagen. In seiner neuen Amtszeit wird Orbán deswegen vermutlich auch jenseits der Visegrád-Gruppe nach Verbündeten suchen, um den Aufbau einer Anti-Brüssel-Koalition zu beschleunigen. Italien, Rumänien und nicht zuletzt Österreich könnten für ihn als mögliche Partner infrage kommen.

Unterdessen streben Berlin und Paris eine Einigung über die Reform der Eurozone an, die zu einer engeren Integration ihrer Mitglieder führen könnte. Auch in anderen Politikbereichen wird es wahrscheinlich zu mehr Kooperationen in kleineren Gruppen als den EU-27 kommen. Deutschland vertritt dabei die Haltung, dass die Europäische Union allen Mitgliedern positiv begegnen und den Zusammenhalt der Gemeinschaft sichern sollte. Dies ist für Ungarn essenziell, wenn es nicht an den Rand gedrückt werden will.

Was jetzt geschehen muss

Mehrere hochrangige Quellen in Budapest haben angedeutet, dass Orbán nach den Wahlen vermutlich eine Entspannung des bilateralen Verhältnisses mit Deutschland anstreben wird. Dies könnte eine diplomatische Öffnung bedeuten, die Deutschland nutzen könnte – und zwar nicht nur gegenüber der immer autokratischer agierenden ungarischen Regierung, sondern auch der Zivilgesellschaft des Landes.

Berlin sollte alle sich bietenden Gelegenheiten nutzen, um mit Ungarn über das geplante Gesetz gegen die Nichtregierungsorganisationen zu sprechen, bevor es verabschiedet wird. Dabei sollte Deutschland auch andere EU-Mitgliedstaaten einbeziehen.

Es geht auch nicht nur darum, dass Diplomaten mit ihren ungarischen Amtskollegen sprechen. Mitglieder der nationalen Parlamente, die in den EU-Ausschüssen sitzen, sollten ungarische Abgeordnete und Vertreter der Nichtregierungsorganisationen zu Rate ziehen. Dies würde die Aufmerksamkeit auf Ungarns antidemokratische Maßnahmen lenken und die ungarische Zivilgesellschaft in die Bemühungen um den Erhalt des Rechtsstaats einbeziehen. Bei diesem Thema bleiben Deutschland und der EU nicht viel Zeit, das Gespräch mit Ungarn zu suchen. Wenn das neue Gesetz erst verabschiedet ist, ist es zu spät.

Auch die ungarische Zivilgesellschaft, die Nichtregierungsorganisationen und die verbleibenden unabhängigen Medien tragen eine Verantwortung dafür, sich klar gegen das Anti-NGO-Gesetz zu positionieren. 2017 wehrten sie sich zwar lautstark gegen die Schließung der Central European University. Doch wenn es um das neue Gesetz geht, sind öffentliche Proteste und internationale Kampagnen bisher ziemlich zurückhaltend ausgefallen. Politik und Zivilgesellschaft in Europa und darüber hinaus müssen dringend ihre Anstrengungen verstärken.

Besonders wichtig ist, dass die Mitte-Rechts stehende Europäische Volkspartei – bei der Fidesz Mitglied ist – den Druck erhöht. Orbán ist einer der dienstältesten Regierungschefs in Europa und hat wichtige Verbündete. Er ist außerdem ein attraktiver Partner für CSU-Politiker und die österreichische ÖVP, weil er gegenüber ihren eigenen Mitgliedern die Behauptung stützt, sie zeigten in Einwanderungsfragen Härte.

Doch während Orbán solche konservativen Bündnisse pflegt, driften sein Stil und seine Sprache immer stärker zu deren rechtsextremen Rivalen ab, der Alternative für Deutschland (AfD) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Welche Richtung wird er einschlagen? Höchstwahrscheinlich wird er beides versuchen: seine Kontakte und persönlichen Freundschaften zu rechtsextremen Parteien und deren Vertretern weiterentwickeln und gleichzeitig seine Position und Verbindungen innerhalb der EVP pflegen. Ähnlich wie bei seiner gleichzeitig pro- und antieuropäischen Haltung weiß er, dass er die EVP auch nur in Grenzen vor den Kopf stoßen kann, bevor er sie als Schutzschirm verliert.

Nüchterner Blick

Letzten Endes sollten sowohl Berlin als auch Brüssel Orbáns Erklärungen nüchtern betrachten. Sicher sind seine Maßnahmen zur Demontage der demokratischen Standards in Ungarn alarmierend. Aber die Reichweite seiner Diplomatie ist begrenzt. Die Verbündeten, die Orbán bei westlichen Regierungen hat – so wie die CSU, die ihn bei ihrem letzten Parteitag feierte –, unterschätzen bisweilen, dass Orbán auf der europäischen Bühne eher laut als effektiv ist.

Ende Mai 2019 finden die nächsten Wahlen zum EU-Parlament statt. Dann werden die Machtverhältnisse in der EU und ihre politische Agenda neu definiert. Danach wird die EVP-Fraktion ihre Haltung überdenken müssen. Es ist wahrscheinlich, dass sie Fidesz – und damit eine starke Regierung in einem Mitgliedstaat – dann ausschließt. Dennoch wird die EVP sich auch Gedanken machen müssen, wie sie Orbáns Regierung im Zaum und innerhalb von „roten Linien“ halten will. Sie wird auch darüber nachdenken müssen, wie sie diese Linien notfalls durchsetzen kann, um eine Wiederholung der Situation von 2017 zu verhindern, als das ungarische Parlament ein erstes Paket von Maßnahmen gegen Nichtregierungsorganisationen verabschiedete, obwohl die EVP davor gewarnt hatte.

Schließlich werden die EU und ihre Mitgliedstaaten wirksame Antworten auf die euroskeptischen und antiwestlichen Parolen von Orbáns Regierung entwickeln müssen. In der Gesellschaft wirken sie sich bereits aus. Das gilt auch für die neuen Gesetze und staatlichen Maßnahmen, die die ungarische Demokratie aushöhlen und illiberale Praktiken und rechtsextreme Parolen bei Regierungen in der EU hoffähig machen.

Milan Nič ist Senior Fellow des Robert Bosch-Zen­trums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.

Péter Krekó ist geschäftsführen-der Direktor des Forschungs- und Beratungsinstituts Political Capital in Budapest.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 76 - 81

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