IP

01. Sep 2007

Flüchten oder Standhalten

Wer den Abzug aus Afghanistan fordert, muss die Konsequenzen benennen

Im Vorfeld der Bundestagsdebatte über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes werden Stimmen laut, die einen schnellen Abzug deutscher Truppen fordern. Braucht Deutschland eine Exit-Strategie für Afghanistan? Ist der Rückzug aus der Operation Enduring Freedom (OEF) sinnvoll? Was fehlt, ist eine klare Strategie des Einsatzes.

Die Forderungen nach einer Exit-Strategie erwachsen aus dem Eindruck, dass der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen sei. Als Bestandteil von NATO und Koalitionsstreitkräften sieht sich die Bundeswehr mit einem Gegner konfrontiert, dem sie zwar technologisch überlegen ist, der aber ihre Schwachpunkte in Fragen der politischen und militärischen Führung geschickt auszunutzen versteht: die Angst vor dem Verlust eigener Soldaten und vor der unabsichtlichen Tötung von Zivilisten. Die Befürchtung ist, dass die „postheroische“1 deutsche Gesellschaft nicht die erforderliche Geduld für einen langfristigen Einsatz aufbringt. Zudem ist die Politik mit dem Dilemma konfrontiert, dass das den Regeln des humanitären Völkerrechts unterworfene eigene Militär nicht die erforderliche Schonungslosigkeit aufzubringen vermag, um einem Gegner gewachsen zu sein, der sich selbst nicht an diese Regeln hält.2 Aus diesem Grund sei der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen. Diese Argumentation verkennt aber, dass der mangelnde Erfolg des Einsatzes in Afghanistan nicht primär in der Natur des Gegners und dessen Taktik begründet liegt.

Zum Scheitern verurteilt?

Der mangelnde Erfolg ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass die Koalitionstruppen unter deutscher Beteiligung die Operation Enduring Freedom begannen, ohne eine belastungsfähige, zivile und militärische Faktoren gleichermaßen einbeziehende Afghanistan-Strategie entwickelt zu haben. Aus der Kombination von anfänglichen militärischen Erfolgen und mangelnden zivilen Wiederaufbaumaßnahmen resultierte ein Sicherheitsvakuum. Vor diesem Hintergrund sieht sich die Bundeswehr heute mit einem Gegner konfrontiert, der alles tut, um die Schwächen von NATO- und Koalitionsstreitkräften auszunutzen – und der es zudem versteht, die deutschen Medien für seine Zwecke zu instrumentalisieren, wie die Geiselnahmen und Ermordungen deutscher Staatsbürger zeigen. Die Taliban bedienen sich Guerilla-Taktiken, indem sie sich nicht offen zu erkennen geben, sondern sich in der Zivilbevölkerung verstecken und aus deren Schutz heraus operieren. Das sichert ihnen nicht nur den taktischen Vorteil des Überraschungseffekts, sondern macht es zugleich für NATO und Koalition schwierig, militärisch zu reagieren, ohne dabei das Leben von Zivilisten zu riskieren. Der Tod von Zivilisten wiederum ist ein zentraler Bestandteil der Strategie der Taliban, um die Legitimität und die Glaubwürdigkeit der westlichen Koalition in den Augen der afghanischen Bevölkerung sowie der internationalen Öffentlichkeit zu untergraben.3 Hierin haben sich die Taliban als sehr erfolgreich erwiesen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass der Einsatz der Bundeswehr zum Scheitern verurteilt sein muss, sobald sie sich mit einem „asymmetrisch“ operierenden Gegner konfrontiert sieht. Die Frage ist vielmehr, welche Strategie gegen einen solchen Gegner die richtige ist. Strategie ist die Kunst, die eigenen militärischen Kapazitäten in einer Weise gegen den jeweiligen Gegner einzusetzen, die es erlaubt – oder es zumindest wahrscheinlicher macht – die selbst gesetzten politischen Ziele zu erreichen.4 Der technologische Fortschritt, die ideologische Grundhaltung und die politische Struktur westlicher Demokratien sind Rahmenbedingungen, die strategisches Denken zur Kenntnis nehmen und innerhalb derer es operieren muss. Die Bundeswehr ist einem „asymmetrisch“ operierenden Gegner aber nicht per Definition unterlegen. Eine solche fatalistische Annahme würde nicht nur die deutschen Versäumnisse bei der Entwicklung einer gemeinsamen westlichen Strategie für Afghanistan entschuldigen, sie ist auch gefährlich, da sie jede zukünftige Strategiedebatte schon im Keim erstickt.

Keine Strategie

Das politische Ziel der westlichen Koalition bestand von Beginn der Operation am 7. Oktober 2001 an darin, das Al-Qaida-Netzwerk, das in Afghanistan einen Rückzugsraum gefunden hatte, zu bekämpfen. Darüber hinaus galt es, die Taliban zu entmachten und in Afghanistan stabile staatliche Strukturen zu etablieren, die verhindern sollten, dass das Land erneut in die Hände terroristischer Bewegungen fällt. In der Konsequenz führte das dazu, dass die Koalition theoretisch gleichzeitig drei Missionen hätte durchführen müssen: erstens, die Terroristen und die mit ihnen verbündeten Taliban militärisch zu bekämpfen, zweitens im Rahmen einer Stabilisierungsmission für Sicherheit und Wiederaufbau in Afghanistan zu sorgen und drittens kurzfristig humanitäre Nothilfe für die afghanische Zivilbevölkerung zu organisieren.

Im Rückblick bestand das Hauptproblem darin, dass die Koalitionstruppen sich auf Terrorismusbekämpfung und humanitäre Nothilfe konzentrierten, die Aufgabe der Stabilisierung und des Wiederaufbaus aber vollkommen vernachlässigt wurde. Diese kam erst mit der Bonner Konferenz im Dezember 2001 auf die Agenda der westlichen Planer – also erst zwei Monate, nachdem der eigentliche Militäreinsatz begonnen hatte. Die Afghanistan-Strategie des Westens hätte aber von vornherein zivile und militärische Komponenten enthalten müssen. Dieser Mangel führte dazu, dass nach dem spektakulären Anfangssieg der US-geführten OEF gegen Al-Qaida und Taliban das gewonnene Terrain nicht gehalten werden konnte. Es entstand überall dort, wo die westliche Koalition nicht genügend Truppenpräsenz zeigen konnte, ein Sicherheitsvakuum, in dem sich die Taliban in kleineren Gruppen wieder sammeln bzw. konkurrierende Warlords um die Machtverteilung auf lokaler Ebene ringen konnten.

Fatal war zudem, dass das Mandat der NATO-geführten International Security Assistance Force (ISAF)-Truppen anfänglich auf die Hauptstadt Kabul beschränkt war. Die westliche Vorgehensweise beruhte auf der Annahme, dass die afghanische Regierung von Kabul aus bald in der Lage sein würde, ihre Autorität auf das gesamte Land auszudehnen. Diese Annahme zeugt von einem nur schwer nachvollziehbaren Maß an Optimismus auf Seiten der westlichen Planer, zieht man in Betracht, dass Afghanistan als ein von jahrzehntelangen Kriegen zerrütteter „failed state“ galt, der keine funktionierenden staatlichen Strukturen aufwies.

Das Versäumnis, eine Strategie zu formulieren, die die Faktoren Sicherheit und Wiederaufbau gleichermaßen mit einbezieht, konnte auch nicht durch den zögerlichen, unkoordinierten und unterfinanzierten Versuch der Sicherheitssektorreform wettgemacht werden. Insbesondere die von Deutschland zu verantwortende Ausbildung afghanischer Polizeikräfte bleibt bis dato deutlich hinter den von der Koalition gesetzten Zielen zurück. Deutschland hat den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan in den vergangenen Jahren vernachlässigt. Auch die Aufstellung von zwei deutschen Provincial Reconstruction Teams (PRTs) kann diesen Eindruck nicht verwischen.5 Mittels der von ISAF und OEF geführten PRTs ist es insgesamt gelungen, in den jeweiligen Regionen eine Sicherheitslage zu schaffen, die es zivilen Organisationen ermöglicht, Wirkung zu entfalten. Allerdings erstreckt sich die Reichweite der PRTs noch lange nicht über das gesamte Gebiet Afghanistans. In der Konsequenz bereitete das Fehlen von ausreichenden Stabilisierungs- und Wiederaufbauanstrengungen einen Nährboden für den seit 2005 wieder erstarkenden Widerstand von Taliban und Al-Qaida im Süden und Osten Afghanistans.

Konsequenzen einer Abzugsdebatte

Angesichts dieser Entwicklung einen vorzeitigen Abzug deutscher Truppen zu fordern, heißt zu erklären, dass sich die NATO als stärkstes Militärbündnis der Welt mit der Bekämpfung eines Aufstands durch irreguläre -Kräfte überfordert sieht. Der Schaden, den die Atlantische Allianz hierdurch nehmen würde, wäre unabsehbar. Zudem würde in Kauf genommen, dass Afghanistan wieder zu einem Rekrutierungs- und Rückzugsraum für Terroristen werden könnte. Die afghanisch-pakistanische Grenzregion bildet schon heute wieder die regionale Basis des internationalen Terrorismus. Abzuziehen hieße, den Taliban und Al-Qaida das Feld zu überlassen. Die Erfahrungen, die Großbritannien in den sechziger Jahren in Aden (Jemen) gemacht hat, zeigen zudem, dass die Ankündigung eines Truppenabzugs das sichere Scheitern einer Counterinsurgency-Operation impliziert.6 Ein angekündigter Abzug zwingt die lokale Zivilbevölkerung, ihre Loyalitäten neu zu justieren, denn sie muss überleben, wenn die ausländischen Truppen das Land verlassen. Die Verkündigung eines Abzugsdatums wäre gleichbedeutend mit dem Verlust jeglicher Loyalität der Zivilbevölkerung gegenüber den Truppenverbänden.

Deutschland ist der drittgrößte Truppensteller der ISAF. Unweigerlich wird der deutschen Debatte um die Fortführung des Einsatzes in Afghanistan von den Verbündeten große Bedeutung beigemessen. Es wäre fatal, wenn die jetzt stattfindende Diskussion um eine Verlängerung der Bundestagsmandate mit einem politisch in Aussicht gestellten absehbaren Ende des Einsatzes verknüpft würde. Eine solche Debatte könnte einen Dominoeffekt innerhalb der NATO-Mitgliedstaaten auslösen.

Wie weiter?

Anstatt eine Debatte über eine kurz- bis mittelfristige Beendigung der Afghanistan-Operation zu führen, sollte der Deutsche Bundestag sich auf die Frage der deutschen und westlichen Strategie für Afghanistan konzentrieren. Eine solche Strategie sollte erstens darauf ausgerichtet sein, die Gewährleistung von Sicherheit und den Wiederaufbau des Landes energisch voranzutreiben und zweitens dafür sorgen, dass die afghanisch-pakistanische Grenzregion nicht wieder zu einer stabilen Basis für Al-Qaida- Kämpfer und die mit ihnen verbündeten Taliban wird. Langfristig soll die afghanische Regierung in die Lage versetzt werden, beide Aufgaben wahrzunehmen. Mittelfristig wird die westliche Staatengemeinschaft sie dabei unterstützen müssen.

Innerhalb des Bündnisses scheint die Diskussion jedoch derzeit festgefahren: Sie konzentriert sich primär auf die Frage, welchem Aspekt der Operation Vorrang zu gewähren sei – dem Wiederaufbau oder der Gewährleistung von Sicherheit und der Bekämpfung der Taliban. In den jetzt anstehenden Debatten im Deutschen Bundestag um die Mandatsverlängerungen sollten beide Aspekte ausreichend Berücksichtigung finden, denn nur so kann die Bundesregierung ihren Einfluss auf den Strategieentwicklungsprozess im Bündnis stärken. Berlin sollte, um die Glaubwürdigkeit des eigenen Einsatzes zu unterstreichen, im Bündnis die Bereitschaft zur Verstärkung des zivilen und des militärischen Engagements signalisieren.

Beteiligung an Kampfeinsätzen

Die in der deutschen Öffentlichkeit intensiv diskutierte deutsche Beteiligung an Kampfeinsätzen ist mittlerweile zu einer politischen Frage mit hohem Symbolgehalt geworden. Eine mögliche Verlegung deutscher Verbände vom Norden in den Süden oder Osten Afghanistans macht unter militärischen Gesichtspunkten aber nur wenig Sinn, zumal dann das deutsche Kontingent im Norden militärisch entblößt wäre. Notwendig wäre im Falle einer deutschen Beteiligung also eine Entsendung zusätzlicher Truppen. Militärisch sinnvoll wäre es unter den gegebenen Umständen, dem ISAF-Oberbefehlshaber Truppenverbände direkt zu unterstellen, die dann in ganz Afghanistan eingesetzt werden könnten.

Ein zweckmäßiger deutscher Beitrag bestünde aus einem mit ausreichenden Aufklärungs-, Führungs- und Transportmitteln ausgestatteten und zeitlich zumindest mittelfristig durchhaltefähigen Gefechtsverband der Division Spezielle Operationen (DSO). Die DSO verfügt als einzige Division des Heeres über eigene Sanitäts- und Logistikkräfte und kann somit weitgehend eigenständig und unabhängig von anderen Einheiten operieren. Eine politische Entscheidung hierzu würde in der Konsequenz aber auch die „Bewährungsprobe“ für das deutsche Heer konstituieren, die der Inspekteur des Heeres Generalleutnant Hans-Otto Budde perspektivisch bereits vorausgesehen hat.7

Beteiligung an der Militärausbildung

Ein stärkeres deutsches Engagement in der Ausbildung von Einheiten der afghanischen Nationalarmee wird derzeit intensiv debattiert. Gleichzeitig wird aber auch eine Beendigung der deutschen Beteiligung an OEF thematisiert. Dies ist insofern problematisch, als das von der OEF geführte Combined Security Transition Command Afghanistan den zentralen Pfeiler der Ausbildung des afghanischen Militärs beinhaltet. Militärausbildung findet primär im Rahmen von OEF statt. Eine Beendigung der deutschen Beteiligung an OEF wäre also, was die Frage der Priorisierung von Militärausbildung betrifft, kontraproduktiv. Davon abgesehen wäre eine Verstärkung der deutschen Beteiligung an der Militärausbildung zwar sinnvoll, nur hat die Bundeswehr hierfür eigentlich keine Fähigkeiten. Die deutschen Soldaten der bereits bestehenden Operational Monitoring and Liaison Teams (OMLT) der NATO sind durchweg Freiwillige und hierfür eigentlich nicht ausgebildet. Die Bundesregierung wird hier nur sehr begrenzt beitragsfähig sein.

Vernetzung ISAF–zivile Akteure

Es ist mittlerweile politischer Konsens, dass die ISAF dringend mit den zivilen Akteuren der westlichen Staatengemeinschaft besser vernetzt werden muss. Keine Übereinstimmung besteht allerdings in der Frage, wie das geschehen sollte. Innerhalb der Bundesregierung wird immer wieder die Forderung nach einer verstärkten Koordination auf nationaler Ebene erhoben. Eine sinnvolle Option wäre die Einrichtung einer institutionalisierten Ablauforganisation für die ressortübergreifende Zusammenarbeit in Fragen der strategischen Planung und operativen Durchführung des Afghanistan-Einsatzes. Diese sollte durch einen hochrangigen Regierungsvertreter geleitet werden, und in ihr sollten alle mit dem Einsatz in Afghanistan befassten Bundesressorts und Ämter vertreten sein.

Die zentrale Bedingung für eine nachhaltige Afghanistan-Strategie des Westens besteht darin, dass sich die an der ISAF beteiligten Nationen aufeinander zubewegen. Eine glaubwürdige Strategie verlangt nach einem Ansatz, der die Faktoren Sicherheit und Aufbau gleichermaßen einbezieht. Wiederaufbau ohne Sicherheit ist Geldverschwendung, denn wenn die Resultate des Wiederaufbaus nicht geschützt werden, werden sie bei der nächsten Gelegenheit von denjenigen zerstört, die kein Interesse an einer nachhaltigen Stabilisierung haben. Hierzu muss auch Deutschland seinen Beitrag leisten. Eine Exit-Strategie ist dagegen nicht nur die falsche Strategie, sie ist vielmehr das Ende jeder Strategie für Afghanistan.

Dr. TIMO NOETZEL, geb. 1977, ist Transatlantic Post Doc Fellow bei der SWP/Berlin, Chatham House/ London und RAND Corporation/ Washington D.C.

Dr. des. SIBYLLE SCHEIPERS, geb. 1974, ist Director of Studies des Changing Character of War-Programms an der Universität Oxford.

  • 1Herfried Münkler: Elemente einer neuen Sicherheitsarchitektur, Internationale Politik, Mai 2007, S. 6–14.
  • 2Vgl. Josef Joffe: Steine gegen Raketen, DIE ZEIT online 1.8.2007, www.zeit.de/2007/31/Grenzen-Intervention.
  • 3Vgl. Eric V. Larson und Bogdan Savych: Misfortunes of War, Press and Public Reactions to Civilian Deaths in Wartime, Santa Monica, CA: RAND, 2006.
  • 4Vgl. Hew Strachan: Making Strategy: Civil-Military Relations after Iraq’, Survival, 3/2006, S. 59–82, ders.: The Lost Meaning of Strategy, Survival, 2/2005, S. 33–45.
  • 5Siehe dazu ausführlicher Peter Viggo Jakobsen: PRTs in Afghanistan: Successful But Not Sufficient, Danish Institute for International Studies, Copenhagen 2005, und Mark Sedra: Civil-Military Relations in Afghanistan: The Provincial Reconstruction Team Debate, Asia Pacific Research 2005, www.asiapacificresearch.ca/caprn/afghan_project/m_sedra.pdf.
  • 6Vgl. Jonathan Walker: Aden Insurgency: The Savage War in South Arabia 1962–1967, Staplehurst 2005.
  • 7Hans-Otto Budde: Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, 28.2.2007, Zusammenfassung unter www.dgap.org
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2007, S. 120 - 125.

Teilen

Mehr von den Autoren

Wolfgang Ischinger
Wolfgang Schneiderhan
Philipp Gallhöfer
et al.

Smart Defence