Gegen den Strich

25. Juni 2021

Gegen den Strich: Europäische Union

Nach einem Jahrzehnt voller Krisen steht die EU verstärkt im Zentrum der öffentlichen Kritik. Die Zeit des gesellschaftlichen „permissiven Konsenses“ („Wir verstehen zwar nicht, was ihr da treibt, aber wir sind einverstanden“) ist lange vorbei. Stattdessen arbeiten sich EU-kritische Parteien an „Brüssel“ ab. Manche Vorwürfe sind berechtigt, oft wird die EU aber auch für Verfehlungen auf nationaler Ebene haftbar gemacht. Fünf Thesen auf dem Prüfstand.

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Bild: Graffiti eine Mädchens in EU-Flagge, deren Union-Jack-Luftballon davon fliegt
Post-Brexit-Krach: Kaum war die Liaison zwischen der EU und Großbritannien zerbrochen, kam es zum großen Streit um Impfstofflieferungen.
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„Die Europäische Union ist ein Bürokratiemonster“

Im Gegenteil – sie sorgt sogar für Spareffekte bei nationalen Bürokratien. Natürlich, Europa steht für viele neben Frieden und Zusammenhalt auch für endlose Formulare und für „Wasserköpfe“ in Brüssel, die mit weltfremden Vorgaben à la „Gurkenkrümmungsverordnung“ den Unternehmen in Europa das Leben schwer machen.



Doch in Wirklichkeit ist schon die Zahl der EU-Beamten für die Größe und Aufgaben einer Union mit 27 Mitgliedstaaten ziemlich überschaubar. 2020 umfasste die gesamte Belegschaft der EU-Kommission etwas mehr als 32 000 Personen; hinzu kommen noch etwa 3500 Personen im Generalsekretariat des Rates sowie 7500 Personen für das Europäische Parlament und seine Fraktionen. Zum Vergleich: Allein die Stadt Berlin beschäftigt knapp 120 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in München sind es immerhin noch fast 40 000. Auch das Europäische Parlament ist mittlerweile kleiner als der Bundestag mit seinen 709 Abgeordneten, obwohl die 705 EU-Parlamentarier die Interessen von mehr als fünf Mal so vielen EU-Bürgern vertreten. Zudem gibt die EU vergleichsweise wenig für ihre Belegschaft aus. Während die Personalausgaben der Union etwa 6 Prozent ihres Gesamthaushalts ausmachen, lag der Personalanteil am Haushalt Berlins 2020 bei 28,5 Prozent.



Auch ansonsten sorgt die EU für Bürokratie-Einsparungen auf nationaler Ebene, sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für Unternehmen. Das sollten die Briten nach dem Brexit schmerzlich erfahren – nun muss der britische Staat all die Aufgaben wieder erledigen, die er zuvor an die EU delegiert hatte. Etwa 50 000 Zollbeamte musste das Vereinigte Königreich neu einstellen; auf dem Höhepunkt der Brexit-Verhandlungen beschäftigten sich mehr als 30 000 britische Ministerialbeamte mit dem Austritt und den Folgeregelungen, fast ebenso viele wie die gesamte EU-Kommission hat. Zudem benötigen britische Unternehmen für den Export in die EU nun seitenweise Formulare und teils Extraprüfungen.



Das ist auch der Grund, warum der europäische Binnenmarkt trotz seiner detaillierten Regelungen für Unternehmen Bürokratie spart. Statt Produkte und Dienstleistungen mühsam an 27 nationale Regelungen anzupassen, gilt ein gemeinsamer EU-Standard oder gegenseitige Anerkennung. So kann sich ein mittelständisches Unternehmen aus Deutschland darauf verlassen, direkt in den gesamten Binnenmarkt exportieren zu können; beim Einkauf in einem Onlineshop in Portugal oder Estland können sich die Menschen in Deutschland genauso sicher sein, dass ihre Verbraucherrechte geschützt sind.



Zuletzt hat die EU auch ihre Regulierungstätigkeiten deutlich zurückgefahren. Die berühmte „Gurkenkrümmungsverordnung“ hat die EU-Kommission schon vor über 15 Jahren zurückgezogen; jetzt werden alle geplanten Richtlinien einer Folgenabschätzung unterzogen. Unter Jean-Claude Juncker und unter Ursula von der Leyen hat die EU-Kommission zahlreiche gültige Regulierungen in Bezug auf ihre Notwendigkeit überprüft und interne Verfahren gestrafft. Neue Initiativen sollen nur zu den politischen Prioritäten und gemäß dem Subsidiaritätsprinzip vorgelegt werden – also da, wo europäische Regulierung einen Mehrwert gegenüber nationalem oder regionalem Vorgehen bietet. In den vergangenen beiden Legislaturperioden hat die EU somit deutlich weniger Rechtsetzung verabschiedet als noch in den 2000er Jahren. Und letztlich gilt bei europäischer Regulierung stets: Als Gesetzgeber haben neben dem Europäischen Parlament die nationalen Regierungen im Rat der EU das letzte Wort.



„Das Europäische Parlament hat nichts zu sagen“

Doch, das hat es – auch wenn es noch Ausnahmen gibt. Beschlüsse der EU werden wichtiger für das tägliche Leben in der Union, damit steigt auch die Forderung nach demokratischer Legitimität. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung spielt das Europäische Parlament (EP) immer noch eine Außenseiterrolle und wird oft als „Quasselbude“ diffamiert.



Dabei hat das Europäische Parlament mittlerweile erhebliche Mitentscheidungskompetenzen. Mit jeder Vertragsänderung wurden die Zuständigkeiten des EP ausgeweitet, zuletzt noch einmal deutlich mit dem Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat. Seitdem gilt in der Mehrzahl der europäischen Zuständigkeiten das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“, in dem das Parlament auf Augenhöhe mit dem Rat der EU die EU-Gesetzgebung beschließt. In der Praxis bilden sich bei EU-Gesetzgebungsverfahren sogenannte Triloge – Verhandlungen zwischen Parlament, Rat und Kommission –, die mit Vermittlungsausschüssen zwischen Bundestag und Bundesrat vergleichbar sind.



Das EP hat damit nicht nur volles Mitspracherecht, sondern gestaltet die Gesetzgebung durch viele Änderungen mit. Das gilt etwa für zentrale Vorhaben wie die EU-Datenschutzgrundverordnung oder die europäische Klimapolitik. Dass auch EU-Handelsverträge der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedürfen, ist erst kürzlich anlässlich des geplanten europäisch-chinesischen Investitionsabkommens einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden.



Zwar gibt es noch Ausnahmen, in denen die EU-Verträge gar keine Einbindung des Parlaments oder nur eine Konsultation vorsehen. In der Praxis werden aber deutlich mehr als 50 Prozent der EU-Gesetzgebung mit voller Mitbestimmung der Abgeordneten getroffen. Die Ausnahmefälle sind zudem in der Regel Bereiche mit hoher Sensibilität für nationale Souveränität. Hier waren die Mitgliedstaaten zurückhaltend darin, Kompetenzen abzugeben. Die Beschlussfassung verbleibt daher beim Rat, dafür aber mit Einstimmigkeit. Die demokratische Legitimität wird über die nationalen Regierungen gesichert, die dann nicht überstimmt werden können, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik oder der Steuerharmonisierung.



Im Vergleich zu nationalen Parlamenten bleibt das Europäische Parlament damit ein Sonderfall; es kann aber durchaus für sich reklamieren, europäische Politik entscheidend mitzugestalten. Auch bei der Auswahl der EU-Führung ist die Bedeutung des Parlaments gewachsen: Seit dem Vertrag von Lissabon wird die EU-Kommissionspräsidentin vom EP gewählt, allerdings auf Vorschlag des Europäischen Rates. 2019 konnte sich hier Ursula von der Leyen knapp durchsetzen und musste dafür die Mehrheit der Abgeordneten überzeugen. Das Europäische Parlament könnte ihre Kommission im Zweifel mit Zweidrittelmehrheit über ein Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen.



„Die EU hat bei der Impfstoffbeschaffung versagt“

Nein – auch wenn Fehler begangen wurden. Das erste Quartal 2021 war hart für die Europäische Union. Während Israel, die USA und gerade auch Ex-Mitglied Großbritannien früh erfreuliche Impfraten aufweisen konnten, wurden in der EU bis Ende März nur etwas mehr als 10 Prozent der Bevölkerung erstgeimpft. Das langsamere Impfen, gekoppelt mit der Ausbreitung der „britischen“ Mutante B117, führte auch in Deutschland dazu, dass Lockdown-Maßnahmen verschärft werden mussten, während in Israel bereits deutlich gelockert werden konnte. Für dieses „Impfdesaster“ wurde in erster Linie die EU verantwortlich gemacht.



Zunächst trifft es zu, dass die EU die hauptsächliche Verantwortung für die Impfstoffbeschaffung trägt. Obgleich Gesundheitspolitik eine Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist, haben sich diese bereits 2020 darauf verständigt, den Einkauf von Covid-19-Impfstoffen gemeinsam zu organisieren. Die EU-Kommission hat dabei die Verträge mit den Impfstoffproduzenten ausgehandelt, die eigentliche Kaufentscheidung wurde aber von den Mitgliedstaaten getroffen. Als 2020 noch unsicher war, welche Impfstoffe zuerst entwickelt, sicher und verfügbar sein würden, haben sich viele Mitgliedstaaten vorrangig für den günstigeren und mit einem erprobteren Verfahren entwickelten Oxford-AstraZeneca-Impfstoff entschieden. Die größeren Produktionsprobleme bei AstraZeneca und die erst später deutlich gewordenen Risiken für Menschen unter 60 Jahre haben die Impfstoffverteilung in der Europäischen Union zurückgeworfen.



Hauptziel der gemeinsamen Beschaffung war es, die Größeneffekte der Union zu nutzen und einen Impfstoffwettbewerb zu vermeiden, bei dem sich die reicheren Mitglieder auf Kosten der übrigen Union Impfstoffe sichern. Dies hätte nicht nur den Zusammenhalt in der EU dramatisch geschwächt, sondern auch den Binnenmarkt gefährdet – denn die Pandemie kann nur gemeinsam bekämpft werden.



Große Impffortschritte in Deutschland wären nicht ausreichend, wenn gleichzeitig in den Nachbarländern weiterhin hohe Infektionszahlen mit dem Risiko neuer Mutationen zu beklagen wären. Zudem zeigt der Streit mit dem Vereinigten Königreich, wie schnell die Impfstoffkonkurrenz eskalieren kann. Nachdem das britisch-schwedische Unternehmen AstraZeneca mehrfach die Impfstofflieferungen an die EU drastisch gekürzt hatte, entbrannte ein heftiger Zank zwischen Brüssel und London, in dem unter anderem das Nordirland-Protokoll fast unter die Räder gekommen wäre.



Unterm Strich galt dieser Teil der Impfstoffbeschaffung als gelungen. Denn der Fortschritt beim Impfen läuft schließlich in der gesamten EU, ob reiche oder arme, nordische, südliche oder östliche EU-Staaten, weitgehend in einem Tempo. Dies ermöglichte vielen EU-Staaten, die sonst noch sehr lange auf größere Impfstoffmengen gewartet hätten oder politisch heikle Abmachungen mit Russland oder China hätten eingehen müssen, erfolgreiche Impfkampagnen.



Nach schleppendem Beginn lernte die EU zudem aus ihren Fehlern. So hatte sie sowohl für 2021 als auch für 2022/23 den Umfang an Impfstoffbestellungen deutlich erhöht, auch mit Blick auf voraussichtlich notwendige regelmäßige Nachimpfungen und Anpassungen an Mutationen. Parallel dazu wurde großzügig in den Aufbau von Produktionskapazitäten und Lieferketten investiert, so dass ab Mitte Mai signifikant mehr Impfstoffe in der EU verteilt werden konnten. Stand Juni 2021 impfte die EU durchschnittlich schneller als etwa die USA und das Vereinigte Königreich und war auf dem Weg, im Juli ausreichend Impfstoffe für 70 Prozent der Bevölkerung zu haben – zeitgleich mit den USA und nicht wesentlich später als Großbritannien.



Der langsamere Start hängt auch mit der handelspolitischen und normativen Entscheidung der EU zusammen, von Beginn an Covid-19-Impfstoffe zu exportieren. Die Union steht damit im deutlichen Gegensatz zu den USA und dem Vereinigten Königreich, die bis Ende Mai 2021 wenig bis gar keine Impfstoffe und zum Teil nicht einmal wichtige Bestandteile zu deren Produktion exportiert haben. So beruhte der britische Impferfolg zu zwei Dritteln auf Impfstoffen, die aus der EU importiert wurden. Selbst Kanada musste bei seiner Impfkampagne zunächst vollständig auf in Europa hergestellte Impfstoffe zurückgreifen, weil der direkte Nachbar USA auch unter Präsident Joe Biden zunächst ausschließlich auf „America First“ setzte.



Mitte Juni 2021 hatte die EU somit rund 300 Millionen Dosen Impfstoff für die eigene Bevölkerung beschafft und in etwa ebenso viele Dosen exportiert. Global gesehen ist die EU damit neben China der größte Produzent und Exporteur von Covid-19-Impfstoffen. Die Entscheidung, neben der Impfung der eigenen Bevölkerung weiterhin globale Produktions- und Lieferketten aufrechtzuerhalten, kann kontrovers diskutiert werden. Normativ bekräftigt sie aber die Positionierung der EU als offene Wirtschaft, die anders als die USA und das Vereinigte Königreich auch dazu beigetragen hat, dass die Pandemie weltweit bekämpft werden kann.



„Deutschland ist der Zahlmeister der EU“

Ja und Nein. Auch dieser Vorwurf gehört zu den Klassikern der Euromythen. Schnell werden dabei die EU-Staaten in Nettozahler und Nettoempfänger aufgeteilt. Emmanuel Macron wurde wenige Tage nach seiner Wahl zum französischen Staatspräsidenten auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins Der Spiegel als „teurer Freund“ bezeichnet.



Auf den ersten Blick trägt die Bundesrepublik in der Tat den größten Anteil zum EU-Haushalt bei. So lag der deutsche Beitrag 2019 bei 25,82 Milliarden Euro, was etwas mehr als 20 Prozent entspricht. Mit dem Brexit wird dieser Anteil noch einmal ansteigen, voraussichtlich auf fast 25 Prozent. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Deutschland über Gebühr zur Kasse gebeten würde oder außergewöhnlich zahlungsbereit wäre, sondern schlicht mit seiner wirtschaftlichen Stärke. So richten sich die Beiträge für den EU-Haushalt grundsätzlich nach einem BIP-Verteilungsschlüssel, und Deutschland hat nach dem Brexit fast 25 Prozent Anteil am Gesamt-BIP der EU. Die beiden folgenden größten Beitragszahler sind übrigens Frankreich und Italien – Frankreich ist also kein „teurer Freund“, sondern ebenfalls ein Nettozahler wie Deutschland.



Denn für Deutschland gilt ebenso, dass es – auch mit vielen EU-Geldern etwa für die deutsche Landwirtschaft, die östlichen Bundesländer oder deutsche Forschungseinrichtungen – insgesamt mehr in den EU-Haushalt einzahlt als EU-Gelder zurückfließen. Unter den Nettozahlern lag Deutschland dank seiner Wirtschaftsgröße im Jahr 2019 mit 14,3 Milliarden Euro ebenfalls auf dem ersten Platz. Gemessen an der Bevölkerungsgröße lag die Bundesrepublik auf Platz zwei hinter Dänemark und knapp vor den Niederlanden. Selbst gemessen an der relativen Bevölkerungsgröße und der Wirtschaftskraft gehört Deutschland also zu den EU-Staaten, die mit am meisten in den gemeinsamen Haushalt investieren.



Diese Logik von Nettoempfängern und Nettobeitragszahlern ist aber nicht die einzig mögliche Perspektive auf den EU-Haushalt. Zum einen bleibt der Haushalt der Europäischen Union für ihre wirtschaftliche Größe relativ klein. So haben sich bei den Haushaltverhandlungen für den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU 2021–2027 diejenigen Mitgliedstaaten durchgesetzt, die den EU-Haushalt auf nicht wesentlich mehr als 1 Prozent des EU-Bruttoinlandprodukts begrenzen wollen; 2021 liegt er bei 1,17 Prozent. Zum Vergleich: Die Staatsausgaben in Deutschland in Relation zum BIP (Staatsquote) lagen 2020 unter Pandemiebedingungen bei 51,3 Prozent, 2019 immerhin noch bei 45,2 Prozent – also fast 50 Mal so viel, wie es bei der EU der Fall ist.

Vor allem aber bietet der EU-Rahmen für Deutschland mit seiner exportorientierten Wirtschaft enorme wirtschaftliche Vorteile, welche die Beiträge für den EU-Haushalt mehr als wettmachen.

So ist Deutschland für einen Großteil der EU-Staaten der wichtigste Handelspartner. Sechs der zehn wichtigsten Handelspartner Deutschlands sind Teil der EU, allein die vier Visegrád-Staaten Slowakei, Polen, Ungarn und Tschechien sind zwar allesamt Nettoempfänger des EU-Haushalts, zusammen aber auch ein größerer Handelspartner für Deutschland als die nominelle Nummer eins, China.



Wie wichtig der Binnenmarkt für die deutsche Wirtschaft ist, zeigt erneut das Vereinigte Königreich. Dessen Handel mit der Bundesrepublik ist seit dem Brexit-Votum von 2016 spürbar zurückgegangen. Mittlerweile sind die Briten in der Rangliste der Handelspartner von Platz drei auf Platz acht zurückgefallen. Für Deutschland mit seinem exportorientierten Wirtschaftsmodell sind die EU, ihr Binnenmarkt und ihre Zollunion damit eine mehr als gute Investition.



„Deutschland ist Europas Musterschüler“

Das ist ein verzerrtes Selbstbild. Deutschland sieht sich gerne als besonders proeuropäisches Land. Die Geschichte der Bundesrepublik ist eng mit der europäischen Integration verbunden. Als Teil des „deutsch-französischen Motors“ haben Bundesregierungen unter Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl die Entwicklung erst der EG und dann der EU entscheidend vorangetrieben; das Ziel eines vereinten Europas ist in Artikel 23 des Grundgesetzes verankert. Bisweilen wird in der öffentlichen Debatte hierzulande auch kritisiert, Deutschland sei zu blauäugig für „mehr Europa“, während andere EU-Staaten härter ihre Interessen durchsetzten und bewusst europäisches Recht brächen.



Einer vergleichenden Analyse hält das Selbstbild als europäischer Musterschüler jedoch nicht stand. Auf der einen Seite gehört Deutschland zu den Ländern, die immer wieder bei der Umsetzung der europäischen Gesetzgebung schwächeln. So liegt Deutschland bei den EU-Staaten mit den meisten Vertragsverletzungsverfahren auf Platz acht. Es ist also recht weit vorne dabei, wenn es darum geht, gegen wen die EU-Kommission wegen der Nichtumsetzung von EU-Richtlinien klagen muss. Zwischen 2010 und 2020 wurde Berlin im Schnitt pro Jahr 50 Mal wegen Vertragsverletzungen verklagt, gegenüber einem EU-Schnitt von weniger als 30. Im EU-weiten Vergleich liegt Deutschland bei der Umsetzung von EU-Gesetzgebung knapp unter dem Durchschnitt auf den mittleren Rängen. Von einer Erfüllung der europäischen Klimaziele etwa ist die Bundesrepublik noch weit entfernt.



Auch bei der Bereitschaft zur weiteren Integration wird Deutschland von seinen Partnern mittlerweile als allzu zögerlich eingestuft. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon klare Grenzen für weitere Integrationsschritte gesetzt, und auch die Bundesregierung ist – aller proeuropäischen Rhetorik und erklärtem Europafokus im Koalitionsvertrag zum Trotz – deutlich zurückhaltender geworden. Seit dem Lissabonner Vertrag hat Deutschland im Krisenjahrzehnt der EU mit Eurokrise, Migrations- und Brexit-Krise und dem Ringen um Rechtsstaatlichkeit die Übertragung weiterer Kompetenzen oder eine größere Lastenteilung in der Eurozone stets abgelehnt. In der europäischen Asyl- und Migrationspolitik wollte Deutschland so lange am starren Dublin-System festhalten und die Verantwortung für die Aufnahme von Geflüchteten Peripherieländern wie Italien, Spanien oder Griechenland aufbürden, bis die Geflüchteten nach Deutschland kamen. Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron blieben seit 2017 zumindest bis zum Corona-Wiederaufbaufonds weitgehend unbeantwortet.



Auch bei einzelnen politischen Großprojekten vermissen viele EU-Nachbarn Deutschlands eine europäische Koordinierung. Das gilt etwa für die mittel- und osteuropäischen Nachbarn bei der Durchsetzung der Nord-Stream-2-Pipeline, die aus sicherheitspolitischer Perspektive ausgesprochen kritisch gesehen wird. In der Corona-Pandemie hat Deutschland zu Beginn unkoordiniert Grenzen geschlossen und den Export wichtiger medizinischer Güter etwa ins hart betroffene Italien verweigert. Erst später zeigte sich Deutschland solidarisch mit seinen EU-Partnern, Beispiele sind die Aufnahme von Intensivpatienten oder die Bereitstellung von Beatmungsgeräten. Bei Verhandlungen zur Regulierung der Autoindustrie schließlich betreibt Deutschland ebenso knallharte Interessenpolitik wie andere EU-Staaten.



Und so ist weder das Bild eines Musterschülers noch das eines Zahlmeisters das richtige, wenn man sich Gedanken über die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union macht. Deutsche Interessen sind nicht immer gleichbedeutend mit europäischen. Es bleibt legitim, eigene nationale Interessen in den europäischen Institutionen durchzusetzen. Deutschland ist aber aufgrund seiner wirtschaftlichen und politischen Stärke, der zentralen Rolle gemeinsam mit Frankreich und spätestens nach dem Austritt Großbritanniens kein beliebiger Mitgliedstaat, sondern in (Mit-)Führungsverantwortung. Seine nationalen Interessen mit der Führungsrolle in der EU zu vereinen, wird Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein.



Dr. Nicolai von Ondarza leitet die Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 04, Juli 2021, S. 42-47

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