IP

01. Mai 2008

Stärke nach außen, Schwäche im Innern

Die KP in China verliert an Macht und versucht, mit harter Hand gegenzusteuern

Je näher die Olympiade rückt, desto rabiater agiert Peking: Militärische Massenaufmärsche, Verurteilung von Dissidenten, harsche Repression in Tibet und anderen Unruhezonen, Schürung des Volkszorns gegen „Verschwörer“ aus dem Ausland. Dahinter steht nicht Stärke, sondern nackte Angst. Denn der Zentralregierung entgleitet die Macht zunehmend.

Signale der Stärke, so der Anschein, versucht die politische Führung Chinas gerade in alle Richtungen zu senden. Nach innen: Bewaffnete Polizei greift überall dort durch, wo Unruhen, egal aus welchen Motiven, ausbrechen. Amtliche Medien beschuldigen derweil im Chor die westliche Presse, Chinas Bild zu verzerren – mit Erfolg: Auch viele sonst systemkritische Chinesen scheinen ihren patriotischen Sinn wiederentdeckt zu haben und stehen, wenigstens verbal, hinter der KP-Linie.

Aber auch nach außen sollten die Signale unmissverständlich sein: keine Verhandlungen mit dem Dalai Lama, scharfe Ablehnung jedweden Versuchs, die Olympischen Spiele in Peking zu boykottieren. Mehr noch: Zwei Dissidenten, einer mitten in der Tibet-Krise und einer unmittelbar danach, wurden demonstrativ zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Offenbar war es den Machthabern gleichgültig, wie viele negative -Schlagzeilen die Repression in der ganzen Welt auslöste – und wie sehr das angestrebte Image Chinas als weltoffener Olympia-Gastgeber dadurch gelitten hat.

Konträr zur markierten Stärke bieten sich jedoch, wenn man die Szene in Peking genauer unter die Lupe nimmt, andere Bilder: die der zunehmenden Schwäche. Anfang März hatte das chinesische Parlament auf dem diesjährigen Kongress gerade mit geballter Ent- und Geschlossenheit entschieden, die Inflation, die bereits im letzten Jahr eine beunruhigende Höhe erreicht hatte, dieses Jahr energisch auf einem Niveau von durchschnittlich 4,8 Prozent zu halten. Kaum drei Wochen später, Ende März, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua von einer Nationalen Tagung: Man schätze sich glücklich, wenn es dem Lande gelänge, für die zweite Jahreshälfte die Inflation auf fünf Prozent zu drücken. Die groß angekündigte Reform der Zentraladministration, inklusive einer Reduzierung der Anzahl der Ministerien von insgesamt über 50 auf 27, geriet bereits kurz nach der Ankündigung ins Stocken. Mittlerweile muss die politische Machtzentrale die Staatsbediensteten schon wieder besänftigen: Man wolle zwar die Ministerien fusionieren, jedoch weder deren Abteilungen kappen noch das Personal merklich abbauen. Im Klartext: Selbst das ohnehin bescheiden gesteckte Ziel, durch die Entschlackung die Effizienz der zentralen Bürokratie zu erhöhen, ist nicht mehr zu erreichen.

Die Autorität der Machtzentrale überzeugt um so weniger, als auf fast keinem akuten Problemfeld der realpolitischen Agenda Chinas auch nur eine KP-interne Einigung in Sicht ist: Sollte man angesichts der Rezession in den USA Chinas Volkswirtschaft mit keynesianischen Mitteln ankurbeln – oder lieber versuchen, durch Verknappung des Geldes eine Hyperinflation in allerletzter Minute abzuwenden? Muss man der in Südchina wie in weiten Teilen der prosperierenden Küstenregion einsetzenden Kapitalflucht, ausgelöst durch Investoren aus Südkorea, Taiwan und der Diaspora – die bislang den Löwenanteil der auswärtigen Direktinvestionen in China bestritten haben –, einen Riegel vorschieben, indem man versucht, die im sozialen Bereich beschlossene Ausgleichspolitik wieder aufzuweichen, etwa das gerade verabschiedete Arbeitsvertragsgesetz mit einem besseren Kündigungsschutz? Der Streit darüber wird, wenigstens in der Cyberspace-Öffentlichkeit, immer moralistischer und unversöhnlicher.

Derweil kann jederzeit sowohl die Börsen- als auch die Immobilienblase platzen, was eine Wertevernichtung ungeahnten Ausmaßes nach sich ziehen wird. Die Rufe nach dem Staat kommen aus der von Abstiegsangst geplagten, immer panischeren Mittelschicht in den Städten, und sie werden laut und lauter. Nur gibt es aus dem Dschungel des Staatsapparats bislang keinen eindeutigen Widerhall, geschweige denn einen einigermaßen plausiblen Lösungsvorschlag. Kaum verwunderlich: Bereits seit 2002 versucht die Regierung unter Premier Wen Jiabao, die astronomisch aufgeblähten Immobilienmärkte wie auch das Börsenfieber abzukühlen – vergeblich. Denn, darin sind sich alle China-Kenner einig, gegen die Interessengruppen aus Provinzfürsten und den Kindern mächtiger KP-Funktionäre – sie heißen im Volksmund „Prinzenpartei“ (taizidang) – kann sich die heutige KP-Führung nicht durchsetzen. KP-Chef Hu Jintao soll das schon vor Jahren freimütig eingeräumt haben: Partei- und Staatsdekrete reichten nicht über die Mauer von Zhongnanhai, dem Regierungssitz, hinaus.

Daher hat sich der Parteiapparat in der Zentrale dieses Jahr vorgenommen, die eigene Schwäche wenigstens zu lindern. In einem Buch mit dem Titel „Gipfelstürmer“ (gongjian), entworfen von einer Gruppe Think-Tanks um Professor Zhou Tianyong von der Zentralen Parteikaderschule in Peking, ist die Roadmap skizziert. Neben der erwähnten Reform der Ministerialadministration sieht der Plan eine Ausweitung der Zentralgewalt auf zwei Schlüsselgebieten vor: bei der Macht- und Kompetenzteilung zwischen Zentralregierung und anderen Verwaltungsebenen mitsamt dementsprechend anzupassender Haushaltsordnung. In ungewöhnlicher Offenheit beschreibt die Roadmap die machtpolitische Zielsetzung: Schwächung der Provinzkompetenzen, damit die Dekrete aus der Zentrale bis in die Basiseinheiten besser durchgeleitet werden können.

Gefährlicher Tabubruch

Fast gewagt wirkt diese Offenheit, weil damit ein gefährliches Tabu gebrochen wird. Denn so wird eingeräumt, dass nicht die ethnisch-religiös motivierten Zentrifugalkräfte, wie sie etwa im Konflikt um Tibet propagandistisch dargestellt werden, sondern die ökonomisch-politischen Interessen- und Machtkonflikte die Legitimation der KP-Führung in Peking gefährden. Noch offener, weil offensiver muten die Vorschläge zur Rezentralisierung der Macht an: An die 30 prosperierende Großstädte sollen der Provinzverwaltung entrissen und der Zentralverwaltung in Peking direkt unterstellt werden; öffentliche Haushalte in den Provinzen sollen in Zukunft allenfalls noch zentral durchgeplante Investitionsprojekte verwalten; damit dies gewährleistet wird, soll rund die Hälfte der Steuereinnahmen in den zentralen Fiskus fließen. Von der anderen Hälfte dürfen die Provinzregierungen nur etwas mehr als ein Drittel für sich behalten, um so die unteren Verwaltungseinheiten mit mehr Finanzmitteln auszustatten; angeblich soll dadurch sichergestellt werden, dass die von der Pekinger Zentrale verordneten Maßnahmen zur Ausbalancierung der konträren Interessen im Lande besser durchgesetzt werden, notfalls gegen die provinziale Bürokratie.

Die Erfolgschancen der eingeleiteten „Reformen“ sind gleich Null. Und zwar nicht nur, weil Unruhen des gegenwärtigen Ausmaßes in Tibet und den angrenzenden Regionen jede Kreisverwaltung schlicht außer Gefecht setzen; sondern auch, weil die an einem Aspekt entzündeten Konflikte in Sekundenschnelle auch zahlreiche andere Facetten des zurückgestauten Unmuts aufflammen lassen. Ähnlich explosive Konfliktsituationen wie in Tibet gibt es inzwischen auch in „rein“ chinesischen Siedlungsgebieten, ja sogar in Großstädten wie Tianmen in der Provinz Hubei: Dort stürmten nach einem Straßenkrawall kürzlich binnen Stunden zigtausende Menschen auf die Straße, die Slogans gegen die Korruption, gegen Immobilienpreise, gegen Hurerei und Willkür skandierten. Der Aufruhr endete in Szenen wüsten Massenhasses auf all jene, die vermeintlich schuld an den diffusen Problemen sind: Beamte, Reiche, Ordnungshüter, aber auch Ausländer. Ein derartiges soziales „Gemisch“ von Konfliktpotenzial, das sich dazu noch via Internet und Handys immer schneller über weite Gebiete verbreitet, vermag keine noch so straff organisierte Basiseinheit unter Kontrolle zu halten.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Basiseinheiten der Partei keineswegs mehr so effizient organisiert sind wie zu den Zeiten, als die KP als Revolutionspartei fungierte und über die Basis ihren Willen bis ins letzte Dorf transportieren konnte. Jenen nahezu paramilitärisch organisierten Basiseinheiten war lange Jahrzehnte zu verdanken, dass jeder Mobilisierungsversuch von Peking aus, sogar gegen die operative Bürokratie wie etwa während der Kulturrevolution, starke Resonanz fand. Davon kann die größte Regierungspartei der Welt heute nur noch träumen.

Laut einer Studie aus dem Jahr 1998, also vor zehn Jahren, ist mindestens die Hälfte der Basiseinheiten der Partei in den Städten funktionsunfähig. In ländlichen Regionen habe die KP ihre Mobilisierungskraft fast gänzlich eingebüßt – und zwar nicht nur dank der grassierenden Korruption, sondern zunehmend auch deshalb, weil innerhalb der Regierungspartei mit divergierender Interessenbildung auch eine divergierende Diskursbildung einhergeht.

Exemplarisch zeigte sich das bei der jüngsten Krise um Tibet: Für die KP-Zentrale in Peking waren die Unruhen selbst verheerend genug, aber noch verhängnisvoller war die Tatsache, dass ihre tibetanischen Parteimitglieder, sogar viele ihrer Funktionäre dort, lieber dem Diskurs des Dalai Lama folgen wollten als dem einer Offenheit und Wohlstand verheißenden KP Chinas, der, bei aller Kritik, zumindest der Wille zur Reform nicht abzuerkennen ist.

Erkannt hat die KP-Führung ihr immanentes Problem längst. Dennoch sucht sie nun angesichts der äußerst komplexen Problemlage in den peripheren Regionen nicht nach neuen Strategien, sondern ordnet breite ideologische Erziehung für weite Kreise der Mitglieder und Funktionäre an; auf die Idee, den labilen Basiseinheiten ein Angebot parteiinterner Partizipation zu machen, ist in Peking noch niemand gekommen. In der jüngsten Reform-Roadmap ist kein Wort mehr zu finden von dem seit Jahren diskutierten Vorschlag, Entscheidungs- und Kommandowege innerhalb der Partei zu pluralisieren, gar zu demokratisieren. Stattdessen werden derzeit ideologische Geschütze immer furchterregenderen Kalibers aufgefahren, vom „Volkskrieg gegen den Separatismus“ bis zum „Kampf gegen die Sklavenhaltergesellschaft“ – weniger, um ungehorsame Tibeter zu maßregeln, als um die potenziell Abtrünnigen bzw. deren Sympathisanten im eigenen Lager abzuschrecken. Diese Strategie ist jedoch nicht nur theoretisch überholt, sie ist schon gegen Ende der neunziger Jahre, etwa bei der Niederschlagung quasireligiöser Bewegungen wie Falun Gong, fehlgeschlagen. Denn bereits damals verlangten viele Parteimitglieder nach plausiblen, umfassenden Deutungsdiskursen, welche die KP Chinas schon damals nicht mehr zu liefern imstande war.

Verschwörungstheorien

Wegen des maroden Zustands der Partei selbst steht es heute auch um die zivilgesellschaftlichen Reformvorschläge schlecht, etwa die Stärkung der nichtstaatlichen Organisationen mit Vermittlerrolle oder der Einbindung der Religionen in die Bemühungen um die Stabilität der Gesellschaft. Denn wenn jetzt schon die tibetisch-buddhistischen Tempel in den Augen der Partei als Bollwerke und generalstabsmäßige Kommandozentralen der Verschwörung angesehen werden, müsste die KP noch mehr um ihre Macht bangen, wenn künftig etwa Wohlfahrtsverbände die Herzen der Hilfsbedürftigen für sich einnehmen könnten oder quasireligiöse Bewegungen mit ihrer Morallehre wieder die Autorität der KP herausfordern würden. Je weniger Chancen solchen Mittlerorganisationen eingeräumt werden, desto abhängiger wird die Machtzentrale jedoch von den Provinzfürsten, deren Verfügungsmacht die vorgesehene Reform gerade schmerzhaft beschneiden will.

Noch gefährlicher für die KP ist die Tendenz zu immer dirigistischerer Wirtschaftsorganisation. Angetrieben von der faktischen „Verstaatlichung der Ressourcen“ weltweit und beschleunigt durch die globale Finanzkrise, verstärkt sich seit einiger Zeit auch in China die Neigung, große Staatskonglomerate als Zugpferde und Schaltzentren nicht nur des ökonomischen Geschehens im Lande, sondern sogar als „Mitkontrolleure“ gegen Krisen einzubinden.

Bereits vor dem 17. Parteitag der KP im vergangenen Herbst gab die Parteiführung in Peking bekannt, dass der Zentralstaat künftig die monopolistischen Branchenbeherrscher direkt abkassieren will: Tantiemen aus Unternehmensgewinnen sollen unmittelbar als fiskalische Einnahmen faktoriert werden. Dafür stellt das Finanzministerium im Notfall Hilfsmaßnahmen für diese Unternehmen – etwa dem Ölrisen Sinopec – in Aussicht. Das Machtkalkül der Zentrale sieht dabei so aus: Wenn nun qua Reformplan den Provinzen die Haushaltshoheit über eigene Investitionen genommen werden soll, kann die Zentralregierung über den Umweg der Staatskonzerne nicht nur bei der Regulierung der Investitionen konjunkturell eingreifen. Gegen ungehorsame Provinzfürsten könnte man nach diesem Modell auch ökonomisch vorgehen – durch Abdrehen der Energiezufuhr zum Beispiel.

Die Wirkung dieser Waffe ist kolossal – und kolossal zweischneidig. Denn in der jüngsten Vergangenheit hatten große Unternehmen wie Sinopec kraft ihrer Monopolstellung in Südchina bereits für Knappheit an Benzin und Diesel gesorgt und damit tumultartige Unruhen auf dortigen Autobahnen ausgelöst; in diesem Frühjahr folgten während des Schneechaos in Südchina andere Branchengiganten der Kohle- und Stromindustrie dem schlechten Beispiel. Auch sie verknappten zuerst die Versorgung, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Um Schlimmerem vorzubeugen, sah sich die Zentralregierung unter Premier Wen Jiabao schließlich sogar gezwungen, per Staatsdekret geschlossene kleine Kohlegruben (die ihre Arbeiter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen mit großen Unfallrisiken ausgesetzt hatten) anzuflehen, die Produktion auf jeden Fall wieder aufzunehmen – ein klassisches Eigentor dirigistischer Wirtschaftslenkung. Die Nichterfüllung zentralstaatlicher Ordnungspflichten gegenüber der Gesellschaft, insbesondere gegenüber der neuen städtischen Mittelschicht, untergräbt die Autorität der KP-Führung und des Zentralstaats weiter.

Da die neue Reformroadmap die zahlreichen Interessenkollisionen nur halbherzig angeht, ist sie auf tragische Weise zum Scheitern verurteilt. Das miserable Krisenmanagement der Regierung in Sachen Tibet ist vor diesem Hintergrund zu bewerten: Um von den zahlreichen anderen, gravierenden Problemen abzulenken, hat Pekings Regentschaft sich entschieden, den Volkszorn gegen das Ausland zu schüren. Wenn die Intensität der Mobilisierung, etwa gegen vermeintliche oder tatsächliche Verschwörungen von außen, nachlässt, werden die vorprogrammierten Systemfehler im Innern um so deutlicher zutage treten. Im politischen Peking kursiert im Moment eine hasserfüllte Schelte gegen Betrüger und Schelme aller Art: „Wie kannst du nur so CNN sein!“ – eine Anspielung auf die offiziös verbreitete Einschätzung, dass westliche Medien in der Tibet-Frage Chinas Wirklichkeit unverschämt verdreht darstellen. Aber gleich danach hört man nicht selten den Schimpfenden nachliefern: „So unverfroren kann sonst nur CCTV sein!“ CCTV ist das Zentralfernsehen Chinas.

SHI MING, geb. 1957, studierte Germanistik und Jura in Peking, war Journalist bei Radio Bejing International, kam 1986 nach Deutschland und arbeitet heute als Publizist (u.a. für ARD, ZDF, FAZ, Spiegel online, taz).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, May 2008, S. 106 - 111

Teilen

Mehr von den Autoren