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30. Jan. 2008

Wer hat Angst vorm Großen Bären?

... China! Zumindest ist die Entwicklung des Nachbarn Peking nicht ganz geheuer

Wenn es um Russland geht, sind die Gefühle der chinesischen Elite in jeder Hinsicht komplex, ihr außenpolitischer Blick ambivalent: Einerseits freut sich Peking über die Konfrontationsstrategie des Kremls gegen den Westen. Andererseits fürchten Chinas Strategen Russland zunehmend als geopolitischen Rivalen – vor allem in Zentralasien.

Ist Russland ein Partner? Peking feiert medial jede Drohung Moskaus Richtung Westen mit der größten Freude: Ob die Wiederbereitstellung strategischer Fernbomberflotten Russlands für den alltäglichen Dienst, Moskaus Polemik gegen den Raketenschutzschild der USA in Tschechien und Polen oder Putins Münchner Rede. Unklar ist der Sinn: Will Peking sich dem Westen als der bessere, weil friedlichere Partner präsentieren? Liegt es China am Herzen, den russischen Bären an die vorderste Front gegen den von den Vereinigten Staaten angeführten Westen zu treiben, um die eigene, im Moment evidente militärische Schwäche auszugleichen? Auch eine dritte Lesart gibt es: Je härter Russland im europäischen Westen die USA und die NATO herausfordert, desto fester bindet es die eigenen Kräfte und die des Westens – und derweil kann China die so gewonnenen Optionen im asiatisch-pazifischen Raum entfalten.

Klar ist: Auch für Peking zeigt das skizzierte Kalkül enge Grenzen. China ist heute schon insbesondere für die USA langfristig die potenzielle Bedrohung Nummer eins. Auch die EU nimmt wahr, was für ein bedrohliches Potenzial selbst der friedliche Aufstieg der chinesischen Volkswirtschaft in sich birgt – Chinas unersättlich wachsender Energiehunger ist da nur ein Beispiel.

Überdies bringt eine Konfrontation zwischen Russland und dem Westen für China Chancen ebenso wie unbeherrschbare Risiken mit sich: Muss Moskau – wie jüngst bei dem Abschluss des kaspischen Abkommens oder bei der russischen Initiative, ein Gaskartell nach dem Vorbild der OPEC zu schmieden – erst die restlichen zentralasiatischen Ressourcen an Öl und Gas für sich in Anspruch nehmen, um sich einen neuen Kalten Krieg leisten zu können?

Die russische Annäherung an Indien im Bereich militärischer Koproduktion ist typisch für Moskaus neue Geopolitik in Asien. Sie lässt Peking noch mehr schaudern als der amerikanische Versuch, Neu-Delhi mit Nukleartechnologie zu ködern; denn mit den modernsten Mig-35-Kampfjets, die Moskau und Neu-Delhi jetzt gemeinsam entwickeln werden, und mit russischen Panzern ausgestattet wird Indien bald nicht nur den gesamten Indischen Ozean – und damit alle lebenswichtigen Seewege für China – viel wirksamer kontrollieren können als bisher. Ein modernisiertes indisches Heer wird zudem Pakistan, Chinas einzigen Partner in Südasien, in die Enge treiben. Bereits in den siebziger Jahren musste China unter Mao die Spaltung Pakistans und das Schwinden seines Vertrauens in die Protektion durch Peking hinnehmen. Kippt die geo-militärische Balance bald wieder zu Ungunsten Pakistans, wird Chinas Alptraum wahr: Peking wird definitiv seine Funktion als Islamabads Statthalter einbüßen, gleichviel, ob die Macht an die Islamisten geht oder es bei einer Militärregierung à la Musharraf bleibt, die schon jetzt am Tropf der USA hängt.

Ein viel unmittelbareres Gespenst plagt Pekings Strategen in Zentralasien: Russland unter Jelzin hatte Peking gegen Ölpipelines vom russischen Fernen Osten nach Nordostchina große Territorialgewinne bei der Grenzdeklaration abgetrotzt. Jetzt führt die Pipeline von Sibirien aus doch nach Japan – mit nur einem Abzweig nach China. Russland unter Putin pokert in Sachen Öl und Gas nun mit China und der EU, an wen die Lieferungen langfristig gehen sollen. Chinas Karten sehen dabei ziemlich schlecht aus, gerade weil Öl und Gas im Ringen Russlands um Einfluss in Europa fest zum Arsenal der Folterwerkzeuge gehört. Sollte die reichere EU sich die Ressourcen gegen Einräumung gewisser russischer Ansprüche sichern, wird Peking dem Kalkül im Kreml erneut zum Opfer fallen.

Dies und vieles mehr lässt die chinesische Elite befürchten: Abgesehen davon, ob Pekings Plan vom eigenen Aufstieg zur Weltmacht aufgeht, ist Russland schon jetzt ein Rivale. Chinas Aufstieg muss auch gegen Russlands Interessen vonstatten gehen. Die Frage bleibt: Wie ist Moskau als Rivale für Peking einzuschätzen, wie und auf welcher Ebene gefährlich ist die russische Rivalität für China, jenseits Moskaus Anspruch, geopolitisch wieder als Weltmacht vom Kaliber eines Peters des Großen anerkannt zu werden?

Mit der Formel von den BRIC (Brasilien, Russland, Indien und China) brachten zunächst westliche Börsianer, später Ökonomen die Idee auf, Russland sei als ernstzunehmendes Schwellenland wie China und Indien einzustufen. Aber ist Moskau „nur“ ein Schwellenland? Saß nicht Wladimir Putin zuletzt in Heiligendamm 2007 direkt an der Tafel des G-8-Gipfels, während die Staatsoberhäupter der drei anderen Länder am „Katzentisch“ Platz nahmen? Könnte sich China darauf verlassen, Russland geopolitisch als Weltmacht, weltwirtschaftlich aber als Schwellenland zu begegnen? Gleich zu Beginn des Jahres 2008 behaupteten renommierte Ratingagenturen, das Entwicklungspotenzial der russischen Volkswirtschaft werde demnächst das der chinesischen überholen. Muss sich Peking auf ein ökonomisch dominantes Nachbarland einstellen, das seine Position als Weltmacht auch wirtschaftlich untermauert?

Anders als Indien und China verfügt Russland über schwerindustrielle Potenziale, die es nicht erst aufzubauen, sondern nur zu modernisieren gilt, über technologisches Basis-Know-how, eine ingenieurwissenschaftlich fundierte Elite und eine breite Schicht von gut ausgebildeten Fachkräften. Zumindest Chinas Technokraten gehen davon aus: Gesellen sich hierzu noch international günstige Voraussetzungen wie der WTO-Beitritt oder die Aufmerksamkeit des Weltkapitals, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Wirtschaftspotenzial Russlands als Verheißung dem chinesischen die Show stiehlt – mit den entsprechenden außenpolitischen Folgen.

Kennzeichnend für Chinas Außenpolitik war bis vor kurzem die Strategie, westliche Technologien gegen den chinesischen Markt bzw. gegen die preiswerte, schier unbegrenzte Produktionskapazität für jedwedes Sortiment einzutauschen. Sollten Indiens Markt plus Russlands industrielle Fähigkeiten Pekings Trumpfkarten auch nur partiell entschärfen, schrumpft schon jetzt Chinas Verhandlungsmasse etwa gegenüber der EU, um deren Handelskrieg im Bereich der Stahlproduktion zu kontern. Mittel- bis langfristig wird befürchtet, dass die russische Industriewirtschaft gegen eventuelle technologische Boykotts aus dem Westen weitaus resistenter und daher auch entwicklungsfähiger ist als die chinesische, die zwar den Ruf als Weltwerkbank „genießt“, im Umkehrschluss aber auch sehr abhängig ist von Schlüssel- und Systemtechnologien aus dem Westen.

Unfassbar ist das heutige Russland für Chinas Nomenklaturen auch in einer dritten Dimension. Noch 2005 erhoffte sich die Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) in Peking von Putins „gelenkter Demokratie“, dass „Russland auf diesem Wege zu mehr gemeinsamer Sprache mit China findet als mit dem Westen“. Noch 2003 trugen sich Chinas Strategen mit der Hoffnung, Russland, nunmehr auf der gleichen Frontlinie wie Deutschland und Frankreich gegen den Irak-Krieg der USA, werde endgültig die Wertegemeinschaft des Westens sprengen, um eine „wertfreie“ multipolare Weltordnung zu fundieren. Beides ist nicht eingetreten. In Russland werden die Medien wie die Opposition zwar immer mehr an die Leine genommen, dies sieht Peking.

Es sieht aber zugleich, dass gerade dies mit zu dem Erfolg einer „werteorientierten“ Öffnungspolitik der EU und der NATO Richtung Osten beiträgt. Weltpolitische Folge: „Der geopolitische Lebensraum Russland auch innerhalb der GUS wird weiter schrumpfen“ (CASS). Eine andere Erkenntnis der Chinesen ist nicht neu: Auch heute noch träume – anders als die chinesische – die russische Elite davon, in den Club des Westens aufgenommen zu werden (Xinhua). Die Frage, auf die Spitze getrieben, bleibt also: Wird eine russische Autokratie für China eine Katastrophe bedeuten? Schon in Gorbatschows und später in Jelzins Zeiten lehrte vor allem eine Option die KP in Peking das Fürchten: Ein demokratisches Russland würde die westliche Wertegemeinschaft unbezwingbarer denn je machen.

SHI MING, geb. 1957, studierte Germanistik und Jura in Peking, war Journalist bei Radio Bejing International, kam 1986 nach Deutschland und arbeitet heute als Publizist (u.a. für ARD, ZDF, FAZ, Spiegel online, taz).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 63 - 65

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