Macrons Außenpolitik
Die Äußerungen des französischen Präsidenten zur NATO, seine Vorschläge für eine Annäherung an Russland sowie die Blockadehaltung Frankreichs bei der Erweiterung der Europäischen Union stoßen in Deutschland und Europa auf Kritik. Setzt Macron zu einem Sololauf in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik an? Sechs Thesen auf dem Prüfstand.
„Macron ist der neue de Gaulle“
Nur zur Hälfte. Keine Frage, Emmanuel Macrons außenpolitische Rhetorik spiegelt das Bild eines stolzen, einflussreichen und unabhängigen Frankreichs wider, das auf General de Gaulle zurückgeht. Im Kalten Krieg bekannte dieser sich zwar zum Atlantischen Bündnis, forderte aber zugleich eine unabhängige Haltung Frankreichs gegenüber den USA und leitete den Aufbau eines autonomen Nukleararsenals ein. Wie Charles de Gaulle es später in seinen Memoiren schrieb: „Unser Land ist meiner Ansicht nach in der Lage, in Europa und in der Welt eigenständig zu handeln, und muss es tun (…). Diese Unabhängigkeit setzt natürlich voraus, dass es für seine Sicherheit über moderne Abschreckungsmittel verfügt.“ So hörte sich auch Macron an, als er auf der Botschafterkonferenz 2019 behauptete: „Wir sind eine eigenständige Macht.“ Parallelen zwischen beiden Staatspräsidenten sind in dieser Hinsicht nicht zu übersehen; doch der Vergleich ist trügerisch und muss aus zwei Gründen relativiert werden.
Erstens ist Macrons Herangehensweise relativ klassisch und knüpft an Muster an, die den außenpolitischen Diskurs Frankreichs seit Jahrzehnten prägen. Er führt damit eine Tradition weiter, die in breiten Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung stößt und die die meisten französischen Präsidenten vor ihm verkörperten – und zwar parteiübergreifend. So wie der Sozialist François Mitterrand, der 1981 bei seiner Amtseinführung versprach, Frankreich den Rang und die Stimme zurückzugeben, die es verloren hatte. Oder sein Nachfolger, der konservative Jacques Chirac, der sich mit seinem „non“ zum Krieg im Irak dem gaullistischen Erbe der Unabhängigkeit treu zeigte. Allerdings ist das Wort „indépendance“ eine Art Zauberformel, die konträre Vorstellungen umfasst. Im Wahlkampf 2017 bekannten sich dazu beide Finalisten Macron und Marine Le Pen. Während die Chefin des (damals) Front National damit den Austritt Frankreichs aus EU und NATO rechtfertigte, sah der Kandidat von En marche! darin einen Ansporn, das Sozialsystem zu reformieren und die europäische Integration voranzutreiben.
Zweitens ist der Vergleich de Gaulle–Macron trügerisch, weil beide Männer sich ausgerechnet in Bezug auf Europa stark unterscheiden. Für den Vater der V. Republik diente die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft dazu, Frankreichs verlorenen Weltmachtstatus im Kontext des Kalten Krieges wiederzugewinnen, und sollte insofern eine Art größeres Frankreich werden. Ganz anders Macron. Ihm ist bewusst, dass die EU-Staaten allein nur noch begrenzten Einfluss haben, eingeklemmt zwischen den Großmächten USA und China. Seine Forderungen zur Eurozone oder zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mögen vom französischen Europa-Denken geprägt sein. Doch dahinter steckt die Befürchtung, Europa könnte bald abgehängt werden und nicht mehr in der Lage sein, seine politischen und wirtschaftlichen Interessen wahrzunehmen. Sein Hauptziel ist daher, dass die Europäische Union in der Welt handlungsfähig und unabhängiger wird – und nicht, Frankreich wieder groß zu machen. Inwiefern er dafür bereit ist, auf Frankreichs Souveränität ganz zu verzichten, ist allerdings nicht klar.
„Er will die NATO abschaffen“
Auf keinen Fall. Macron hat die NATO in der Tat als „hirntot“ bezeichnet. Damit wollte er vor allem auf aus seiner Sicht mangelnde Abstimmung und Absprachen unter den Alliierten aufmerksam machen, in erster Linie seitens der USA und der Türkei. Macrons Äußerungen entspringen aber eher der Sorge um Europas Sicherheit als alten französischen Träumen, die Amerikaner loszuwerden. Für Macron wie im Grunde für die gesamte strategische Community in Frankreich steht fest, dass man sich in Zukunft kaum auf die USA als Garanten der europäischen Sicherheit wird verlassen können. Dies hat mehrere Gründe. Am wichtigsten ist aus französischer Sicht, dass der Aufstieg Chinas dazu führen wird, dass sich die Amerikaner vermehrt auf Asien und deshalb weniger auf Europa konzentrieren werden. Darüber hinaus geht man davon aus, dass der „Trumpismus“ den aktuellen US-Präsidenten überleben wird. Amerikanische Außenpolitik werde also immer unvorhersehbarer und erratischer.
Aus französischer Sicht ist daraus vor allem eine Konsequenz zu ziehen: Europa muss zusehen, weniger abhängig von Amerika zu werden. Dies ist das große Ziel Macrons in der europäischen Verteidigungspolitik, das er vor allem unter dem Stichwort „europäische strategische Autonomie“ (oder auch „europäische Souveränität“) verfolgt. Neu ist das alles nicht, es gehörte von Anfang an zu Macrons Rhetorik. Seit seiner Wahl hat der Präsident sein Weltbild zudem sehr ausführlich in verschiedenen Reden dargelegt. Das Problem ist allerdings, dass die restlichen Europäer nicht so recht mitziehen wollen. Dies stößt in Paris auf Unverständnis und verursacht eine gehörige Menge Frust. Europa aufzurütteln, ist Macron folglich ein dringendes Anliegen. Ton und Wortwahl stoßen dabei indes nicht überall auf Gefallen.
Zu behaupten, Macron sei gegen die NATO oder die USA, greift daher auf jeden Fall zu kurz. Schließlich hat sich Frankreich 2009 sogar entschlossen, in die integrierten Kommandostrukturen der Allianz zurückzukehren. Und auch die Amerikaner gelten in Paris als sehr wichtige Partner. Auf der operativen Ebene ist das Verhältnis zwischen Frankreich und den USA hervorragend. Die französische Regierung weiß zudem um die Bedeutung der amerikanischen Unterstützung für ihre Militäreinsätze in Afrika.
Die Debatte nach Macrons „Hirntod“-Interview zeigt also vor allem, dass man sich in Europa immer noch nicht wirklich versteht. Meinungsverschiedenheiten haben nur sehr oberflächlich mit Pro- oder Antiamerikanismus zu tun. Viel wichtiger sind die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Bedrohungslage. Die Mehrzahl der europäischen Länder sieht die Hauptgefahr im Osten, aus Russland kommend. Frankreich jedoch denkt vor allem an den Süden, an Terrorismus und Instabilität in Afrika und in der arabischen Welt. Für all jene Länder, die vorrangig eine Bedrohung aus Russland sehen, ist klar, dass ohne amerikanischen Schutz nichts geht. Ihre Bereitschaft, über einen Plan B zu Amerika nachzudenken, ist folglich deutlich geringer als die Frankreichs, das zur Not auch ohne die USA klarkäme – auch wenn das alles andere als einfach wäre.
„Europa braucht den Schutz durch Frankreichs Atomwaffen“
Es spricht einiges dagegen. Das ist die große Frage. Momentan gibt es in Europa zwei Atommächte: Frankreich und Großbritannien. Darüber hinaus nehmen fünf Staaten, darunter Deutschland, an der sogenannten nuklearen Teilhabe der NATO teil. Unter anderem in der Bundesrepublik sind in diesem Rahmen amerikanische Atombomben stationiert. Geht man also davon aus, dass Europa in irgendeiner Form Atomwaffen braucht, so gibt es Alternativen zur französischen Force de frappe.
Das ist jedoch der springende Punkt: Wozu braucht Europa eigentlich den Schutz durch Atomwaffen? Einen offiziellen Feind gibt es nicht. Aus Frankreich heißt es, dass allein die Existenz seiner Kernwaffen zur transatlantischen und europäischen Sicherheit beitrage. Mit anderen Worten handelt es sich bei der Atombombe also um eine Art allgemeine Lebensversicherung. Das ist auch der Aspekt, an dem in Deutschland ab und an Interesse geäußert wird: Wenn sich das transatlantische Verhältnis derart verschlechtern sollte, dass auf die amerikanische Lebensversicherung kein Verlass mehr ist, müsse Deutschland eben unter den französischen Schutzschirm schlüpfen.
So einfach ist es aber nicht. Zunächst einmal weiß niemand, wie genau eine irgendwie geartete europäische oder deutsch-französische Nuklearzusammenarbeit aussehen soll. Die französische Atompolitik ist gelinde gesagt ungeeignet für Kooperation: Zwar betont man regelmäßig, dass die französische Bombe ganz Europa sicherer mache; doch Entscheidungen will Paris allein treffen können. Frankreich nimmt noch nicht einmal an der Nuclear Planning Group der NATO teil. Frankreich über grundsätzliche Belange der europäischen Sicherheit allein entscheiden zu lassen, will in Deutschland und Europa aber sicher auch niemand. Auch die Bilanz der deutsch-französischen Verteidigungszusammenarbeit jenseits aller atomaren Fragen ist ernüchternd. Deutschland und Frankreich passen nicht wirklich zusammen, ihre strategischen Kulturen sind extrem unterschiedlich – keine guten Voraussetzungen, um sich Atombomben zu teilen.
Zudem darf man nicht übersehen: Je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln, kann die „Europäisierung“ der französischen Atomwaffen auch dazu führen, dass Europa nicht sicherer, sondern unsicherer wird. Offiziell sind diese Waffen gegen niemanden gerichtet. De facto dürfte sich aber wohl hauptsächlich Russland von europäischen Abschreckungsmaßnahmen angesprochen fühlen. Statt vor allem Teil des amerikanisch-russischen Sicherheitsdilemmas zu sein, könnte Europa so in sein eigenes Sicherheitsdilemma mit Moskau rutschen. Um dieses Dilemma zu managen, bräuchte man eine europäische Außenpolitik, ein gemeinsames europäisches Verständnis in allen zentralen strategischen Fragen und eine gemeinsame Nukleardiplomatie. Dass dies in absehbarer Zeit möglich ist, scheint äußerst unwahrscheinlich angesichts der grundlegenden Differenzen in Europa.
„Der deutsch- französische Motor ist kaputt“
Zumindest lief er schon mal besser. Zwar gibt es keinen offenen Streit, doch tun sich Deutschland und Frankreich gerade schwer, ihre traditionelle Rolle als „Motor“ der europäischen Integration zu spielen. Macron hat in seinem Wahlkampf 2017 massiv auf Europa und das deutsch-französische Tandem gesetzt. Eine seiner ersten großen Reden als Präsident hielt er im September 2017 an der Sorbonne und nannte sie „Initiative für Europa“. Nur wenige Tage nach der deutschen Bundestagswahl war sie als Einladung insbesondere an Deutschland gedacht, die Europäische Union neu zu begründen.
Die deutschen Reaktionen darauf waren bestenfalls lauwarm, und auf eine offizielle Antwort wartet man in Paris bis heute – so jedenfalls die französische Wahrnehmung. Dementsprechend groß ist der Frust in Frankreich, ebenso wie das Unverständnis. Aus französischer Sicht herrscht akuter Handlungsbedarf, um die Zukunft Europas zu sichern. Warum Deutschland sich in dieser Situation vor allem mit Innen- und Parteipolitik befasst, kann man in Paris nicht nachvollziehen.
So gesehen handelt es sich nicht um einen Konflikt verschiedener deutscher und französischer Visionen für die Zukunft Europas. Visionen und Ideen für die weitere Integration zu entwickeln, scheint in Deutschland derzeit keine Priorität zu sein. Klar ist lediglich, dass man in Berlin die französischen Ideen nicht teilt. Und einigen sich Deutschland und Frankreich doch einmal, bleiben sie vage (wie 2018 in Meseberg zur Reform der Eurozone). Im Anschluss sind dann die restlichen Europäer nicht bereit, den Kompromiss mitzutragen.
Angesichts einer verschlechterten Sicherheitslage und schwindender transatlantischer Gewissheiten diskutiert Europa vermehrt über grundsätzliche Fragen. Damit brechen auch fundamentale Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich auf, die in Wahrheit immer bestanden, aber im Verborgenen blieben. So haben Deutschland und Frankreich sicherheitspolitisch noch nie zusammengepasst; ihr Blick auf die amerikanische Rolle in Europa ist oft sehr unterschiedlich. Daher konzentrierte man sich in der Zusammenarbeit auf die (wenigen und nicht unbedingt zentralen) Bereiche, in denen dies keine Rolle spielte. Da aber nun die Grundsatzfragen gestellt werden, funktioniert das immer schlechter. In Berlin und Paris ist schon die Lesart, wie sich die transatlantischen Beziehungen weiterentwickeln werden, eine völlig andere. Folglich ist man sich auch nicht einig, ob Europa weiter auf die NATO – und somit amerikanische Sicherheitsgarantien – setzen kann, oder ob nun über einen Plan B nachgedacht werden muss. Es fehlt also schon die Ausgangsbasis dafür, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam Zukunftsszenarien entwickeln.
Positiv ist indes, dass Paris und Berlin sich mit dem Vertrag von Aachen bemühen, auch andere als hochpolitische Wege der Zusammenarbeit zu intensivieren. Dies gilt vor allem für die grenzüberschreitende Kooperation, die das Potenzial zum echten Flaggschiff hat und auch für andere europäische Grenzregionen wegweisend werden kann. Außerdem sind im Vertrag mehr Mittel und Mechanismen angedacht, wie die Schaffung eines Bürgerfonds, um die Zusammenarbeit auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu fördern – eine der Stärken der deutsch-französischen Beziehungen.
„Die neue Achse heißt Paris–Moskau“
Immer mit der Ruhe! Natürlich ist Macrons Russland-Initiative seit dem Sommer 2019 ernst zu nehmen. Diese Wende mag überraschend sein, wenn man an den Präsidentschaftswahlkampf 2017 zurückdenkt. Damals warf Macron seiner Konkurrentin Le Pen vor, gegenüber Russland unterwürfig zu sein. Und sein Team beschuldigte Moskau, gegen seine eigene Kandidatur zu taktieren. Doch schon kurz nach seiner Wahl empfing Macron seinen russischen Amtskollegen pompös im Schloss von Versailles, um die Beziehung wieder auf Kurs zu bringen. Mit Putins zweitem Besuch, diesmal in der Ferienresidenz der französischen Staatspräsidenten im Sommer 2019, ging die Annäherung weiter, denn es wurde unter anderem über die Bedingungen für eine Rückkehr Russlands in die G8 gesprochen. Kurz darauf machte es Macron offiziell, als er bei der Botschafterkonferenz 2019 dazu aufrief, die Beziehung zu Russland „sehr gründlich zu überdenken“.
Doch trotz Glanz und Pathos ist der französische Präsident noch lange nicht auf Kuschelkurs mit Moskau. In seiner Rede vor den Botschaftern benannte Macron ohne Umschweife die destruktive Einstellung Russlands gegenüber dem Westen und sagte, Moskau wolle die Europäische Union schwächen. Er forderte kein Ende der Wirtschaftssanktionen. Und er zögerte auch nicht, sich Nord Stream 2 zu widersetzen – mit der Begründung, die Abhängigkeit der EU von Russland dürfe nicht größer werden. Nicht zuletzt beteiligen sich französische Truppen am NATO-Einsatz im Baltikum, der nach der Annexion der Krim initiiert wurde und seitdem zur Abschreckung gegenüber Russland dient.
Was nach Widerspruch klingt, ist typisch für Macrons Sowohl-als-auch-Ansatz: Zum einen setzt er auf eine konsequent harte Linie gegenüber Putin, zum anderen bietet er ihm in gezielten Bereichen von gemeinsamem Interesse eine Kooperation an. Die angekündigten Prioritäten gelten der Rüstungskontrolle und der Weltraumforschung. Doch auch in Krisenregionen wie in Syrien und im Sahel-Afrika, die für Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik von strategischer Relevanz sind und wo Russland ein Destabilisierungspotenzial hat, wünscht sich Macron eine konstruktivere Haltung Moskaus. Außerdem spielt Russland in seiner Gesamtstrategie für ein selbstständiges Europa eine Rolle. In einer Welt, die von China und den USA dominiert werden könnte, würde die EU genauso wie Russland jegliche Autonomie verlieren – Grund genug für eine pragmatische Zusammenarbeit.
So durchdacht dieser Plan auch wirkt, er hat Grauzonen. Paris spricht und handelt im Namen der EU oder zumindest mit dem Ziel, die Sicherheit und Stabilität in der EU und deren Umgebung zu erhöhen. Ob und inwiefern es seine europäischen Partner dabei einbezieht, ist aber fraglich. Noch gefährlicher für die Glaubwürdigkeit von Macrons Strategie: Einige EU-Staaten lehnen eine Annäherung an Russland radikal ab. Obwohl sein Diskurs den Anspruch hat, im europäischen Interesse zu sein, berücksichtigt er kaum ihre Ängste und Forderungen. Zudem stellt sich die Frage, was Macron den Russen eigentlich anbieten kann. Moskaus Priorität ist jedenfalls Washington, nicht Paris.
„Seine Politik ist eine Gefahr für Europa“
Es kommt auf die Perspektive an. Für jene, die sich nichts sehnlicher wünschen als den Status quo beziehungsweise vorsichtige Anpassungen in der EU, ist Macrons Europapolitik zumindest ein Störfaktor. Aber all jene, die dringend mehr Integration fordern und vor Änderungen nicht zurückschrecken, betrachten sie als Chance. Denn eines ist sicher: Ob er den Beginn der Beitrittsverhandlungen für Albanien und Nordmazedonien blockiert, um neue Spielregeln für die EU-Erweiterung zu erzwingen, oder die NATO als „hirntot“ bezeichnet, um seine europäischen Partner zum Aufbau einer autonomeren Sicherheitspolitik zu ermutigen – Macron greift gerne zur Provokation. Sein Führungsanspruch in der Europapolitik, verbunden mit einem Gefühl der Dringlichkeit, machen aus ihm einen unbequemen Ansprechpartner.
In den politischen Kreisen Deutschlands wirkt Macrons Ansatz aus zwei Gründen irritierend. Mit wenigen Ausnahmen herrscht parteiübergreifender Konsens, dass die oberste Priorität der Europapolitik dem EU-Zusammenhalt dienen soll. Dementsprechend groß ist die Befürchtung, dass Macrons Forderungen – zum Beispiel die Schaffung eines Budgets für die Eurozone – bestehende Spaltungen weiter vertiefen könnten. Darauf antwortet man in Paris, dass Stillstand den Zusammenhalt gefährde, da Probleme nicht gelöst werden könnten und die Unzufriedenheit der Bevölkerung sowie Spannungen zunähmen. Macron projiziert damit eigene Erfahrungen aus dem Präsidentschaftswahlkampf auf die EU-Ebene. Damals waren Integrationsmüdigkeit und sogar EU-Skepsis in der französischen Gesellschaft weit verbreitet. Trotzdem entschied er sich für einen eindeutig proeuropäischen Diskurs, mit dem er die Wahl gewann.
Für Irritationen sorgt außerdem Macrons Führungsanspruch. Die Besetzung der Spitzenposten in der EU und im IWF nach der Europawahl wurde so kommentiert, als würde er dem Rest der EU seinen Willen aufzwingen wollen. Zugegeben, mit seinen Coups tut sich der Präsident keinen Gefallen. Statt seine Partner zu überzeugen, setzt er immer wieder seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Ein Beispiel dafür ist sein Veto bei den Verhandlungen für Albanien und Nordmazedonien. Seine Kritik an der EU-Erweiterung mag legitim sein und die Definition von neuen Regeln sich als dringend nötig erweisen. Was jedoch für viele Proeuropäer übrigblieb, sind ein Vertrauensbruch der EU gegenüber Partnern und somit die Gefahr, den Westbalkan zu destabilisieren. Doch bei aller Kritik: Macrons Rolle entsteht auch aus einem Vakuum, das die deutsche Regierung durch ihre Zurückhaltung geschaffen hat. Eine aktiv geteilte Führungsrolle auf dem europäischen Parkett könnte dazu beitragen, Macrons Ungeduld zu lindern und seine Alleingänge einzudämmen.
Internationale Politik 2, März/April 2020, S. 88-93