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04. Jan. 2008

Ende einer Illusion

Die Debatte in Deutschland macht einen großen Bogen um die Wirklichkeit

Nach dem Ende des Kalten Krieges, so hofften damals viele, würden Streitkräfte kaum noch gebraucht werden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bundeswehr ist zu einer Armee im inter-nationalen Dauereinsatz geworden. Diese Realität wird aber hierzulande beharrlich verdrängt – mit fatalen Folgen für die Auslandseinsätze selbst.

Die Bundeswehr hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Armee im Dauereinsatz entwickelt. Die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland ist jedoch überwiegend eine innenpolitische geblieben. Fragen der veränderten Einsatzwirklichkeit deutscher Streitkräfte werden politisch kaum thematisiert, obwohl der Bundeswehreinsatz in Afghanistan an einem kritischen Punkt angelangt ist. Die NATO-geführte International Security Assistance Force (ISAF) befindet sich mittlerweile in einem langwierigen Krieg gegen Aufständische. Notwendig ist jetzt vor allem eine Stärkung der strategischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung.

Die Debatte über den deutschen Einsatz im Rahmen der ISAF in Afghanistan zeigt, dass weite Teile der deutschen Politik und Öffentlichkeit einem veralteten sicherheitspolitischen Denken verhaftet geblieben sind. Mit dem Ende des Ost-West- Konflikts, so die Vorstellung, könne die „Friedensdividende“ eingefahren werden. Streitkräfte würden nur noch in stark verkleinerter Form benötigt, die Verteidigungshaushalte könnten reduziert werden. Die Bundeswehr würde keine klassischen Kriege mehr führen, sondern in erster Linie als unterstützendes Element ziviler Stabilisierungsmaßnahmen eingesetzt werden – der Bundeswehrsoldat als bewaffneter Wiederaufbauhelfer.

Die bisherigen Auslandseinsätze der Bundeswehr schienen diese Denkrichtung zu bestätigen. Somalia, die deutsche Truppenpräsenz in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, im Kongo und vor der Küste Libanons: In allen Einsätzen konnte eine Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfhandlungen – mit Ausnahme der NATO-Luftangriffe auf Serbien 1999 – vermieden werden. Die Präsenz des Militärs als stabilisierender Faktor war primär von politischer Bedeutung. Kriegführung als Aufgabe deutscher Streitkräfte schien ein Fall für die Geschichtsbücher zu sein. Allerdings war dies schon damals ein Trugschluss. Eine wirkliche „Friedensdividende“ gab es nicht.

„Counterinsurgency“– die neue Einsatzwirklichkeit in Afghanistan

Der Einsatz in Afghanistan, weithin als schwierigste Mission der Bundeswehr anerkannt, hat diese Illusion endgültig zunichte gemacht. Mehr und mehr wird der ISAF-Einsatz vom gewaltsamen Widerstand der Taliban und Al-Qaidas sowie den mit ihnen verbündeten Gruppierungen geprägt.1 Die Bundeswehr sieht sich dabei mit einer Operationsführung des Gegners konfrontiert, die in der internationalen Debatte als „insurgency“ bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass sich die Aufständischen vorzugsweise unkonventioneller militärischer Taktiken und Mittel bedienen, um die technologisch weit überlegenen westlichen Streitkräfte in einen langwierigen, politischen Abnutzungskrieg zu verwickeln und so das Ziel der Stabilisierung unmöglich zu machen.2 Am Ende dieser Logik stehen der Abzug der Streitkräfte und das Scheitern des staatlichen Wiederaufbaus.

Als indirektes Resultat aus den taktischen Erfolgen der ISAF im Verlauf des Jahres 2006 haben die Aufständischen sich mittlerweile auf weitgehend unabhängig voneinander operierende Zellen verlegt. Diese planen und organisieren vor allem im Süden und Osten Selbstmordattentate gegen ISAF-Truppen und afghanische Sicherheitskräfte. Darüber hinaus setzen sie ferngezündete unkonventionelle Sprengvorrichtungen (Improvised Explosive Devices, IED) gegen Patrouillen sowie Konvois ein und attackieren sporadisch Stützpunkte mit Raketen und Panzerfäusten. Einer direkten Konfrontation mit den ISAF-Truppen gehen sie aber nach Möglichkeit aus dem Weg.

Auch die deutschen Einsatzkontingente im Norden des Landes müssen sich auf diese neue Einsatzwirklichkeit und die Bekämpfung von Aufständischen (counter-insurgency) einstellen. Zwar zeichnet sich das primäre Einsatzgebiet deutscher Soldaten in Nordafghanistan noch durch ein im Verhältnis zum Rest des Landes vergleichsweise hohes Maß an Sicherheit aus. Allerdings verschlechtert sich die Sicherheitslage auch dort zusehends. Sie ist zwar nach wie vor nicht mit einem konventionellen Krieg vergleichbar, Frieden und Stabilität herrschen jedoch auch nicht mehr. Die sich hieraus ergebenden Implikationen sind mehr als nur semantischer Natur. Sinnvoll ist es, die veränderte Einsatzrealität deutscher Streitkräfte in Afghanistan mit dem angelsächsischen Konzept der „kleinen Kriege“ (small wars) zu beschreiben.3 Denn es beinhaltet, dass auch in Konflikten von niedriger Gewaltintensität die Gesetze und Schrecken kriegerischer Handlungen herrschen. Die Gefahr ist groß, dass deutsche Soldaten getötet werden beziehungsweise gezwungen sind, selbst zu töten.

Diese Erkenntnis hat erhebliche Auswirkungen für die deutsche Debatte über die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Würde hierzulande in der politischen Debatte die Gewaltdimension des Konflikts in Afghanistan endlich zur Kenntnis genommen und würde die Politik die Realität und die Herausforderungen des Einsatzes ehrlicher beschreiben, könnte vermutlich auch konsequenter über deutsche Interessen im Auslandseinsatz und die deutsche Rolle im Rahmen des ISAF-Einsatzes diskutiert werden. Dies ist dringend erforderlich, zumal es den Aufständischen in den vergangenen zwei Jahren gelungen ist, weite Teile afghanischen Territoriums unter ihre Kontrolle zu bringen. Unweigerlich wird diese Entwicklung tief greifende Auswirkungen auf die deutsche Operationsführung im Norden Afghanistans haben, da sich die Bundeswehr gegen gezielte Angriffe auf eigene Einheiten und die von ihr mitbetreuten zivilen Wiederaufbauprojekte zur Wehr setzen muss.

Ein mühsames Geschäft

Soll die Gesamtoperation in Afghanistan überhaupt Aussicht auf Erfolg haben, müssen sich die politische und militärische Führung in Deutschland über die Auswirkungen von Kampagnen gegen Aufständische bewusst werden. Dies ist unter politischen und militärischen Gesichtspunkten ein sehr mühsamer und ressourcenintensiver Prozess mit ungewissem Ausgang. Westliche Gesellschaften und ihre Streitkräfte sind generell nicht besonders gut darauf vorbereitet, eine solche Auseinandersetzung über einen längeren Zeitraum zu führen. Dies zeigt sich derzeit exemplarisch am Fall Afghanistan. Nicht nur fehlt es insgesamt an politischem Willen der internationalen Staatengemeinschaft, den zivilen Wiederaufbau konsequent voranzubringen. Auch ist die NATO politisch und militärisch nur unzureichend auf die Aufstandsbekämpfung ausgerichtet.4 Seit Jahren wird die ISAF-Mission durch einen eklatanten Mangel an Ausrüstung und verfügbaren Truppen behindert. Dazu kommt ein zunehmender Mangel an Risikobereitschaft bei wichtigen ISAF-Truppenstellern wie Italien, Spanien und der Türkei. Diese ziehen sich weitgehend in die Stützpunkte zurück, um eigene Verluste zu vermeiden. Insgesamt hat die Allianz große Probleme, sich auf eine gemeinsame Strategie für Afghanistan zu verständigen.5

Für die Bundeswehr kommt erschwerend hinzu, dass sie im Gegensatz zu einigen Verbündeten nicht über operative Erfahrungen in der Bekämpfung von Aufständen verfügt. So waren beispielsweise Frankreich in Algerien, Großbritannien in Nordirland und die USA in Vietnam in solche Konflikte involviert. Historisch betrachtet waren hierbei zumeist die Aufständischen erfolgreicher, halten sie doch einen entscheidenden Trumpf in der Hand: Für die Aufständischen ist der Verlust von eigenen Kräften von untergeordneter Bedeutung, und sie genießen die Unterstützung von Teilen der Bevölkerung. Die Erfahrungen der Verbündeten lehren zudem, dass die Bekämpfung von Aufständen eine sehr langwierige und zähe Angelegenheit ist und dass diese Auseinandersetzungen in der Regel nicht militärisch, sondern politisch verloren werden, wenn die Unterstützung zur Fortführung der Operation in den Heimatländern und bei der Bevölkerung im Einsatzland schwindet.6

Dies ist aus politischer Sicht vermutlich der strategische Schwachpunkt der deutschen Beteiligung an der ISAF-Operation. Weite Teile der deutschen Politik sind bereits jetzt dagegen, das militärische Engagement in Afghanistan auszuweiten. Die Erfahrungen der Verbündeten mit Operationen zur Aufstandsbekämpfung deuten aber darauf hin, dass die Bundeswehr noch auf lange Zeit als Teil der internationalen Koalition in Afghanistan stationiert bleiben und mit Verlusten rechnen muss. Ein solcher Einsatz wird jedoch für jede Bundesregierung in der Regel eher zu einer Belastung denn einer Möglichkeit zur Politikgestaltung, da kurz- und mittelfristig sichtbare Erfolge die Ausnahme bleiben. Folglich investierten auch viele Spitzenpolitiker der Regierungskoalition bisher nur ungern politisches Kapital in die Afghanistan-Mission der Bundeswehr.

Mangelnde strategische Handlungsfähigkeit

Das ist bedauerlich, wird aber erst vor dem Hintergrund der hieraus resultierenden Konsequenzen problematisch: Da die politische Lobby klein ist, wird eine nur unzureichend auf den Einsatz ausgerichtete und dafür ausgestattete Armee nach Afghanistan entsandt. Das nur schwach ausgeprägte politische Interesse kann auch nicht durch den administrativen Apparat der Bundesregierung ausgeglichen werden, da die strategische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nach wie vor begrenzt ist. Die Führungsprozesse der unterschiedlichen, mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr befassten Ressorts werden nicht konsequent zusammengebunden. So bleibt das im neuen Weißbuch der Bundesregierung geforderte Konzept der vernetzten Sicherheit ein theoretisches Konstrukt mit wenig Wirkung im Einsatz.7 Damit fehlt auch dem deutschen Drängen auf eine umfassende Strategie der NATO, welche die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Dimensionen von Sicherheit und Wiederaufbau stärker verzahnen würde, die internationale Glaubwürdigkeit. Ein solch integrierter Ansatz ist jedoch auf nationaler und internationaler Ebene der Schlüssel zu einer erfolgreichen Durchführung von komplexen Operationen wie in Afghanistan.

In Deutschland spiegeln sich auf administrativer Seite somit die Probleme der politischen Ebene wider: Die Führung des „kleinen Krieges“ am Hindukusch hat in den jeweiligen Ministerien aus innenpolitischen Gründen letztendlich nur eine nachgeordnete Priorität. Es ist dabei unrealistisch zu hoffen, dass im Rahmen der bestehenden Strukturen mit mehr Koordination, Kooperation und Kohärenz Besserung eintreten würde. Ohne eine tief greifende politische Nachsteuerung bei den institutionellen Strukturen wird das Ziel eines ganzheitlichen, ressortübergreifenden – und damit effizienteren – Ansatzes bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht umgesetzt werden können.

Reform des Verteidigungsministeriums

Soll die strategische Handlungsfähigkeit nachhaltig gestärkt werden, ist auch eine Reform der Strukturen innerhalb des Verteidigungsministeriums notwendig. Die aus den Anfängen der Bundesrepublik stammende Ministerialstruktur ist vom Prozess der Streitkräftetransformation bislang nahezu unberührt geblieben. Während die Durchführung von Auslandseinsätzen zur zentralen Aufgabe für die deutschen Streitkräfte geworden ist, tragen die Einsatzführungsstrukturen im Verteidigungsministerium dieser Entwicklung nur unzureichend Rechnung. Die derzeit im Bendlerblock stattfindende Diskussion über die Einsatzverantwortung des Generalinspekteurs und den Aufbau einer neuen, ihm zugeordneten Einsatzführungsstruktur zeigt, dass dieses Problem erkannt worden ist.8

Es geht hierbei allerdings nicht allein um die Führungsstrukturen für den Einsatz militärischer Mittel. Vielmehr ist eine erfolgreiche Umsetzung des Konzepts der vernetzten Sicherheit nur über eine Institutionalisierung entsprechender Strukturen möglich. Die Einsatzführungsstrukturen der Bundeswehr müssen auf einen integrierten Einsatz von zivilen und militärischen Mitteln ausgerichtet werden. Nur so können künftig Fehlschläge wie beispielsweise bei der von Deutschland verantworteten Polizeiausbildung in Afghanistan vermieden werden, bei der das Innenministerium alleine mit dieser Aufgabe überfordert zu sein scheint.9 Zielführender wäre es in diesem Fall, das mit der Führung der Polizeimission beauftragte Personal des Innenministeriums in die Einsatzführungsstrukturen des Verteidigungsministeriums einzubinden und so eine integrierte Führungsstruktur aufzubauen.

Generell sollte darüber nachgedacht werden, das Personal der mit Auslandseinsätzen befassten zivilen Ministerien für die Dauer der Einsätze in die Strukturen des Verteidigungsministeriums zu integrieren. Übergeordnetes Ziel muss es sein, die Einsatzführungsstrukturen der Bundesregierung auf das veränderte Konfliktmuster auszurichten. Erfolg in Auslandseinsätzen definiert sich heute letztlich weniger über den Einsatz militärischer Mittel als über die Einsatzwirksamkeit aller eingesetzten Ressourcen.10

Politischer Einfluss, militärische Glaubwürdigkeit

Weder die deutsche Politik noch die Bundeswehr sind momentan auf einen Einsatz wie in Afghanistan ausreichend vorbereitet. Politisch ist ein Rückzug aus Afghanistan allerdings keine wirkliche Option. Will die Bundesregierung ihrem internationalen Gestaltungswillen Glaubwürdigkeit verleihen, muss sie für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan größere politische, finanzielle und materielle Ressourcen bereitstellen und den politischen Willen aufbringen, Soldaten in risikoreiche Einsätze zu schicken.

Die in den vergangenen Jahren als Resultat von restriktiven Einsatzregeln zu beobachtende taktisch-operative Beschneidung der Bundeswehr wird einer Einsatzpraxis weichen müssen, die den Kommandeuren vor Ort größere Entscheidungsspielräume ermöglicht.11 Andernfalls unterminiert Deutschland seinen internationalen politischen Einfluss und seine militärische Glaubwürdigkeit in der NATO.12 Die Ressourcenfrage kann dabei zu einem Teufelskreis für die Politik werden: Ein Scheitern der Mission wird allgemein als inakzeptabel anerkannt, warum aber mehr Ressourcen für einen unpopulären Einsatz aufwenden, wenn die Aussichten auf Erfolg gering sind? Die für die deutsche Politik unbefriedigende, gleichwohl richtige Antwort ist, dass ohne einen höheren Aufwand ein Scheitern am Hindukusch programmiert ist.

Dr. TIMO NOETZEL, geb. 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

BENJAMIN SCHREER, geb. 1973, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der SWP.
 

  • 1Vgl. Afghanistan Conflict, Strategic Comments, The International Institute for Strategic Studies, Nr. 8, Oktober 2007.
  • 2David Galula: Counterinsurgency Warfare. Theory and Practice, Westport 2006, S. 4; David Petraeus: Learning Counterinsurgency. Observations from Soldiering in Iraq, Military Review, Januar/Februar 2006, S. 2–12.
  • 3Zum Konzept der „kleinen Kriege“ siehe C.E. Calwell/ R. Douglas Porch: Small Wars: Their Principles and Practice, Lincoln, NE, 1996.
  • 4Vgl. Sean Kay und Sahar Khan: NATO and Counter-Insurgency: Strategic Liability or Tactical Asset?, Contemporary Security Policy, April 2007, S. 163–181.
  • 5Vgl. Timo Noetzel und Sibylle Scheipers: Die Nato in Afghanistan. Das Bündnis und die Grenzen seiner Strategiefähigkeit, SWP-Aktuell 44, August 2007.
  • 6Gil Merom: How Democracies Loose Small Wars: State, Society, and the Failures of France in -Algeria, Israel in Lebanon, and the United States in Vietnam, New York 2003.
  • 7Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin, Oktober 2006, S. 25.
  • 8Zum Modell eines Einsatzstabs siehe auch Timo Noetzel und Benjamin Schreer: Spezialkräfte der Bundeswehr. Strukturerfordernisse für den Auslandseinsatz, SWP-Studie 2007/S26, September 2007.
  • 9Vgl. Deutschland ist gescheitert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.1.2007.
  • 10David S. Cloud: Gates Says Military Faces More Unconventional Wars, New York Times, 11.10.2007, S. A 20.
  • 11Vgl. Lothar Rühl: Nicht die Heilsarmee, Internationale Politik, März 2007, S. 106–111.
  • 12Vgl. Olivia Ward: Afghan coalition an unequal burden, The Toronto Star, 22.10.2007.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2008, S. 96 - 101

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