Türkei und christliches Abendland
Gefahren der Instrumentalisierung eines Begriffs
Was in der Debatte um einen Beitritt vergessen wird: die Geschichte des Christentums
„Die europäische Identität besteht vor allem in der gemeinsamen christlich-abendländischen Vergangenheit, und deshalb ist eine Besinnung auf jene sowie ihre Wurzeln und Werte politisch geboten.“ So oder ähnlich wurde sinngemäß im Kontext der Debatte zum EU-Beitritt der Türkei oft argumentiert. In der Flut der Argumente wurde dieser Standpunkt meist kommentarlos hingenommen und kaum auf die Gefahr einer derartigen Rhetorik hingewiesen. Dies soll hier geschehen. Dabei beschränkt sich die Beurteilung auf den Imperativ und seine ausgrenzende Verwendung im Zusammenhang mit dem Türkei-Beitritt. Sie kritisiert hingegen nicht die Kommentare jener, die lediglich feststellend auf die gemeinsame kulturelle christlich-abendländische Vergangenheit des derzeitigen Europas im Allgemeinen oder in anderem Kontext verweisen.
Kulturgeschichtliche Aspekte
Im Lexikon steht Folgendes zum Begriff „Abendland“ geschrieben: „Westeuropäischer Kulturkreis, geformt durch Antike und Christentum“. Das Wesen des Abendlands liegt somit in der kumulierten Erfahrung von Antike (hier gab es noch kein Christentum) und Christentum. Nicht die überlieferte geographische Abgrenzung (Bosporus) zum Morgenland scheint also entscheidend, sondern die Kulturgeschichte. Wendet man diese begrifflichen Kriterien an, so kommt man auch ohne eine Neuauflage wissenschaftlicher Recherche schnell zu dem eigentlich bekannten Ergebnis, dass weite Teile der heutigen Türkei sowohl in der Antike als auch zur Zeit des Mittelalters das Kerngebiet des (christlichen) Abendlands darstellten.
So war in der Antike das so genannte „Kleinasien“ (Anatolien) zunächst griechisch-hellenistischer Prägung (erst unter Alexander dem Großen, dann unter den Nachfolgereichen der Diadochen und schließlich unter den Seleukiden), nachdem es zuvor zum Perserreich gehörte hatte. Den Islam gab es noch nicht. Später bildete die heutige Türkei die Ostflanke im Römischen Reich mit Latein als Amtssprache und romanisch-hellenistischer Kultur.
Dann entwickelte sich das Christentum aus dem Vorderen Orient heraus, dem heutigen Israel bzw. Palästina. Weil sie dort verfolgt wurden, gingen seine Urväter in die heutige Türkei und machten die anatolischen Städte Antalya (das alte Antiochien), Tarsus und Ephesos zu den wichtigsten Stätten christlicher Verkündungen. Dort wirkten auch Jesus Lieblingsjünger Johannes und der Apostel Paulus. Der Jünger Petrus schrieb dort seinen ersten Brief an die verfolgten Christen. Dank dieser Aktivitäten entstanden überall in Anatolien christliche Gemeinden.
Die Gegend wurde schließlich für das Christentum so wichtig, dass bis ins 10. Jahrhundert hinein sämtliche Kirchenkonzilien in Anatolien abgehalten wurden. Und auch Jesus Mutter Maria soll angeblich in Ephesos gewohnt haben und dort gestorben sein. Der römische Kaiser Konstantin der Große (306–337 n. Chr.) machte das heutige Istanbul (das damalige Byzanz, von ihm unbenannt in Konstantinopel) zur Hauptstadt des byzantinischen (römischen) Reiches, dem Vorläufer des heutigen institutionellen römisch-katholischen und orthodoxen Christentums. Erst dann wurde Kleinasien unter den Osmanen islamisch, und schließlich wurde auch Konstantinopel im Jahr 1453 von ihnen erobert.
Doch selbst unter diesen Umständen konnte die christliche Kultur auf dem Gebiet der heutigen Türkei unter den Osmanen durchaus weiter bestehen, Juden und Christen spielten sogar hier und dort eine wichtige Rolle im Staatswesen. So gab es administrativ eigenständige Gemeinden, in denen die Würdenträger (so auch der Patriarch von Konstantinopel) umfangreiche Privilegien und politisches Gewicht hatten. Die „Janitscharen“ waren das nicht etwa muslimische, sondern jüdisch-christliche Militär des eigentlich islamischen Osmanischen Reiches, welches sich aus ausschließlich christlichen und jüdischen kriegsgefangenen Knaben rekrutierte, die streng isoliert militärisch und politisch erzogen wurden. Islamischen Anwärtern war ein Zugang zu dieser Elite streng verwehrt, was schließlich den unerwünschten Effekt hatte, dass der Einfluss der Christen und Juden auf Politik und Verwaltung immer mehr anwuchs und schließlich sogar zur weitreichenden Besetzung hoher administrativer Ämter führte.
Noch 1914 zählte in Istanbul fast jeder zweite Einwohner zu einer christlichen Kirche; landesweit kamen die Christen auf einen Bevölkerungsanteil von rund 20 Prozent. Zwar schrumpfte diese Zahl im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch Völkermord, Verfolgung und Vertreibung auf ca. 0,1 bis 0,3 Prozent, doch die Vergangenheit zeigt unmissverständlich, dass sich auf dem Gebiet der heutigen Türkei ein großer Teil der Geschichte des „christlichen Abendlands“ abgespielt hat. Die „Hagia Sophia“ in Istanbul, heute eine der größten Moscheen, wurde als Kathedrale erbaut.
Wenn man also die Region der heutigen Türkei geographisch allein dem „Morgenland“ zuordnen wollte, müsste man für mindestens die ersten 1000 Jahre berechtigterweise vom „christlichen Morgenland“ sprechen. Berücksichtigt man den islamischen Einschlag seit den Osmanen, so muss man die Türkei als „gemischt abendländisch-morgenländisch“ einstufen, sowohl geographisch als auch kulturgeschichtlich, weil sich auf ihrem Gebiet über viele Jahrhunderte elementare christlich-abendländische Entwicklungen vollzogen haben. Demzufolge nimmt die türkische Geschichte an der Begriffsbildung des „christlichen Abendlands“ nicht unerheblich teil.
Eine ausgrenzende Verwendung des Begriffs kann insofern nur Sinn machen, wenn sie sich ausschließlich auf die Zeit der islamisch-osmanischen Vorherrschaft bezieht und diese ergänzend in Kontrast zu den Errungenschaften der religiösen Aufklärung in Westeuropa im 16. Jahrhunderts stellt.
Geht man davon aus, dass jene, die den Begriff „christliches Abendland“ im ausgrenzenden Sinne verwenden, allein diese Epoche isoliert adressieren, dann erscheint ihre Argumentation berechtigt. Eine geschichtliche Gesamtbetrachtung, die insbesondere das antike und mittelalterliche Abendland sowie die späteren gegenseitigen Einflüsse seit der Industrialisierung mit einbezieht, erlaubt indes keine klare Ausgrenzung der Türkei aus Europa über den alleinigen Rückgriff auf den Begriff. Er ist historisch zu vielschichtig und bezieht die heutige Türkei zu stark mit ein.
Rechtliche Aspekte
Eine ausgrenzende Verwendung des Begriffs würde auch im Widerspruch zu den völkerrechtlichen Vorgaben der EU-Vertragspartner stehen. Denn es gibt ganz konkrete Hinweise, die eine Ausgrenzung der Türkei über das Argument des „christlichen Abendlands“ juristisch fragwürdig, ja sogar illegitim erscheinen lassen. Anlass dieser Überlegung ist, dass der Begriff „christlich-abendländisch“ in der Gesetzesgeschichte der EU niemals eine Relevanz hatte.
Weder in den Römischen Verträgen von 1957 noch in den anderen Gründungs- oder Ausgestaltungsverträgen war der Aspekt der „christlich-abendländischen Identität“ ein Thema. Keiner der EU-Verträge bezieht sich an irgendeiner Stelle, weder in der Präambel noch in einschlägigen Artikeln, auf die Begriffe „christlich-abendländisch“, „christlich“ oder „abendländisch“. Ebenso wenig wird auf ähnliche Bezeichnungen zurückgegriffen, geschweige denn versucht, hiermit Vorgaben für Grenzziehungen, Mitgliedschaften oder völkerrechtliche Verträge zu machen. Ganz im Gegenteil: In der Präambel des derzeit diskutierten EU-Vertrags wird die „Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“ angestrebt, und in der Präambel der konzipierten EU-Verfassung wird die Entschlossenheit der Völker Europas, „die alten Trennungen zu überwinden“, angesprochen. Europa solle „in Vielfalt geeint“ sein und „den Reichtum seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt“ wahren. In Artikel 2 Absatz 2 steht sogar: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsame Geltung zu verschaffen.“ Ein klarer integrierender und tolerierender Auftrag also an den europäischen Kontinent, offensichtlich unter bewusster Ausklammerung „christlich-abendländischer“ Begrifflichkeiten, geschweige denn entsprechender politischer Aufträge.
Politische Aspekte
Ein stolzer und anerkennender Verweis auf die kulturellen Errungenschaften des christlichen Abendlands und seine geistigen Schätze ist zweifellos berechtigt und rhetorisch ungefährlich. Auch mag eine Ablehnung des Türkei-Beitritts aus bestimmten Sachgründen sehr wohl gerechtfertigt sein. Im Kontext dieser Debatte wurde jedoch des Öfteren mit ausgrenzender Zielrichtung eine „Besinnung auf die christlich-abendländischen Gemeinsamkeiten“ gefordert. In dieser Rhetorik liegt eine Art „Kulturclubgedanke“, dessen sachliche Vorteilsbegründung schwer zu erkennen ist, der möglicherweise aber auf der Vorstellung basiert, dass die (unterstellten) historischen Gemeinsamkeiten zu einem höheren Maß an Vertrauen und Effektivität in der Umsetzung der europäischen Ziele führen könnten als eine multikulturelle europäische Identitätsstrategie.
Inwieweit eine derartige These respektive die Kausalkette „gleiche Kulturhistorie – hohe oder leichtere Friedens- und Wohlstandssicherung“ richtig ist, bedürfte einer wissenschaftlichen Studie, die bisher nicht vorliegt. Die Wirtschaftsräume der Moderne (USA, NAFTA, Eurasia, EG etc.) scheinen ihren Erfolg eher durch die gelungene Überwindung von Kulturunterschieden begründen zu können als durch eine romantische Verklärung etwaiger kulturhistorischer Gemeinsamkeiten.
Bis der Beweis erbracht ist, sollte aber in jedem Fall berücksichtigt werden, dass eine ausgrenzende Rhetorik durch die Instrumentalisierung des Abendlandbegriffs taktisch unklug oder politisch sogar gefährlich sein kann. Denn eine propagandistisch erfolgreiche Betonung der angeblich fehlenden Kulturkreiszugehörigkeit kann ein ausgrenzendes (mangelnde Zugehörigkeit) und kategorisches (Unveränderbarkeit der Geschichte) Wir-Gefühl in der Bevölkerung erzeugen, welches in zweifacher Weise zu unerwünschten Folgeerscheinungen führen kann.
Zum einen kann es Überlegenheitsgefühle auf europäischer und auf türkischer Seite auslösen und so Minderwertigkeitskomplexe oder unerwünschte Animositäten schüren. Diese dürften kraft historischer Erfahrungen moralisch-ethisch ungewollt sein (humanistischer Ansatz). Zum anderen (pragmatischer Ansatz) könnten sie politisch unkontrollierbar werden und insofern bereits ein zu großes Risikopotenzial bilden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man davon ausgeht, dass sich das Wir-Gefühl dynamisch fortentwickelt und eines Tages etwaigen politischen pragmatischen oder strategischen Entscheidungen im Weg steht. Den später politisch Verantwortlichen sollten nicht bereits heute Steine in den Weg gelegt werden, die von ihnen dann nur schwer wieder aus dem Weg geräumt werden könnten.
Beide Aspekte gewinnen vor allem dort an Relevanz, wo bereits wirtschaftlich und sicherheitspolitisch essenzielle Annäherungsprozesse zwischen den Völkern des Orients und Okzidents sowie diverse vertrauensbildende Maßnahmen in Gang gesetzt worden sind, deren weiterer positiver Verlauf durch eine missverständliche Rhetorik zu diplomatischer wie politischer Verunsicherung und unerwünschten Rückschlägen führen könnte.
Rhetorische Vorsicht ist geboten
Diese Gedanken legen nahe, dass die Begriffskombination „christlich-abendländische Wurzeln und Werte“ nicht für einen Zugehörigkeits- oder Ausgrenzungsappell benutzt und im Kontext der Türkei-Beitrittsdebatte generell nur mit großer rhetorischer Vorsicht verwendet werden sollte.
Die Begriffsbedeutung ist zu vielschichtig und emotional zu leicht aufladbar, um die Gefahr ihrer populistischen Verwendung ausschließen zu können. Außerdem ist eine ausgrenzende Verwendung des Begriffs nicht nur EU-rechtlich bedenklich, sondern auch politisch unklug, da er zu wenig Freiraum für zukünftige strategische und pragmatische Entscheidungen lässt, die möglicherweise ein ganz anderes Identitätsgefühl erfordern. Die Debatte um den Türkei-Beitritt sollte deshalb von einer Rhetorik begleitet sein, die einer sinnvollen Ex-nunc-Entscheidungsperspektive nicht die Chance nimmt, indem sie ein vergangenheitsorientiertes Wir-Gefühl erzeugt.
Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 90 - 93