Wann wird denn Deutschland endlich „normal“?
Als auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 der Bundespräsident, der Außenminister und die Verteidigungsministerin Reden hielten, die heute als Wendepunkt der deutschen Sicherheitspolitik gelten, keimte in Frankreich Hoffnung auf: Würde die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik nun endlich „normal“ werden?
Viele sahen die vielzitierten Reden als Beginn eines Prozesses, an dessen Ende Deutschland seine „Kultur der Zurückhaltung“ überwunden haben würde und sich als vollwertiger sicherheitspolitischer Akteur etabliert hätte. Für manche war dabei auch implizit klar, dass eine derartige Normalisierung der strategischen Kultur Berlins automatisch größere Konvergenz mit französischen Positionen bedeuten würde: Deutschland brauche zwar immer noch etwas Zeit, aber dann bekäme Frankreich endlich den langersehnten Partner, der seine Ambitionen teilt und tatkräftig unterstützt.
Vier Jahre später ist klar: Dem ist nicht so. Dies löst keine großen Debatten aus, eher Resignation – und man sieht sich nach Alternativen zu Deutschland um, die schwer zu finden sind (ein Beispiel wäre Estland, das aufgrund seiner geringen Größe Frankreich trotz aller Fähigkeiten nur bedingt unterstützen kann). Natürlich ist das nicht die offizielle Version, und in den Erklärungen anlässlich des deutsch-französischen Ministerrats und anderer wichtiger bilateraler Ereignisse ist stets von der engen und hervorragenden Zusammenarbeit die Rede. Dennoch dürften – allem Verständnis für historisch bedingte deutsche Besonderheiten zum Trotz – die fast überall vorherrschenden Gefühle Frust und Ungeduld sein, wie jüngst an den Beispielen PESCO und Europäische Interventionsinitiative wieder deutlich wurde. In beiden Fällen hatte Deutschland wenig Interesse daran, dafür zu sorgen, dass Europa schnell und schlagkräftig militärisch eingreifen kann.
Kurz: Frankreich fühlt sich von Deutschland in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik alleingelassen. Und das trotz immenser Herausforderungen im Süden. Während der Kampf gegen Terrorismus und Instabilität vor allem in Afrika für Paris schon vor den Anschlägen vom November 2015 oberste Priorität hatte, gilt das so für Berlin nicht. Zwar ist auch Deutschland im Rahmen von UN- und EU-Einsätzen in Mali präsent. Hinter vorgehaltener Hand beklagt man in Paris jedoch des Öfteren, allein die Hauptlast zur Stabilisierung der Sahel-Zone zu tragen – was vielen als die mit Abstand größte Herausforderung gilt, vor der Europa steht. Ähnlich verlief die Debatte 2011 zu Libyen, als sich die Bundesrepublik bei der entscheidenden Resolution im UN-Sicherheitsrat enthielt.
Pazifismus – oder Naivität?
Der Vorwurf, Deutschland engagiere sich zu wenig, ist folglich ein wiederkehrendes Motiv. Die deutsche Zurückhaltung bei militärischen Auslandseinsätzen wird dabei nicht als Ausdruck von Pazifismus gesehen, sondern als Naivität und oft auch einfach als Mangel an Solidarität. Gleichzeitig wird Deutschland für seine ja durchaus existierenden sicherheits- und verteidigungspolitischen Aktivitäten in Frankreich nicht überall ernst genommen. Die deutsche Vorliebe für ziviles Krisenmanagement wird von Kritikern schlicht als Taktik gewertet, um sich den „harten“ militärischen Aufgaben zu entziehen. Und auch Deutschlands Engagement bei der kollektiven Bündnisverteidigung, in erster Linie als Rahmennation in der Enhanced Forward Presence der NATO, wird mitunter als Ausweichmanöver angesichts einer – so zumindest sehen es einige – nicht vorhandenen russischen Bedrohung gewertet: Dank seiner Rolle in Litauen kann Berlin Engagement vorweisen, ohne dass deutsche Soldaten in den wirklich gefährlichen Operationen im Süden ihr Leben riskieren müssen.
Indes geht es nicht immer nur um Kampfeinsätze und die Frage, ob daran auch Soldaten der Bundeswehr beteiligt sind oder nicht. Der Eindruck, in Deutschland keinen verlässlichen Partner zu haben, hat seine Wurzeln beispielsweise auch in der (durchaus nicht unberechtigten) Sorge, gemeinsame Fähigkeiten könnten im Ernstfall nicht zur Verfügung stehen, weil in Deutschland kein Mandat für den Einsatz vorliegt. Schließlich ist auch die sehr kritische Haltung Deutschlands gegenüber Kernwaffen während der Amtszeit Guido Westerwelles (2009–2013) in Frankreich nicht vergessen. In einem Land, dessen sicherheitspolitische Identität in nicht geringem Maße auf seinem Status als Atommacht beruht, wird so etwas nicht gern gesehen. Die deutsche Haltung hat sich in dieser Frage durchaus weiterentwickelt, doch das ist noch nicht überall in Frankreich angekommen.
Nicht ewig verstecken
Dass die französische strategische Kultur nicht einfach auf Deutschland übertragbar ist, ist auch jenseits des Rheins eine Binsenweisheit. Der französische Frust rührt daher nicht notwendigerweise aus der Tatsache, dass Deutschland anders ist. Vielmehr sind es letzten Endes das Fehlen einer ausgeprägten strategischen Kultur und die geringe Beachtung, die Verteidigungsfragen in der deutschen Debatte zuteil wird, die in Frankreich auf Unverständnis stoßen. Bisweilen hat man in Paris den Eindruck, Berlin habe den Ernst der Lage schlicht nicht erkannt. Deutschland könne sich nicht ewig hinter seiner Geschichte verstecken, sondern müsse lernen, strategisch und geopolitisch zu denken.
Auch der institutionelle und verfassungsrechtliche Rahmen deutscher Verteidigungspolitik gilt mitunter als problematisch, mit dem Parlamentsvorbehalt als größtem Hindernis. In der Tat könnte in der Frage der Mandatierung von Militäroperationen der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich kaum größer sein. Beispielsweise darf der französische Präsident qua Verfassung Luftschläge einfach anordnen und muss im Nachgang die Assemblée Nationale lediglich informieren. Im Vergleich dazu erscheint das deutsche Verfahren mühsam und umständlich. Mit Interesse wurde in Fachkreisen folglich die Arbeit der Rühe-Kommission verfolgt – und entsprechend groß war die Enttäuschung, als die Umsetzung der ohnehin nicht sonderlich ambitionierten Empfehlungen im Sande verlief.
Die exekutivlastige französische Herangehensweise führt indes auch zu Missverständnissen – weniger in Diplomatenkreisen, dafür aber in der breiteren Öffentlichkeit. So mancher war beispielsweise nach der Wahl Emmanuel Macrons überzeugt, dass dieser jetzt einfach nur nach Berlin fahren müsse, um Merkel mit seinem Elan auch in der Verteidigungspolitik „mitzureißen“. Spätestens mit der sehr verhaltenen deutschen Reaktion auf Macrons Europäische Interventionsinitiative haben sich diese Hoffnungen zerschlagen. Dass der verteidigungspolitische Einfluss der deutschen Bundeskanzlerin, so mächtig sie auch sein mag, lange nicht mit dem eines französischen Präsidenten zu vergleichen ist, ist dabei nicht jedem klar. Dies offenbart auch, dass die starke Rolle des Bundestags nicht immer verstanden wird.
Nicht zuletzt wird auch die Bedeutung der öffentlichen Meinung in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik häufig unterschätzt. Dies ist einerseits durch die wesentlich stärkere parlamentarische Dimension in Deutschland bedingt, liegt aber auch daran, dass Verteidigungspolitik – inklusive Auslandseinsätze – in Frankreich generell keine großen Kontroversen hervorruft. Besonders deutlich wird dies bei einer Frage, die ein traditioneller deutsch-französischer Stolperstein ist und angesichts neuer gemeinsamer Projekte an Bedeutung gewinnen wird: Rüstungsexporte. Berlins striktere Auslegung der Regeln ist Paris ein Dorn im Auge, und die Ankündigung der neuen Großen Koalition, bei der Genehmigung von Rüstungsexporten künftig noch strenger vorgehen zu wollen, ruft in Paris Unverständnis bis hin zu echtem Unmut hervor. Angesichts der lautstark angekündigten gemeinsamen Projekte (Drohnen, Panzer, Kampfflugzeuge) ist die Sorge groß, dass der – wirtschaftlich notwendige – Export gemeinsam entwickelter und gebauter Rüstungsgüter an Berliner Blockaden scheitern könnte.
Keine Lösung für Frankreichs Probleme
Die deutsch-französische Zusammenarbeit im Rüstungsexport ist ein gutes Beispiel für die symbolpolitische Bedeutung des bilateralen Verhältnisses. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern haben immense politische Bedeutung, gerade für Paris unter Staatspräsident Macron. Unter rein verteidigungspolitischen Gesichtspunkten war Berlin jedoch nie der liebste Partner. Wesentlich interessanter erschien Großbritannien: ebenfalls Atommacht und dank einer ähnlichen strategischen Kultur Interventionen wesentlich weniger abgeneigt als der deutsche Partner. Folglich war die verteidigungspolitische Zusammenarbeit zwischen Paris und London immer ambitionierter als die zwischen Paris und Berlin, wie insbesondere die Lancaster-House-Verträge zur bilateralen Kooperation von 2010 zeigen.
Infolge des Brexit und der Wahl Macrons ist nun Deutschland wieder stärker in den Vordergrund gerückt – nicht wirklich zur Freude aller in Verteidigungskreisen. So mancher hätte es beispielsweise lieber gesehen, wenn der Nachfolger der Rafale-Kampfjets in französisch-britischer Zusammenarbeit statt in Kooperation mit Deutschland entstünde. Die angekündigten Rüstungsprojekte sind daher auch ein Symbol dafür, dass sich hier die Europapolitiker wieder einmal gegen zumindest Teile des Verteidigungsestablishments durchsetzen konnten.
All dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das große französische Problem damit nicht gelöst ist: In Zeiten massiver Überlastung der eigenen Streitkräfte wäre Paris dringend auf Partner angewiesen. Deutschland fällt in dieser Rolle jedoch weitgehend aus. Ob die französischen Prioritäten und Herangehensweisen dabei immer die richtigen sind, sei dahingestellt. Tatsache ist jedoch, dass zumindest in Sachen Verteidigung die Sonntagsreden nicht zur deutsch-französischen Wirklichkeit passen. Daraus folgt, dass es nach wie vor immensen Dialogbedarf gibt, insbesondere auf parlamentarischer Ebene.
Dr. Barbara Kunz forscht am Institut français des relations internationales (ifri) in Paris u.a. über die deutsch-französische Verteidigungszusammenarbeit.
Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 30 - 33