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01. März 2017

Prediger in der Wüste

Die „Ent-Orbánisierung“ der Visegrád-Gruppe hat begonnen

Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán hat 2017 zum „Jahr der Revolte“ gegen die „alteuropäische, liberale Elite“ erklärt. Doch bei diesem Vorhaben dürfte ihm die Visegrád-Gruppe die Gefolgschaft versagen. Tschechien und die Slowakei haben erkannt, dass eine loser organisierte EU nicht in ihrem Interesse ist, und auch Polen geht auf Distanz.

Viktor Orbáns Tonlage war zuletzt fast die eines Predigers. Dabei beschwert sich Ungarns Ministerpräsident längst nicht mehr über Deutschlands „moralischen Imperialismus“, wie er es auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 getan hatte. Vielmehr feiert er bereits jetzt 2017 als „das Jahr der Revolte“ innerhalb der Europäischen Union: Für ihn bedeuten die bevorstehenden Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und der Bundesrepublik die große Chance, die alten politischen Eliten loszuwerden.

Das Ende der liberalen Ordnung in Europa stehe bevor – und die Machtübernahme einer neuen Elite, die mehr mit seinen Vorstellungen im Einklang steht. Diese neue Elite mit den Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei als Kern stünde den Bedürfnissen, Stimmungen und Ängsten der Wähler näher.

Nun ist weder ein Wahlsieg des rechtsextremen Front National unter der Führung von Marine Le Pen in Frankreich Anfang Mai noch die Abwahl von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst unmöglich. Und auch die sonst politisch eher gemäßigte Tschechische Republik könnte nach den Wahlen Mitte Oktober von ihrem eigenen Silvio Berlusconi in Person des bisherigen Finanzministers Andrej Babis geführt werden. Der größte Medienmagnat des Landes gilt als aussichtsreichster Kandidat für das Amt des Premier­ministers.

Orbáns Ungereimtheiten

Schaut man genauer hin, erkennt man die Ungereimtheiten in Orbáns Vorstellungen. Auf den ersten Blick scheinen alle vier Visegrád-Regierungen zwar integrationsskeptische Verfechter einer EU mit schwachen Institutionen und starken Mitgliedstaaten zu sein. Tatsächlich aber zeichnen sich unter der Oberfläche Risse innerhalb der Gruppe ab, besonders zwischen den lautstarken Verfechtern „nationaler Souveränität“, Ungarn und Polen, und denjenigen, die eine moderatere und pragmatischere Linie verfolgen, nämlich die Slowakische und die Tschechische Republik.

Es sind vor allem strukturelle Faktoren, die die Visegrád-Gruppe in unterschiedliche Richtungen treiben. Ungarn und Polen wandten sich in den vergangenen Jahren unter ihren Einparteienregierungen, dominiert von einem „starken Mann“, von demokratischen Grundsätzen ab. Sowohl Orbán als auch Jarosław Kaczynski, der allmächtige Vorsitzende der in Polen regierenden Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS), sehen ihre Länder als Bastionen eines traditionellen, christlichen Konservatismus und teilen ihre reaktionären und ideologischen Anschauungen der EU mit den extrem rechten Wortführern im Westen Europas. Dagegen regieren in Tschechien und der Slowakei Koalitionen aus je drei Parteien unter sozialdemokratischer Führung, die weitestgehend europafreundlich sind.

Vor allem in der Tschechischen Republik wurden die Beziehungen zum direkten Nachbarn Deutschland immer als sehr wichtig eingestuft. Petr Kratochvil, Direktor des Instituts des Auswärtigen Amtes für Internationale Beziehungen, machte erst kürzlich deutlich, dass Prag im Falle eines Wahlsiegs von Le Pen in den französischen Präsidentschaftswahlen ein wesentlicheres Interesse daran habe, die engen Beziehungen zu Berlin aufrechtzuerhalten, als sich auf die Seite von Orbán und Kaczynski zu schlagen. Die Slowakei ist als einziger Visegrád-Staat Mitglied der Europäischen Währungsunion, dadurch ohnehin stärker mit Deutschland und dem europäischen Kern verbunden und sogar bereit zu einer weiteren Vertiefung in Richtung einer Fiskalunion. Somit haben weder der slowakische Ministerpräsident Robert Fico, berühmt-berüchtigt für seine populistischen Aussagen, noch sein technokratischer Amtskollege in Tschechien, Bohuslav Sobotka, ein Interesse an der von Ungarn und Polen beworbenen „konservativen Konterrevolution“ in Europa.

Diese Differenzen sind verhältnismäßig milde, verglichen mit früheren Querelen und Perioden eines „passiven Visegrád“, als die Gruppe aufgrund interner Spannungen zerrissen und handlungsunfähig war oder sich ein Mitglied ganz ausklinkte. Die häufigsten Ausreißer waren bislang Polen, aufgrund seiner größeren und bedeutenderen Rolle in der europäischen Politik, und die Tschechische Republik, deren Regierung ihr Land bisweilen als ökonomisch weiterentwickelter wahrnahm als die anderen in der Region. Ein anderes Spannungsfeld waren die slowakisch-ungarischen Beziehungen: So gab es 2009 diplomatischen Streit über eine Änderung des slowakischen Sprachenrechts, die von Budapest als Angriff auf die im Land lebende ungarische Minderheit verstanden wurde. 2010 folgte der Zwist über das ungarische Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft, das einer bevorzugten Einbürgerung im benachbarten Ausland lebender Ungarn den Weg ebnete.

Eine neue Qualität

Dennoch haben die derzeitigen Unstimmigkeiten eine neue Qualität. In Prag und in abgeschwächter Form auch in Bratislava wächst die Sorge, dass sich die Visegrád-Gruppe von ihren ursprünglichen Zielen abwendet.

Die regionale Allianz war kurz nach dem kommunistischen Zusammenbruch unter der Führung von Dissidenten entstanden, die plötzlich als Staatspräsidenten (Václav Havel, Lech Wałesa) und Premierminister (József Antall) fungierten. Ihr Treffen 1991 in der malerischen, kleinen Stadt Visegrád diente der Distanzierung ihrer drei Staaten (aus denen später, nach dem Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei, vier wurden) von Russland und dem geopolitischen Erbe der sowjetischen Dominanz.

Jacques Rupnik, damals ein Berater Havels, erinnert daran, dass die Visegrád-Gruppe „mit demokratischen Idealen und Ambitionen und unter demokratischen Führungen gegründet wurde. Sie repräsentierte auch einen starken Gegensatz zum Nationalismus … in der Region. ­Außerdem hatte die Formierung auch eine europäische Dimension: Das Hauptziel war es, Europa zu einen, ein neues Zentraleuropa zu schaffen und dieses gleichzeitig im weiteren Sinne in das europäische Projekt zu integrieren.“1 In den folgenden 25 Jahren ermöglichte diese informelle Gruppierung – als Konsequenz ihres Zusammenschlusses, aber auch als Quelle neuer Ideen – eine historisch noch nie dagewesene geopolitische Stabilität in Zentraleuropa.

Die Visegrád-Gruppe begann als ad-hoc agierende, informelle Koalition vierer Länder zur Untermauerung gemeinsamer regionaler Positionen; um diese zu entwickeln, existieren heute eine Reihe bewährter Verfahren und Formate, unter anderem die jährlich rotierende Präsidentschaft sowie regelmäßige Treffen von der Ebene der Premierminister bis hin zu Expertentreffen auf Ministeriums­ebene. Außenstehende unterschätzen oft das Ausmaß persönlicher Vernetzung, das zwischen den Regierungsmitarbeitern und Fachleuten der vier Staaten besteht. Bis heute hängt jedoch vieles von gemeinsamen Interessen, funktionellen Synergien und auch der persönlichen Chemie auf höchster politischer Ebene ab.

Hinter verschlossenen Türen

Um Konflikte aus der Öffentlichkeit fernzuhalten, haben sich die vier Länder auf EU-Ebene auf ein diplomatisches Koordinierungskonzept festgelegt. Sie vertreten regionale Positionen nur dann gemeinsam, wenn alle einverstanden sind – wie beispielsweise bei Themen des Gemeinsamen Marktes, Freizügigkeit oder Grundsatzhaltungen gegenüber London in Sachen Brexit.

Neuerdings distanzieren tschechische und slowakische Diplomaten allerdings ihre Länder von der „reaktionären Achse Budapest–Warschau“ und Orbáns Umdeutung des Visegrád-Gedankens. Ähnliche Stimmen werden auch in außenpolitischen Debatten in Warschau laut. In einer jüngst erschienenen Analyse ungarischer Ambitionen auf eine Führungsrolle in der Region sprach sich das Polnische Institut für Internationale Beziehungen (PISM) für die Wiederherstellung größerer Symmetrie in Warschaus Beziehungen zu Buda­pest aus.

Bisher wurden die wachsenden Spannungen hinter verschlossenen Türen verhandelt. Noch hält ein identischer Ansatz in der Migrations- und Flüchtlingsfrage die vier zusammen. Die Visegrád-Premierminister und andere hohe Regierungsmitglieder treffen sich weiterhin regelmäßig und koordinieren sich in Brüssel vor jedem EU-Gipfel und den Treffen der europäischen Gremien. Die Sorge, dass offene Auseinandersetzungen von Deutschland und anderen EU-Staaten zur weiteren Schwächung der Region auf EU-Ebene ausgenutzt werden könnten, treibt alle um.

Allerdings drängt sich auch den Visegrád-Mitgliedern die Frage auf: Was passiert, wenn die Wahlen von 2017 wirklich zu einer EU führen, die unbeständiger und lockerer organisiert ist? Das Fehlen einer gemeinsamen Vision und das unterschiedliche Verständnis der regionalen Interessen würden zu einem auseinanderstrebenden, fragmentierteren Zentraleuropa führen. Denn was in Ungarn als große Chance gilt, wäre für Polen, die Tschechische Republik und die Slowakei in Wahrheit eine große Bedrohung. Diese drei Staaten waren mitunter die größten Nutznießer der liberalen Ordnung Europas nach 1989, die jetzt von unterschiedlichen Seiten unter Druck gerät. Ein möglicher „Deal“ zwischen dem neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump und Russlands Wladimir Putin auf Kosten der Ukraine würden die meisten Polen als ein demütigendes „neues Jalta“ ansehen, ob sie Anhänger der PiS-Regierung sind oder nicht. Orbán dagegen würde einen solchen Deal begrüßen und wahrscheinlich versuchen, weitere Zugeständnisse für ungarische Minderheiten als Teil des Gesamtpakets herauszuschlagen.

Dass es grundsätzlich schwierig war und ist, regionale Kooperationen in Zentraleuropa zu organisieren, hat auch mit den unterschiedlichen historischen Erfahrungen und geopolitischen Vorstellungen der vier Länder zu tun. Für Polen geht es um die große Fläche zwischen Deutschland und Russland, zu der wohl auch die Ukraine und womöglich sogar Weißrussland gehören. Für Tschechien und die Slowakei handelt es sich dagegen um das frühere Kaiserreich Österreich-Ungarn, wobei sich die Tschechen mehr gen Westen in Richtung Deutschland orientieren und die Slowaken nach Südost entlang der Donau. Für Ungarn lag der Schwerpunkt ebenfalls auf dem Donau-Raum und auf den Karpaten, wo eine ungarische Minderheit lebt.

Während man in Polen über Russlands Revisionismus besorgt und gleichzeitig über die Rückkehr einer deutschen Hegemonie in Europa beunruhigt ist, versuchen die Ungarn, strategische Partnerschaften mit beiden Mächten aufrechtzuerhalten und diese so auszubalancieren, dass Ungarns Rolle in der Donau-Region gestärkt wird.

Diese gegensätzlichen Tendenzen innerhalb der Visegrád-Gruppe wurden im tiefen Zerwürfnis zu Beginn der Ukraine-Krise 2014 offenbar: Die Haltungen reichten von Polens klarem Pro-Ukraine-Kurs bis hin zu Ungarns Bemühen um eine privilegierte Partnerschaft mit Russland, während sich Tschechien und die Slowakei irgendwo in der Mitte wiederfanden – wobei Prag eher zur polnischen Position neigte und Bratislava eher den Ungarn folgte. Sowohl die slowakische als auch die ungarische Regierung stimmten den EU-Sanktionen gegen Russland nur widerwillig zu; und ihre Regierungschefs sind erneut an vorderster Front zu finden, wenn es darum geht, im Sommer 2017 eine weitere Verlängerung zu verhindern – obwohl sich beide, Fico und Orbán, dazu bekannt haben, nicht diejenigen sein zu wollen, die eine einheitliche Position blockieren. Wie auch immer: Polnische Diplomaten dürften es nicht allzu gerne sehen, dass manche ihrer Visegrád-Partner Russland einladen, eine noch größere Rolle in der regionalen Energie- und Geopolitik zu spielen.

Schulterschluss mit Putin

So wie beim Besuch Putins in Budapest Anfang Februar, den Orbán zum Anlass nahm, „die antirussische Politik in der westlichen Hälfte des Kontinents“ zu kritisieren. Die weltweiten Umbrüche böten doch „hervorragende Voraussetzungen für noch engere Beziehungen zwischen Ungarn und Russland“. Konkret ging es unter anderem um den Bau zweier weiterer Meiler in Ungarns einziger Atomanlage bei Paks durch den russischen Staatskonzern Rostatom, der zu 80 Prozent von Russland finanziert wird.

Es war das dritte Treffen binnen zwei Jahren – Orbán kommt regelmäßiger mit dem russischen Präsidenten als mit jedem anderen Staatsoberhaupt zusammen, bereits seit 2009 jährlich. Zugleich hat Orbán stets Wert auf den Erhalt starker bilateraler Beziehungen zu Deutschland gelegt. Als sich sein Verhältnis zu Kanzlerin Angela Merkel verschlechterte, knüpfte er Verbindungen zu Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer.

Mittlerweile erkennen die Regierungen in Tschechien und der Slowakei immer klarer, dass das populistische Konzept eines „Europa der Vaterländer“ ihren eigenen Interessen zuwiderläuft. Die Aussicht, als kleine Staaten in dem momentanen geopolitischen Chaos in Mittel- und Osteuropa auf sich allein gestellt zu sein, bringt sie dazu, gemeinsam mit Deutschland an der Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung in Europa zu arbeiten.

Daher werden die politischen Schlüsselfiguren in Prag und Bratislava Merkel für die Bundestagswahl im Herbst die Daumen drücken, unabhängig davon, wie sehr ihnen die Haltung der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage zuwider ist. Und im Gegensatz zu den Regierungen in Warschau und Budapest wollen sie sich auch nicht an der Positionierung ihrer Region als Gegengewicht zu deutscher Dominanz innerhalb der EU beteiligen.

Zukünftig werden die Visegrád-Länder vermutlich noch stärker divergierende Wege beschreiten, wenn es um die Ausrichtung der EU geht. Eine Konsequenz daraus könnte sein, dass bilaterale Beziehungen – zu Deutschland, zu anderen EU-Partnern, zu Putin und auch zu Trump – stärker in den Vordergrund rücken. Auch die jeweilige Innenpolitik (in Ungarn stehen 2018 Wahlen an) und die Persönlichkeiten der Handelnden werden die Agenda der „Vierergruppe“ bestimmen. Eines ist allerdings sicher: Orbán wird dabei eine klei­nere Rolle spielen, als er selbst glauben möchte.

Milan Nic ist Leiter des Europa-Programms beim GLOBSEC Policy Institute in Bratislava.

  • 1Jacques Rupnik: What is alive and what is dead in the Viségrad project, Visegrád Insight 1/2016
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 98-103

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