Weniger Taschenkarten, mehr Wirkmittel
Deutschlands Rolle in der NATO: Afghanistan als Testfall
Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest steht der Allianz eine intensive Debatte zum Afghanistan-Einsatz bevor. Es geht um Risiken und Lastenverteilung. Gesucht wird nach einer schlüssigen Strategie. Unter dem Druck der Verbündeten denkt Berlin über eine Ausweitung des deutschen ISAF-Engagements nach. Entscheidend: Zivile und militärische Mittel müssen integriert zur Wirkung gebracht werden.
Während sich die Sicherheitslage in ganz Afghanistan immer mehr verschlechtert, belasten schwerwiegende Bruchstellen innerhalb des Bündnisses die Mission der NATO-geführten International Security Assistance Force (ISAF) zunehmend. Erstens werfen die im Süden und Osten des Landes kämpfenden NATO-Truppensteller den in weniger gefährlichen Regionen engagierten Verbündeten mangelnde Risikobereitschaft vor. Gefordert wird insbesondere von der Bundesregierung – unter Verweis auf das Prinzip der Bündnissolidarität – die Bereitschaft zum Kampfeinsatz in ganz Afghanistan.
Zweitens werden die aus der unzureichenden Bereitstellung von Kräften resultierenden Probleme für die ISAF immer deutlicher. Die gemeinsam beschlossene NATO-Festlegung der militärischen Mindestanforderungen für den ISAF-Einsatz ist bis heute nicht umgesetzt worden. Vor allem mangelt es an Infanterie, Kapazitäten für den taktischen Lufttransport und für Aufklärung sowie zivilen Wirkmitteln. Zuletzt hatte der amerikanische Verteidigungsminister Gates in seinem Brief an Verteidigungsminister Jung zum wiederholten Mal auch Deutschland um die Entsendung von mehr Soldaten und Hubschraubern gebeten.1
Drittens hatten die Verteidigungsminister der Allianz im vergangenen Herbst in Noordwijk die Erarbeitung einer umfassenden politisch-militärischen NATO-Strategie für Afghanistan bis zum Gipfel in Bukarest vereinbart. Wie aber sollte diese aussehen? Was ist unter den gegenwärtigen Umständen operatives Ziel der NATO in Afghanistan? Lässt sich das Missverhältnis zwischen Auftrag und Mitteln überbrücken?
Das vergangene Jahr hat die für die ISAF veränderte Realität militärischer Operationsführung in Afghanistan verdeutlicht. Die in Deutschland verbreitete Vorstellung, dass nur im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF) offensive Operationen gegen Taliban und Al-Qaida durchgeführt werden, während ISAF für „Stabilisierung“ verantwortlich zeichnet, ist seit der Überarbeitung des NATO-Operationsplans 2005, der die ISAF im Zuge ihrer Ausweitung auf das ganze Land mit robusteren Einsatzregeln ausstattete, hinfällig.2 Im Süden und Osten Afghanistans herrscht Krieg zwischen afghanischer Regierung und ISAF auf der einen, Taliban, Al-Qaida und den verschiedenen mit ihnen verbündeten Gruppierungen auf der anderen Seite. Die dort stationierten NATO-Truppen Großbritanniens, Kanadas, der Niederlande und der Vereinigten Staaten müssen im Kampf gegen die Aufständischen teils schwere Verluste hinnehmen. Auch im Norden und Westen des Landes haben die Anschläge auf zivile und militärische Ziele deutlich zugenommen.
Im Vorfeld des Gipfels von Bukarest fordert nun eine Reihe von NATO-Mitgliedern mehr Unterstützung für den Einsatz. Die Vereinigten Staaten haben beschlossen, weitere Truppen nach Afghanistan zu entsenden, die zeitliche Befristung dieser Maßnahme allerdings unterstrichen.3 Die zunehmend kontrovers geführte Debatte in der NATO spiegelt die sich verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan wider. In der Folge kommt ein weiteres Problem hinzu: Militärisch ist die ISAF den Aufständischen nach wie vor überlegen, aber die Unterstützung für den Einsatz bröckelt kontinuierlich – und zwar sowohl in den westlichen Demokratien als auch in Afghanistan selbst. „Kampf-Einsatz“ versus „vernetzte Sicherheitspolitik“ (also eine Schwerpunktsetzung bei der zivil-militärischen Aufbauarbeit) ist mittlerweile die argumentative Trennlinie im Bündnis. Allerdings geht diese stereotype Unterscheidung an den Notwendigkeiten einer militärischen Operation zur Bekämpfung eines Aufstands (Counterinsurgency-Operation) vorbei.
Schutz der Bevölkerung als zentrale Aufgabe
Afghanische Regierung und ISAF konkurrieren täglich mit den von den Taliban angeführten Aufständischen um die Unterstützung und Zustimmung der Bevölkerung. Kernauftrag jeder Counterinsurgency-Operation muss daher der Schutz dieser Bevölkerung sein. Nur wenn ISAF und afghanische Sicherheitskräfte als durchsetzungsfähig gegenüber den Aufständischen wahrgenommen werden, kann den Afghanen die Angst vor Vergeltung durch die Aufständischen genommen werden. Und nur so kann auch den Taliban langfristig der Boden entzogen werden. Denn diese brauchen die Unterstützung oder zumindest die Duldung von Teilen der Bevölkerung, um Rückzugsräume, Verpflegung und Nachschub organisieren zu können. Ziel der Operationsführung muss es deshalb sein, die Aufständischen durch spürbar verbesserte Sicherheit und wirtschaftlichen Fortschritt für die Zivilbevölkerung zu marginalisieren. Die dazu erforderlichen zivilen und militärischen Instrumente stehen ISAF aber nicht ausreichend zur Verfügung. In den Debatten der vergangenen Wochen um Kampfeinsätze und die Entsendung von mehr Soldaten ist insbesondere dem Mangel an zivilen Instrumenten der ISAF zu wenig Beachtung geschenkt worden.
Mehr Präsenz in der Fläche
Waren die Provincial Reconstruction Teams (PRT) als zivil-militärische Instrumente ursprünglich als kleine, in Bevölkerung und Land eingebettete Einheiten gedacht, wich die Einsatzrealität doch schnell von diesem Ideal ab. Die Weite und die infrastrukturelle Unerschlossenheit Afghanistans führten zu einer unzureichenden Präsenz der ISAF in der Fläche. Zudem haben die im Verhältnis zur Größe des Landes wenigen PRT zwar spürbare Verbesserungen durch Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekte bewirkt – aber eben deshalb sind sie auch zum Ziel der radikalen Aufständischen geworden, stärken sie doch durch ihre erfolgreiche Arbeit den Rückhalt der Bevölkerung für die afghanische Regierung. Das unter wesentlich friedlicheren Umständen entstandene PRT-Konzept muss daher heute dringend weiterentwickelt werden.
Deutschland will die mangelnde Präsenz in der Fläche Afghanistans durch die Einrichtung so genannter Provincial Advisory Teams (PAT) verbessern. Das PAT-Konzept entspricht in weiten Teilen dem „Provincial Office“-Konzept, das im Norden Afghanistans, beispielsweise in Sari-Pol und Sheberghan, von den Schweden und in Aybak von den Finnen angewandt wird. Diese kleinen Einheiten – meist nicht mehr als 25 Soldaten – sind inmitten der Bevölkerung in den jeweiligen Provinzhauptstädten stationiert, betreiben Aufklärung und bilden afghanische Sicherheitskräfte aus. Schwachpunkt des Konzepts der nordischen Verbündeten ist der Mangel an zivilen Kräften in den Provincial Offices. Fragt man die skandinavischen Kommandeure vor Ort, woran es ihnen am meisten mangelt, dann wird meist ein „Development Advisor“, also ein entwicklungspolitischer Berater genannt. Das PAT-Konzept berücksichtigt diesen Bedarf und plant ziviles Personal ein.
Können aber derartige Konzeptionen derzeit von der Bundesregierung überhaupt personell ausreichend unterfüttert werden? Der Mangel an zivilen Kräften und Mitteln zur Unterstützung von Konzeptionen vernetzter Sicherheit ist eine grundlegende Schwäche des gesamten Afghanistan-Einsatzes. Die Frage der Verfügbarkeit ziviler Kräfte in den Einsatzgebieten ist für alle ISAF-Truppensteller ein fortwährendes Problem. Auch der Aufbau der afghanischen Polizei wird dadurch stark beeinträchtigt.
Die NATO braucht strategische Geduld
Im Bündnis wird es mehrheitlich so gesehen, dass der Schlüssel zu mehr Sicherheit für die Zivilbevölkerung in den Bereichen der Militär- und Polizeiausbildung liegt. Der NATO-Operationsplan nennt als militärstrategisches Ziel, dass die afghanische Armee (ANA) und Polizei (ANP) eigenständig Sicherheit gewährleisten können. Die Ausbildung funktionierender und einsatzfähiger afghanischer Sicherheitskräfte ist mittlerweile Schwerpunkt der Operationsführung.4 Ein nachhaltiger Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte ist allerdings ein sehr zeitintensiver Prozess, der Jahre in Anspruch nehmen wird. Darüber hinaus gibt es bei der von der Europäischen Polizeimission (EUPOL) verantworteten Polizeiausbildung einen dramatischen Mangel an Ausbildern. Die EUPOL soll selbst in der theoretischen Zielvorstellung ab März 2008 gerade mal über 205 Beamte für ganz Afghanistan verfügen. In Verbindung mit den bislang völlig unzureichenden Strukturen, ohne oder nur mit wenigen geschützten Fahrzeugen und nur wenigen Kräften, die über Erfahrung mit Auslandseinsätzen wie in Afghanistan verfügen, kann in der Fläche kaum Wirkung entfaltet werden. Eine Folge davon ist, dass beispielsweise im gesamten Norden Afghanistans die Polizeiausbildung faktisch durch das 30 Mann starke Feldjägerausbildungskommando der Bundeswehr stattfindet.
Während man bei der Militärausbildung – langen Atem vorausgesetzt – zumindest mittel- bis langfristig Grund zu vorsichtigem Optimismus hat, fehlt es bei der Polizeiausbildung immer noch an grundlegenden, strukturellen Voraussetzungen für Entwicklungsfortschritte. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die Befürworter von Ausbildungsprogrammen für ANA und ANP sollten sich vergegenwärtigen, dass nachhaltige Ausbildung die Bereitschaft zu gemeinsamen Operationen („Force Integration Training“) bedingt, denn die afghanischen Sicherheitskräfte werden auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, eigenständig erfolgreich zu operieren.
Auch im Norden hat die ISAF zuletzt verstärkt offensive Operationen durchgeführt. Die unter deutscher Führung stehende Operation Harekate Yolo II etwa reagierte im Herbst 2007 auf die verschlechterte Sicherheitslage in den nordwestafghanischen Provinzen Faryab und Badghis. Dort hatten kriminelle Gruppierungen, die mit den Taliban kooperierten oder durch sie geführt wurden, weite Teile der beiden Provinzen unter ihre Kontrolle gebracht. Wiederholte Angriffe auf Polizeiposten führten dazu, dass die Vertreter der afghanischen Regierung aus der Region verdrängt wurden, mittels Erpressung und offener Gewalt ein Schattenregime der Taliban geschaffen wurde und weitere Infiltrationsversuche in den Norden an der Tagesordnung waren.
Die Operation zielte kurzfristig darauf ab, die Region militärisch wieder unter Kontrolle zu bringen und der Bevölkerung zu demonstrieren, dass die afghanische Regierung und ISAF in der Lage sind, ihre Sicherheit zu gewährleisten. Harekate Yolo II basierte auf einem gleich gewichteten Einsatz von militärischen wie zivilen Mitteln und war konzeptionell auf mehrere Monate angelegt. Durch den offensiven Einsatz militärischer Gewalt – insbesondere der norwegischen Quick Reaction Force (QRF) des Regionalkommandos Nord – konnten die in der Region präsenten Aufstandsgruppen schnell und entscheidend getroffen werden. Dieser militärische Erfolg ermöglichte es der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), eine positive Sicherheitsbewertung für die Region abzugeben und Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zu ermuntern, in die bislang vernachlässigten Provinzen zurückzukehren. Ihren erfolgreichen Abschluss wird die Operation Harekate Yolo II allerdings erst dann finden können, wenn Wiederaufbau und Entwicklungsprojekte der zivilen Seite im Frühjahr dieses Jahres, wie angekündigt, starten.5
Langfristiges Ziel von Harekate Yolo II war es, einen regionalen Schwerpunkt der Sicherheit zu schaffen, in dem zukünftig, militärisch abgesichert, konzertiert Aufbauhilfe geleistet und sichtbar gemacht werden kann. Aus-gehend von diesem Schwerpunkt sollen dann langfristig Stabilitätsfortschritte erzielt werden.6 Eine erste Lehre aus dieser Operation ist, dass ein erfolgreich abgestimmter, effektiver Einsatz ziviler und militärischer Mittel von entscheidender Bedeutung für die Operationsführung der NATO bei Counterinsurgency-Operationen ist. Auf die Herstellung militärischer Kontrolle müssen direkt zivil-militärische Wiederaufbauprojekte folgen, idealerweise durch so genannte „Quick Impact Projects“, die schnelle Ergebnisse bringen. Zweitens verdeutlicht Harekate Yolo II, dass die Auswirkungen derartiger Operationen erst langfristig bewertet werden können. Drittens zeigen Operationen wie Harekate Yolo II die Lücke zwischen der Streitkräfteplanung der NATO und den realen militärischen Erfordernissen der ISAF-Operation 2008. Großverbände wie die NATO Response Force (NRF) sind unter den Bedingungen einer Operation wie in Afghanistan militärisch nur von begrenztem Wert. Was im Rahmen von ISAF benötigt wird, sind flexible, als Manöverelemente einsetzbare, hochmobile und dabei kampfstarke Eingreifreserven bis Bataillonsstärke (wie die QRF), Kräfte für Militär- und Polizeiausbildung sowie ziviles Personal für politische Beratungsleistung und Wiederaufbauhilfe.
Die Debatte vor Bukarest
In den westlichen Hauptstädten wird die Frage der Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Bündnisses in Afghanistan politisch debattiert. Tatsächlich braucht die ISAF, um erfolgreich sein zu können, mehr militärische und zivile Ressourcen. Auch das Nebeneinander der verschiedenen Missionen von OEF und ISAF muss überdacht werden. Die sukzessive Eingliederung der unter OEF-Mandat durchgeführten Aufgaben unter das Oberkommando der ISAF sollte angestrebt werden, um die Komplexität der Operationsführung zu reduzieren und Kräfte zusammenzuführen. Schließlich braucht das Bündnis eine Debatte darüber, dass in Afghanistan Stabilisierungsansätze, die weitgehend auf möglichst unparteiliche Präsenz und flankierende Aufbaumaßnahmen vertrauen, konzeptionell deutlich zu kurz greifen und das Leben der eingesetzten Soldaten gefährden. Die NATO ist in Afghanistan Konfliktpartei. Diese Problematik ist insbesondere in Deutschland bislang nicht ausreichend thematisiert worden.7
Deutschland wird mit der Bereitschaft, die QRF von Norwegen zu übernehmen, seiner Verantwortung als eine Führungsnation der ISAF-Mission gerecht. Damit entsendet die Bundesregierung erstmals einen Gefechtsverband nach Afghanistan, der nach jetziger Mandatslage im Rahmen der Nothilfe für Kampfeinsätze im ganzen Land eingesetzt werden könnte. Die deutsche Beteiligung an Kampfeinsätzen ist im Bündnis zu einer politischen Frage von hohem Symbolgehalt geworden, weshalb die Bundesregierung sich diesen Forderungen nur schwer wird entziehen können. Es droht der weitere Verlust politischen Einflusses im Bündnis. Deutschland hat in der Frage des Afghanistan-Einsatzes zu lange seine Positionen durch innenpolitische Überlegungen leiten lassen und kann in Bereichen, in denen es in Afghanistan Führungsverantwortung übernommen hat – wie zum Beispiel bei der Polizeiausbildung – zu wenig Erfolge vorweisen, als dass es der jetzigen Debatte um die Bereitschaft zur Beteiligung an Kampfeinsätzen insbesondere im Süden Afghanistans unbeschadet hätte ausweichen können.
Unter operativen Gesichtspunkten ist aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage auch im Norden eine Verlegung deutscher Truppen vom Norden in den Süden derzeit aber keine Option, auch wenn dies im Bündnis gefordert wird. Eine Entsendung zusätzlicher Kampftruppen würde die Bundeswehr in ihrer momentanen Struktur militärisch überfordern.8 Die in diesem Fall erforderlichen Aufklärungs-, Führungs- und Transportkapazitäten sowie Unterstützungskräfte, um einen solchen Verband einsetzbar und über einen relevanten Zeitraum auch durchhaltefähig zur Verfügung stellen zu können, sind bereits jetzt innerhalb der Bundeswehr Mangelware. Das macht auch die Bereitstellung von relevanten Kampfunterstützungsmitteln für den Süden als Option nahezu unmöglich.
Die zuletzt nach Pressemeldungen im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz seitens der Bundesregierung angedeuteten Überlegungen, zusätzlich zur Übernahme der QRF das deutsche ISAF-Kontingent signifikant aufzustocken, ein längerfristiges Bundestagsmandat für ISAF zu verabschieden, einer Ausweitung des Verantwortungsbereichs des Regionalkommandos Nord auf die westliche Provinz Badghis und benachbarte Distrikte der Provinz Ghowr zuzustimmen und Kampfeinsätze im Rahmen der Nothilfe auch politisch nachhaltig zu unterstützen, sind jedoch sowohl unter operativen als auch strategischen und militärpolitischen Gesichtspunkten sinnvoll.9
Erstens ist eine verstärkte Truppenpräsenz im Regionalkommando Nord dringend geboten. Dänemark und Tschechien haben dort in den letzten Monaten Truppen abgezogen oder in den Süden verlegt, die ersetzt werden müssen. Für Militär- und Polizeiausbildung (Feldjäger) werden wesentlich mehr Kräfte gebraucht, und der Bedarf an operativ beweglichen Eingreifreserven wird in den kommenden Monaten auch im Norden – mindestens in den Provinzen Faryab, Kunduz und Baghlan – eher zu- als abnehmen. Zweitens könnte mit Hilfe eines längerfristig geltenden Mandats die Frage der Mandatsverlängerung für den ISAF-Einsatz aus dem Bundestagswahlkampf herausgehalten werden. Unabhängig davon stellt sich ohnehin die Frage, inwieweit die Befristung der bisherigen Mandate auf ein Jahr sinnvoll ist. Längerfristige Mandate würden den Bundestag in die Lage versetzen, in den turnusmäßigen Mandatsdebatten strukturelle Entwicklungstrends bei den Einsätzen über längere Zeiträume hinweg zu bewerten, zu debattieren und hieraus Konsequenzen abzuleiten. Der relativ überschaubare Zeitraum von bis zu einem Jahr verhindert das bereits im Ansatz. Drittens würde eine Ausweitung des Verantwortungsbereichs des Regionalkommandos Nord um die Provinz Badghis und Teile von Ghowr der operativen Einsatzrealität (siehe Harekate Yolo II) entsprechen. Zudem ist das von Italien geführte Regionalkommando West mit der militärischen Kontrolle dieser Region seit längerem überfordert. Viertens entspräche die politische Bereitschaft zur kurzfristigen Entsendung von Eingreifreserven zu Einsätzen in ganz Afghanistan lediglich dem bestehenden ISAF-Mandat und ist auch bündnispolitisch geboten.
ISAF ist aber eine Counterinsurgency-Operation, die allein mit militärischen Mitteln nicht zum Erfolg führt. Zusätzlich wird jetzt ein umsetzbares Polizeiausbildungskonzept dringend benötigt, das den kurzfristigen Ausbau der Polizei ermöglicht und die örtlichen Bedingungen berücksichtigt. Außerdem muss mehr ziviles Personal für politische Beratung und Wiederaufbauhilfe bereitgestellt werden. Die NATO verfügt jedoch über keine eigenen zivil-militärischen Fähigkeiten, und Versuche einer stärkeren Verzahnung mit anderen wichtigen in Afghanistan tätigen Akteuren wie den UN und der EU sind bislang wenig erfolgreich gewesen. Das Aufgabenspektrum des Bündnisses hat sich im Zuge des ISAF-Einsatzes deutlich erweitert, doch die Entwicklung von ausreichenden Instrumenten für diese neuen Aufgaben fehlt bisher.
Auch die Bundesregierung sieht sich mit einem entsprechenden Missverhältnis zwischen zur Verfügung stehenden Instrumenten und den Herausforderungen in Auslandseinsätzen konfrontiert. Es besteht politisch Konsens darüber, dass das Konzept der vernetzten Sicherheit, das die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Dimensionen von Sicherheit und Wiederaufbau gleich gewichtet und einen Schwerpunkt bei zivil-militärischer Aufbauarbeit setzt, der Weg zu nachhaltigem Erfolg bei Auslandseinsätzen ist. Allerdings wird im Zuge des Afghanistan-Einsatzes immer deutlicher, dass dies innerhalb der Bundesregierung zwar so gesehen wird, hieraus allerdings keine konkreten Maßnahmen abgeleitet werden. Die bislang unbeantwortete Frage ist, wie sich „vernetzte Sicherheit“ in administrative Politik übersetzen ließe. Das reale Nebeneinander von Auswärtigem Amt, Entwicklungs-, Verteidigungs- und Innenministerium im Auslandseinsatz tritt angesichts der Herausforderungen in Afghanistan immer deutlicher zu Tage. Eine von der Führung des Verteidigungsministeriums mit einer Analyse der Organisation und Befehlsstruktur der Bundeswehr beauftragte Arbeitsgruppe unter Vorsitz des ehemaligen ISAF-Oberbefehlshabers Norbert van Heyst kam zu deutlichen Ergebnissen: Es mangelt an strategischer, ressortübergreifender Planung für die Auslandseinsätze und an Abstimmung und Synergien zwischen den Ressorts in Fragen des Krisenmanagements. Kontinuierliche Reibungsverluste sind das Resultat. Integrierte Abläufe und Strukturen bleiben eine Idealvorstellung konzeptioneller Planer. Der administrative Apparat der Bundesregierung steht der Umsetzung einer Sicherheitspolitik mit einer starken integrierten zivil-militärischen Komponente bei Auslandseinsätzen entgegen – die eingesetzten Ressourcen werden nur unzureichend zur Wirkung gebracht.
Darüber hinaus ignorieren die von der Bundesregierung erwogenen Maßnahmen zur Ausweitung des deutschen ISAF-Engagements und die im Bündnis intensiv thematisierten Bruchstellen der Bereitschaft zur Teilung von Lasten und Risiken die zentrale Problematik des NATO-Einsatzes am Hindukusch: Die strategischen Ziele sind mittlerweile nur noch undeutlich zu erkennen. Die wichtigste Herausforderung für die Einsatzführung besteht darin, die zur Verfügung gestellten Ressourcen auf der Grundlage einer Strategie einzusetzen, die innerhalb der Allianz konsensfähig ist. Das ist das Thema für den Gipfel in Bukarest.
Dr. TIMO NOETZEL, geb. 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
- 1Vgl. Stephan Löwenstein: Im Notfall in ganz Afghanistan, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 5.2.2008.
- 2Vgl. Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE), NATO OPLAN 10302 (Rev.1), Mons 2005, S. 1,4.
- 3Stephen Fidler und Hugh Williamson: NATO Chief fears split on Afghan forces, Financial Times, 2.2.2008.
- 4Vgl. David W. Barno: Fighting „The Other War“. Counterinsurgency Strategy in Afghanistan, 2003–2005, Military Review, September/Oktober 2007, S. 32–44.
- 5Vgl. Timo Noetzel und Benjamin Schreer: Strategien zur Aufstandsbekämpfung. Neue Ansätze für die ISAF-Mission, SWP-Aktuell 3, Januar 2008.
- 6Zur Zielsetzung derartiger Operationen vgl. auch Greg Mills: Calibrating Ink Spots. Filling Afghanistan’s Ungoverned Spaces, RUSI-Journal, August 2006, S. 16–25.
- 7Vgl. „Ein bisschen Verdummung der Wahlbürger“, Interview mit Klaus Naumann im Deutschlandfunk vom 2.2.2008.
- 8Vgl. „Kujat dringt auf bessere Ausrüstung der Bundeswehr“, Interview mit Harald Kujat im Deutschlandfunk vom 7.2.2008.
- 9Konstantin von Hammerstein und Alexander Szandar: Vor dem Showdown, Der Spiegel, 11.2.2008.
Internationale Politik 3, März 2008, S. 25 - 32