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01. Mai 2019

Doch so verschieden

Von Barbara Kunz

Es ist noch ein weiter Weg zur gemeinsamen strategischen Kultur. Denn Deutschland passt nicht ins französische Koordinatensystem

Auf der rhetorischen Ebene liegen die außenpolitischen Vorstellungen Paris’ und Berlins dicht beieinander: Frieden, Stabilität und Menschenrechte. Angesichts der internationalen Entwicklungen spielt auch die Wahrung des Multilateralismus, dem sich Paris wie Berlin verschrieben haben, eine wichtige Rolle. Und natürlich wollen beide Länder oft das Gleiche und vertreten dieselben Werte.

Doch hin und wieder brechen die grundsätzlichen Unterschiede auf, die sich letzten Endes aus unterschiedlichen Selbstverständnissen der eigenen Rolle auf der internationalen Bühne ergeben. Aus französischer Sicht ist so manches an Deutschland unverständlich. Dies gilt natürlich auch für seine Außenpolitik: Das deutsche Gebaren auf der Weltbühne will einfach nicht so richtig in das Koordinatensystem französischen Denkens über internationale Politik passen.

In Frankreich herrscht quer durch das politische Spektrum mehr oder weniger Konsens: Frankreich ist eine wichtige Macht – so mancher meint durchaus: eine Großmacht –, und dieser Status findet vor allem in der eigenen Atomwaffe und in Paris’ ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat seinen Ausdruck. Die Nation hat definierte Interessen, die zu verfolgen Aufgabe der Exekutive ist – und das weltweit.

Die Souveränität Frankreichs zu wahren, hat dabei oberste Priorität (was multilaterale Ansätze natürlich nicht ausschließt, aber sie sind eher Mittel zum Zweck als Selbstzweck). Als „Erfinder“ der Menschenrechte hat Frankreich zudem eine besondere internationale Verantwortung. Schlussendlich ist es in Frankreich immer wichtig, einzelne Handlungen in einen größeren, schon fast philosophischen Kontext zu setzen.

Konzepte wie „Souveränität“ oder „strategische Autonomie“ spielen eine zentrale Rolle, und Dokumente wie sicherheits- und verteidigungspolitische Weißbücher dienen auch dazu, einen intellektuellen Überbau für Politik und Debatte zu schaffen.

Berlin hat keinen Masterplan

Der deutsche Diskurs ist bekanntlich anders gelagert. Das lässt so manchen französischen Beobachter perplex zurück. Häufig wird deutsche Außenpolitik trotzdem einfach in das französische Koordinatensystem gezwängt. Tut man dies, lassen sich die Lesarten der deutschen Außenpolitik auf einer Skala einordnen, an deren jeweiligen Enden sich als Extremposition auf der einen Seite die Feststellung „Berlin ist vollkommen naiv“ findet, auf der anderen „Deutschland verfolgt unter dem moralischen Deckmantel besonders perfide seine (wirtschaftlichen) Interessen“. In welche Richtung die deutsche Außenpolitik eingeordnet wird, hängt dabei vom Standpunkt des Betrachters ab.

Mit der neuen deutschen Verantwortungsrhetorik weiß man in Paris jedenfalls eher wenig anzufangen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass aus französischer Sicht den Worten nicht genügend Taten folgen. Insbesondere in der Verteidigungspolitik schwingt in Frankreich fast grundsätzlich der Vorwurf an die Adresse Berlins mit, Deutschland lasse Frankreich im Stich und werde seiner internationalen Verantwortung nicht gerecht – gerade angesichts seiner finanziellen Ressourcen.

Eine andere ausformulierte deutsche „Grand Strategy“ als „Verantwortung“ gibt es indes nicht. Dass aber der deutschen Außenpolitik der große Masterplan, die durchdachte Gesamtstrategie, abgeht – das können sich viele französische Beobachter der Außenpolitik des Landes, das Clausewitz hervorgebracht hat, nicht so recht vorstellen. Gerade an den Rändern des politischen Spektrums bestätigt dies die Überzeugung, dass Anlass zu Misstrauen gegeben ist.

Hierbei spielt sicherlich auch mit, dass deutsche Außenpolitik aufgrund des deutschen politischen Systems weniger aus einem Guss sein kann, als es die französische ist. Die „Politisierung“ von außenpolitischen Dossiers, die sich nicht zuletzt aus der wesentlich stärkeren Rolle des Bundestags im Vergleich zur Assemblée nationale ergibt, wird dabei häufig als deutsche Schwäche gesehen. Sie mache Außenpolitik schlechter planbar, weniger kohärent und weniger effizient.

Mitunter tun den französischen Entscheidern ihre deutschen Counterparts angesichts all der innenpolitischen Zwänge fast leid. Aus französischer Sicht fallen dabei im Übrigen Dossiers unter die Rubrik „Außenpolitik“, die in Deutschland vermutlich in anderen Politikfeldern verortet würden. Ein aktuelles Beispiel ist die Debatte um Rüstungsexporte: Hier gilt der Einfluss der öffentlichen Meinung oft ebenso als Problem wie die Überzeugung, Berlin sei unfähig, die Frage in ihrem großen gesamtstrategischen Kontext zu sehen – nämlich die Zukunft der europäischen Rüstungsindustrie und somit in Verlängerung die Souveränität Europas.

Trump als Chance?

Das Beispiel Rüstungsexporte zeigt: Es geht häufig auch um unterschiedliche analytische Flughöhen. Am deutlichsten werden diese derzeit vielleicht an der Frage nach der Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Während in Frankreich die wachsende Entfremdung zwischen Europa und den USA vielfach als Ausdruck eines (von manchen durchaus lang ersehnten) systemischen Wandels begriffen wird, konzentriert sich die deutsche Debatte in erster Linie auf Donald Trump. Die Folgen sind vielfältig.

Aus französischer Sicht geht es darum, wie man Europa auf das internationale System des 21. Jahrhunderts vorbereitet und rüstet. Dem gegenüber steht eine deutsche Debatte, in der es augenscheinlich in erster Linie darum geht, wie man sich am besten bis zum Ende von Trumps schlimmstenfalls zweiter Amtszeit durchmogelt, geleitet von der impliziten Annahme, dass danach alles wieder „normal“ wird. Dies führt in Paris zu erheblichem Frust, hat man doch den Eindruck, dass Deutschland den Ernst der Lage verkennt.

Vor diesem Hintergrund ist die lange ausgebliebene und dann eher halbherzige deutsche „Antwort“ auf Emmanuel Macrons Rede an der Sorbonne vom September 2017 noch unverständlicher, als sie für Paris schon unter „normalen“ Umständen wäre. In Frankreich sieht man die aktuelle Krise der transatlantischen Beziehungen durchaus als Chance – für Europa, aber auch für Frankreich als Gestaltungsmacht in und durch Europa. Da aber gleichzeitig das französische Angebot an die europäischen Partner – gerade in Fragen der Sicherheit und Verteidigung – nur in geringerem Maße deren Erwartungen und Bedürfnissen entspricht, wären eigentlich alle Voraussetzungen für eine Sternstunde des deutsch-französischen Motors erfüllt.

Deutschland könnte Frankreich gewissermaßen ausbalancieren und näher an den europäischen Main­stream heranführen. Allein: Aus Berlin kommt aus Pariser Sicht wenig bis gar nichts. Wie unter dem Brennglas wird hier das grundsätzliche ­Dilemma deutlich: Frankreich möchte es eigentlich gerne alleine können, doch ohne Deutschland geht es einfach nicht. Insbesondere für diejenigen in Paris, die Frankreich als Großmacht sehen, ist diese Erkenntnis nicht immer leicht zu verdauen.

Das französische Verhältnis zu Souveränität ist dabei ambivalent. Während man sich einerseits die Stärkung der Souveränität Europas auf die Fahnen schreibt, ist man andererseits sehr darauf bedacht, die eigene Handlungsfreiheit zu bewahren. Das deutsche Verhältnis zum Multilateralismus oder gar die deutsche Neigung, in multilateralen Kontexten aufzugehen und Multilateralismus als Selbstzweck zu sehen, erscheint daher oft recht merkwürdig.

Alle Alarmglocken läuten in Paris, wenn die französische Souveränität eingeschränkt werden soll – beispielsweise dadurch, dass der ständige französische Sitz im UN-Sicherheitsrat wahlweise europäisiert oder geteilt werden soll, oder auch durch die Europäisierung der Rüstungsexportkontrolle. In einigen Kreisen gelten solche Vorschläge als Angriff auf den Status Frankreichs. Paris unterstützt daher lieber die Forderung nach einem ständigen deutschen Sitz, als dass man den eigenen teilt.

Frankreich fühlt sich überlegen

Insgesamt dürfte das vorherrschende Gefühl zur deutschen Außenpolitik das der französischen Überlegenheit sein. Deutschland wird dabei oft als eine Art Schüler begriffen, der noch am Lernen ist: Berlin hat noch keinen strategischen Ansatz, Deutschland fehlt noch der intellektuelle Überbau für seine Außenpolitik, und so weiter. Schwenkt Berlin dann auf die französische Linie ein – wie neuerdings bei der Frage nach dem Umgang mit ­China –, wird das in Paris häufig als ein weiterer Schritt in einem Entwicklungsprozess hin zur „Normalität“ gesehen.

Der Pariser Blick auf Berlin ist aber natürlich auch von Rivalität geprägt, die indes asymmetrisch ist: Frankreich und Deutschland rivalisieren gar nicht in denselben Disziplinen. Paris ist besonders stolz auf die oben genannten Großmachtattribute Atombombe und Sitz im UN-Sicherheitsrat, so wie es seine Streitkräfte als zentrales Mittel zur „Machtprojektion“ sieht. Legt man diese Kriterien an, kann Deutschland offensichtlich nicht mithalten.

Deutschland hingegen ist ganz klar Sieger nach wirtschaftlichen Kriterien – was in Paris zwar neidvoll anerkannt wird, aber eben auch als weniger wichtig gilt. Die Folge ist, dass des Öfteren Überlegenheitskomplexe aufeinanderprallen, die sich aus völlig unterschiedlichen Quellen speisen. Dies ist der Hintergrund, vor dem man einen Großteil der außenpolitischen Debatten im deutsch-französischen Kontext betrachten muss. Dass Deutschland die französische Atombombe lange nicht so ernst nimmt wie Frankreich dies tut, ist ein steter Quell unguter Gefühle, wenngleich diese selten an die Oberfläche gelangen.

Auch wenn viele in Paris sich außenpolitisch Deutschland überlegen fühlen, gibt es natürlich Dimensionen, in denen Deutschlands Vorsprung anerkannt wird. Vor dem Hintergrund der Gewissheit, dass Paris trotz allem in den Bereichen führt, die wirklich zählen, gilt dies zweifelsohne für den Außenhandel, und zwar für das Volumen sowie die dazugehörige Infrastruktur an Außenhandelskammern. Der deutsche Außenhandelsüberschuss ist freilich ein permanenter Kritikpunkt an Berlin.

Mit den „Kleinen“ sprechen

Einer der wichtigsten Punkte aber betrifft die deutsche Angewohnheit, auch mit den „Kleinen“ zu sprechen. Als „richtige“ Großmacht neigt man in Frankreich bis heute dazu, einfach direkt in Washington oder Moskau anzurufen und sich insbesondere um Ostmitteleuropa nicht sonderlich zu kümmern – wenngleich man dies unter Macron nun anders handhaben möchte. Das mag neben Frust über Berlin und der Suche nach neuen Freunden auch mit der Erkenntnis zusammenhängen, dass sich der deutsche Ansatz mitunter machtpolitisch auszahlt. Und gerade Polen möchte man dann doch nicht nur dem deutschen Nachbarn überlassen, auch wenn die französisch-polnische Achse traditionell die schwächste im Weimarer Dreieck ist.

Hier kommt erneut das Bild von der Verfolgung deutscher Wirtschaftsinteressen zum Tragen: Kritiker sehen beispielsweise im deutschen Framework Nations Concept im NATO-Rahmen nichts anderes als ein Vehikel zur Anbahnung deutscher Rüstungsgeschäfte – während Berlin das FNC gerne als Paradebeispiel europäischer Zusammenarbeit anführt.

Nicht zuletzt verdienen die deutschen politischen Stiftungen in diesem Zusammenhang eine Erwähnung. Auf sie blickt man in Paris oft neidvoll – einerseits wegen ihrer finanziellen Mittel, andererseits aber auch aufgrund ihrer Rolle als Nebenbotschaften und Instrumente zur Vernetzung.

Es passt noch nicht zusammen

Der französische Blick – so uneinheitlich er in der Realität auch sein mag – sagt letzten Endes mehr über Frankreich als über Deutschland aus. Klar ist, dass Deutschland nicht wirklich in das französische Koordinatensystem hineinpasst. Je nach politischem Standpunkt wird dabei die Ursache dieses Nicht-Passens an unterschiedlicher Stelle verortet: Für einige ist das französische Koordinatensystem nicht mehr zeitgemäß, für die vermutlich größere Anzahl an französischen Beobachtern hingegen ist die deutsche Außenpolitik das Problem.

Bis zu einer gemeinsamen strategischen Kultur, weit über die rein militärische Dimension hinaus, ist es also noch ein weiter Weg.

Dr. Barbara Kunz arbeitet als Wissenschaftlerin beim ­Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) am Ifri in Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 54-58

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