Weltspiegel

02. Jan. 2024

In der Erweiterungs-Reform-Falle

Die EU steht vor zwei Herausforderungen: der Aufnahme neuer Mitglieder und der Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit. Doch sie droht an beiden Aufgaben zu scheitern.

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Bild: Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Josep Borrell
Viel zu tun: Für eine um Länder wie die Ukraine (hier: Präsident Wolodymyr Selenskyj, links, mit Josep Borrell), Moldau, Georgien oder die Westbalkan-Staaten erweiterte EU wären tiefgreifende Reformen nötig.
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In der Geschichte der Europäischen Union sind Erweiterung und Vertiefung oft einhergegangen. Während sich die EU von ursprünglich sechs auf mittlerweile 27 Staaten enorm erweitert hat, haben ihre Mitgliedstaaten mit einer Serie von Vertragsreformen zwischen Mitte der 1980er Jahre bis 2009 ihre Kompetenzen, Entscheidungsverfahren und Handlungsfelder schrittweise ausgeweitet. Das Ziel einer „immer engeren Union“ war dabei eng verwoben mit dem eines freien, geeinten Europas.



Die Fähigkeit der EU, diesen doppelten Prozess mit Leben zu füllen, wird auch künftig wieder gefragt sein. Die Union will aus geostrategischem Interesse eine Erweiterung um die Ukraine, die Republik Moldau und perspektivisch Georgien sowie die Staaten des Westlichen Balkans. Für eine Union von über 30 Mitgliedstaaten sind gleichzeitig tiefgreifende Reformen notwendig. Beide Prozesse, Reform und Erweiterung, sind aber gespickt mit Veto- und Blockademöglichkeiten. Damit aus der Erweiterungs-Reform-Dynamik keine Falle wird, braucht es eine über­greifende Vision zum Umbau der EU.



Neue politische Dynamik

Doch seit der „Polykrise“ der Union, der gleichzeitigen Abfolge von Krisen seit dem Scheitern des Verfassungsvertrags und dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise, sind beide Prozesse auf unterschiedliche Weise ins Stocken geraten. Nun haben sie im Zuge der geostrategischen Zeitenwende seit dem russischen Angriff gegen die Ukraine neue Dynamik erfahren.



Die Erweiterung hatte seit dem Beitritt Kroatiens 2013 stagniert. Die Beitrittsprozesse der anderen sechs Staaten des Westbalkans machten aus unterschiedlichen Gründen seit dem ursprünglichen Beitrittsversprechen des Gipfels von Thessaloniki im Jahr 2003 kaum Fortschritte. Nicht zuletzt die Vetos aufgrund bilateraler Konflikte blockierten Fortschritte bei den Gesprächen etwa mit Nordmazedo­nien, selbst nachdem es seinen Namen geändert hatte. Der Glaubwürdigkeitsverlust für die EU in der Region ist daher hoch, gleichzeitig sind die Reformfortschritte überschaubar. Zyniker in Brüssel sprachen davon, die Beitrittskandidaten täten so, als würden sie sich reformieren, und die EU gebe vor, sie noch aufnehmen zu wollen. Der Beitrittsprozess der Türkei ist derweil angesichts dessen autokratischer Wende de facto eingefroren.



Seit dem erneuten russischen Angriff auf die Ukraine hat die Erweiterungs­politik jedoch eine neue geostrategische Bedeutung erfahren. In einer nunmehr konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung will die EU Grauzonen schließen, die Staaten des Westbalkans an sich binden und die Ukraine und Moldau unterstützen. In für EU-Verhältnisse schneller Abfolge ernannte der Europäische Rat 2022 erst die Ukraine und die Republik Moldau zu Beitrittskandidaten, später im Jahr auch Bosnien-Herzegowina.



Georgien wurde erstmals ein Beitrittsprozess in Aussicht gestellt, während die Beitrittsgespräche mit Albanien, Nordmazedonien und Montenegro – bei weiter bestehenden bilateralen Blockaden – kleine Fortschritte machten. Selbst ehemalige Erweiterungsskeptiker wie Frankreich, das 2019 noch Fortschritte bei Albanien und Nordmazedonien blockiert hatte, erklärte die Erweiterung zu einer geostrategischen Notwendigkeit im ureigenen EU-Interesse.

Die Reformdebatte der EU ist zwar intellektuell in ­vollem Gange, politisch aber weitgehend blockiert



Auf der anderen Seite ist die Reform­debatte der EU zwar intellektuell in vollem Gange, politisch aber weitgehend blockiert. Während die Union in den 1990er und 2000er Jahren eine Vertragsänderung nach der nächsten verhandelte, galt in der Polykrise das Prinzip des „Failing Forwards“ – nur unter extremen Krisendruck waren die Mitgliedstaaten bereit, neue EU-Instrumente zu schaffen, und dann jeweils nur im (oft weit interpretierten) Rahmen der bestehenden Verträge oder ganz außerhalb der EU-Strukturen.



Das groß angelegte Experiment einer „Konferenz zur Zukunft Europas“ mit Bürgerbeteiligung lief dabei ebenso ins Leere wie wiederholte Rufe aus dem Europäischen Parlament nach Vertragsreformen. Regelmäßige Initiativen zur Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen sind bisher stets an der mangelnden – aber dafür nötigen – Einstimmigkeit gescheitert.



Reform ersetzt Vertiefung

Doch in Verbindung mit der Erweiterungsperspektive der Ukraine hat auch die Reformdebatte neue Fahrt aufgenommen. Auffällig ist dabei zunächst, dass anders als in den 2000er Jahren nicht mehr von Erweiterung und Vertiefung – also „mehr Europa“ etwa durch Übertragen neuer Kompetenzen –, sondern von Erweiterung und Reform gesprochen wird.



Unbestritten scheint unter den nationalen Regierungen, dass eine Union von 35-plus Mitgliedstaaten nicht genauso funktionieren kann wie die heutige EU-27. Auch EU-Haushalt und Politikbereiche wie die Agrar- und Kohäsionspolitik bedürfen tiefgreifender Reformen, wenn die Ukraine und mehrere Staaten des Westbalkans beitreten. In diesem Sinne hat sich etwa Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der EU im September 2023 für eine Reformdebatte ausgesprochen, um die Handlungsfähigkeit der EU zu sichern. Eine von Deutschland und Frankreich beauftragte Gruppe von Expertinnen und Experten hat im selben Zeitraum einen Bericht mit Optionen und Vorschlägen zur Reform und Erweiterung vorgelegt. Die spanische Rats­präsidentschaft hat viel dafür getan, im EU-Ministerrat einen Prozess für Verhandlungen zur Reform der EU in der folgenden Legislaturperiode anzustoßen.



Erstmals seit den großen Erweiterungsrunden von 2004/07 hat sich dabei vorsichtig ein Erweiterungs-Reform-Konsens herausgebildet. So erklärten die Staats- und Regierungschefs im Oktober 2023: „Die Erweiterung ist eine geostrategische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. […] Mit Blick auf eine erneute Erweiterung der Union müssen sowohl die EU als auch die künftigen Mitgliedstaaten bereit sein. Die beitrittswilligen Länder müssen ihre Reformanstrengungen – insbesondere im Bereich der Rechtsstaatlichkeit – verstärken, und zwar im Einklang mit dem leistungsorientierten Charakter des Beitrittsprozesses und mit Unterstützung der EU. Parallel dazu muss die Union für die notwendigen internen Grundlagen und Reformen sorgen.“



Am Rande der Handlungsfähigkeit

Beide Prozesse sind nicht juristisch, aber doch politisch eng miteinander verknüpft. Rechtlich wäre eine Erweiterung ohne Vertragsänderungen jederzeit auf Basis des Lissabonner Vertrags möglich – abgesehen von kleinen notwendigen Anpassungen, die im Beitrittsvertrag vorgenommen werden müssten. Politisch aber ist die EU-27 schon heute in vielen Bereichen am Rande der Handlungsfähigkeit, und sie wird schon rein mathematisch mit mehr als 30 ausgesprochen unterschiedlichen Mitgliedstaaten dysfunktional werden. So sollte eine Reform der EU-Institutionen zur Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit und Demokratie spätestens vor der ersten nächsten Erweiterungsrunde vereinbart werden. Ist die EU erst einmal erweitert, wird die Vereinbarung von Reformen umso schwerer. Diesen Fehler hatte die Union 2004 begangen, als es zunächst mit dem Vertrag von Nizza nicht gelang, die Institutionen ausreichend auf eine Erweiterung von 15 auf 25 Staaten vorzubereiten, und dann im Anschluss der Verfassungsvertrag scheiterte. Für die kommende Erweiterung mit dann 30-plus Mitgliedern gilt umso mehr: Institutionelle Anpassungen werden entweder davor oder gar nicht verabschiedet.

Auf der anderen Seite beruht aber auch die aktuelle Reformdebatte auf der Annahme, dass die Erweiterung Reformen notwendig mache. Zwar argumentieren Befürworter von institutionellen Anpassungen wie der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, dass diese auch unabhängig von der Erweiterung notwendig seien. Aber erst die Perspektive auf eine größere Erweiterung hat überhaupt den politischen Raum bei einem Großteil der Mitgliedstaaten geschaffen, ernsthaft über Reformen nachzudenken.



So erklärte eine Gruppe von 13 nationalen Regierungen im Mai 2022 – also noch vor einer Beitrittsperspektive für die Ukraine – im Nachgang der Zukunftskonferenz, jetzt sei nicht die Zeit für institutionelle Reformen, und lehnte bereits eine Debatte dazu grundsätzlich ab. Kurzum: Erweiterung ist nicht ohne Reformen möglich, weitergehende Reformen nicht ohne Erweiterung. Beide Prozesse müssen daher politisch parallel und gemeinsam gedacht werden.



Fülle von Blockade-Gelegenheiten

Die Schattenseite ist jedoch, dass beide Projekte, Erweiterung und Reform, sich nicht nur gegenseitig verstärken, sondern vor allem gegenseitig blockieren können. Und keine Prozesse in der EU bergen so viele Blockademöglichkeiten wie Erweiterung und – vertragliche – Reformen.

Grundsätzlich sind beide Beschlüsse, sowohl die Aufnahme neuer Mitglieder als auch die Reform institutioneller Verfahren, konstitutioneller Natur und unterliegen damit dem Diktum der Einstimmigkeit. Diese Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten muss aber dauerhaft, in einem Prozess über mehrere Jahre, aufrechterhalten bleiben.

Jeder einzelne Schritt der Erweiterung – von der Erklärung zum Kandidaten über die Eröffnung der Verhandlungen bis hin zum Beitrittsvertrag – bedarf der Einstimmigkeit im Rat



So bedarf in der Erweiterung jeder einzelne Schritt – die Erklärung zum Beitrittskandidaten, die formelle Eröffnung der Verhandlungen, das Öffnen und Schließen jedes der 35 Kapitel, die Zustimmung zum abschließenden Beitrittsvertrag – der Einstimmigkeit im Rat. Über die kommenden Jahre hinweg müsste daher ein fester Konsens geschaffen werden, dass die Erweiterung im eigenen Interesse aller EU-Staaten ist – auch über viele nationale Wahlen hinaus, sodass dieser Konsens auch in allen Mitgliedstaaten möglichst die Opposition miteinschließt.



Anders betrachtet: Potenzielle Spoiler-Staaten haben bei jedem Beitrittskandidaten über 70 Möglichkeiten, mit Vetos zu blockieren oder zumindest Zugeständnisse einzufordern. Und an potenziellen Vetospielern mangelt es nicht angesichts der bilateralen Spannungen zwischen bestehenden Mitgliedstaaten und Kandidaten, wie etwa Bulgarien und Griechenland gegenüber Nordmazedonien, Kroatien gegenüber Bosnien-Herzegowina und Serbien, Ungarn und teilweise Polen gegenüber der Ukraine und weiteren mehr.



Auch wenn es um institutionelle Veränderungen geht, ist Einstimmigkeit erforderlich. Zwar erlauben es die EU-Verträge, Reformverhandlungen über Mehrheitsverfahren anzustoßen, sogar ein Konvent kann gemäß Artikel 48 (3) EUV mit einfacher Mehrheit vom Europäischen Rat einberufen werden. Am Ende müssen aber alle Mitgliedstaaten allen Vertragsänderungen zustimmen.



Dasselbe gilt für flexiblere Formen der institutionellen Anpassungen. So bedarf etwa auch die sogenannte Brückenklausel, mit der ohne Vertragsänderungen Entscheidungsverfahren zu qualifizierter Mehrheit überführt werden können, erst einmal der Einstimmigkeit. Will die EU die Anzahl der Kommissarinnen und Kommissare reduzieren (Artikel 17 (3) EUV) oder die Sitze im Europäischen Parlament (Artikel 14 (2) EUV) anpassen, dann geht beides ohne Vertragsänderungen, aber nur mit Einstimmigkeit. Die Mitgliedstaaten bleiben „Herren der Verträge“.



Darüber hinaus müssen sowohl Beitrittsverträge als auch Vertragsänderungen, aber auch flexiblere Formen der institutionellen Anpassung wie die Brücken-Klausel national ratifiziert werden. In einigen Mitgliedstaaten erfordert dies höhere Mehrheiten im Parlament oder den Einbezug föderaler Repräsentationskammern. Das gilt in Deutschland für den Bundesrat und in Belgien für die regionalen Parlamente.

An potenziellen Vetospielern mangelt es angesichts der bilateralen Spannungen zwischen Mitgliedern und Kandidaten nicht



Am Ende beider Prozesse dürften zumindest einige nationale Referenden stehen: In Frankreich etwa fordert Artikel 88-5 der Verfassung ein Referendum zu jedem Beitrittsvertrag, außer es stimmen Dreifünftel-Mehrheiten in beiden Kammern für den Vertrag; dem müssten also ebenfalls mindestens Teile der Opposition zustimmen. In Irland oder Dänemark etwa bedürfen Vertragsänderungen, die weitere Kompetenzen an die EU übertragen, ebenfalls eines Referen­dums. Nur flexible Formen der institutionellen Reformen wie die Brücken-Klausel kommen ohne nationale Referenden aus.



Vision für ein „Europa 30-plus“

Die Europäische Union hat zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu großer Einigkeit gefunden. Diese Einigkeit hat es ihr ermöglicht, präzedenzlose Sanktionen gegenüber Russland zu erlassen und aufrechtzuerhalten, Millionen von ukrainischen Kriegsflüchtlingen aufzunehmen und – neben den großen Hilfen aus den USA – die Ukraine militärisch wie finanziell zu unterstützen. Für einen kurzen Moment war ein Konsens erkennbar, als geostrategische Aufgabe für Sicherheit und Frieden in Europa die Union zu erweitern und zu reformieren.



Doch dieser Konsens ist mehr als brüchig, ganz abgesehen vom unsicheren Kriegsausgang. Beide Prozesse strotzen vor Vetomöglichkeiten. Der Streit über Agrarimporte aus der Ukraine mit Polen, die ungarischen Vetodrohungen gegen die nächsten Beitrittsschritte mit der Ukraine, die bilateralen Konflikte als Blockademöglichkeiten über den Staaten des Westbalkans haben ebenso großes Vetopotenzial wie die Ablehnung vieler nationaler Regierungen von Vertragsänderungen aus Angst vor Referenden oder die Fragezeichen vor Reformen wie der Ausweiterung qualifizierter Mehrheit. Beide Prozesse sind politisch miteinander verknüpft, drohen sich aber ebenso gegenseitig zu blockieren.



Aus dieser Erweiterungs-Reform-Falle gibt es keinen einfachen Ausweg. Um überhaupt glaubwürdig beide Ziele zu verfolgen, braucht die EU eine langfristige Vision für ein Europa mit mehr als 30 Mitgliedstaaten, die ab dem Jahr 2030 oder später der Union beitreten. Mit dieser Vision muss sie einen stabilen Konsens zwischen und in den Mitgliedstaaten schaffen, Erweiterung und Reform gemeinsam anzugehen.



Beide Prozesse müssen dafür parallel, und wenn nötig in Form einer großen Paketlösung, gemeinsam vorangetrieben werden. Wenn der Europäischen Union das nicht gelingt, wird sie an beiden historischen Aufgaben scheitern – an der Erweiterung und ihrer Reform.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 82-87

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Mehr von den Autoren

Dr. Nicolai von Ondarza leitet die Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.