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01. Juni 2003

Siamesische Zwillinge

Amerika und Europa streiten sich heftig – und gehören doch untrennbar zusammen

Der Streit zwischen den USA und dem „alten Europa“ ist deswegen so heftig, weil beide Seiten nur das hässliche Spiegelbild der Verfehlungen der anderen Seite sehen wollen. Die USA und Europa müssen lernen, mit Konflikten in ihrer Beziehung zu leben und endlich den Wandel von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft vollziehen, der innerhalb der offenen Gesellschaften schon längst im Gange ist.

Amerika und Europa sind tief zerstritten. Amerika wirft den Europäern Heuchelei, Schwäche und Anbiederung an Diktatoren vor, Europa den Amerikanern weltpolitische Naivität, Arroganz der Macht und Militarismus.

Es ist das alte Lied. Es wird keineswegs erst seit der Irak-Krise gesungen, seitdem nur besonders inbrünstig und schrill und mit originellen Invektiven als Einsprengsel in den sattsam bekannten Text. Mag aber die transatlantische Lage vielen Kommentatoren auch noch so dramatisch erscheinen, die euro-amerikanische Beziehungsgeschichte geht mit unverminderter Intensität weiter. Denn Amerikaner und Europäer, so sehr sie sich auch einreden mögen, einander nicht leiden zu können, sind mehr denn je aufeinander angewiesen. Egal wie, sie müssen und werden sich wieder zusammenraufen. Und sich bei nächster Gelegenheit wieder zerstreiten. Und so weiter. Wie das nun einmal ist unter intimen Partnern, die nicht voneinander loskommen.

Warum aber können sie das nicht? Weil Europa und Amerika in Wirklichkeit keine so streng voneinander abgeteilten Einheiten bilden, wie sie es in ihrem Imponiergehabe um Führungs- und Selbstbestimmungsansprüche suggerieren und wie es Experten für die transatlantischen Beziehungen voraussetzen müssen, wenn sie zu ihren langfristigen geostrategischen Analysen ansetzen.

Die Wahrheit ist vielmehr, dass Europa ein integraler Bestandteil Amerikas und Amerika ein integraler Bestandteil Europas ist und bleibt. Und das nicht nur, weil beide miteinander einen unverzichtbaren Grundbestand an Werten teilen, der auf langen gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen beruht. Amerika und Europa benutzen sich auch gegenseitig als Spiegelbild, auf das sie, ähnlich wie Oscar Wildes Dorian Gray, alles Hässliche und Abstoßende projizieren, das sie an sich selbst nicht sehen wollen. „Die Amerikaner sind Unilateralisten, missachten das Völkerrecht und wollen doch bloß das irakische Öl!“ rufen die Franzosen mit theatralischer Empörung aus. Dieselben Franzosen, die 1995 (unter dem Präsidenten Jacques Chirac) mit dem Verweis auf ihre nationalen Interessen trotz internationaler Ächtung oberirdische Atombombentests durchgeführt, die noch im Herbst vergangenen Jahres Truppen in die Elfenbeinküste geschickt haben, ohne zuerst die UN um Erlaubnis zu fragen, und die ihre Ölförderungsverträge mit dem Regime Saddam Husseins längst unter Dach und Fach hatten, als der Hickhack im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen begann. „Die Franzosen und Deutschen verbünden sich mit Russland und China, die sich doch offensichtlich grober Menschenrechtsverstöße schuldig machen, gegen uns, das Leuchtfeuer der Demokratie, und dabei waren sie nicht einmal fähig, ohne unsere Hilfe vor ihrer eigenen Haustür, auf dem Balkan, halbwegs zivile Verhältnisse herzustellen!“, kontern die Amerikaner. Jene Amerikaner, die sich selbst nicht scheuen, Wladimir Putin als Alliierten im Kampf gegen den Terrorismus den Kopf zu streicheln, obwohl er seit Jahren einen brutalen Krieg gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung führen lässt. Jene Amerikaner, die es nicht anstößig finden, Gruselregime wie das in Usbekistan als Teil ihrer „Koalition der Willigen“ gegen Hussein zu präsentieren und zuzusehen, wie Kolumbien in einem blutigen Gemetzel aller gegen alle versinkt.

Das Pikante an der gegenwärtigen Lage ist, dass alle Vorwürfe, mit denen sich Amerika und Europa derzeit gegenseitig überhäufen („Ihr habt Saddam Hussein verharmlost!“ „Und ihr habt ihn jahrelang aufgerüstet!“ „Ihr doch auch!“ etc. pp.), mehr oder weniger berechtigt sind. Nur bleiben sie sinnlos, so lange man die Sünden des anderen aufzählt, um die eigenen nicht wahrhaben zu wollen, und so lange man des anderen Schuld nicht auch als ein eigenes Problem, als einen Ausdruck der Widersprüche der gesamten westlichen Welt betrachtet. Nein, um eine saubere Trennung zwischen diesen beiden schwierigen Verbündeten hinzukriegen, wie sie einige kluge Fachleute für das kommende Jahrzehnt prophezeien (so der amerikanische Politologe Charles Kupchan in der Zeit vom 22.5.2003) müssten sich diese ewig zerstrittenen siamesischen Zwillinge einen Teil ihrer selbst aus ihrem Körper reißen. (Zugegeben, es handelt sich um ungleich große und mit unterschiedlich beschaffener Muskulatur ausgestattete Zwillinge.)

Verquere Konfliktlinien

Die Konfliktlinien, die den Westen derzeit trennen, verlaufen nämlich nicht eindeutig zwischen „Amerika“ und „Europa“. Kaum hatten sich Frankreich und Deutschland zu einer Demonstration neu gewonnen europäischen Selbstbewusstseins aufgeschwungen, mussten sie konsterniert feststellen, dass sich ein Teil ihres stolzen Kontinents, den sie gegen den Hegemon in Washington ins Feld führen wollten, lieber an die Amerikaner hielt. Jetzt wird dem „neuen Europa“, allen voran den Polen, von Deutschland genau das vorgeworfen, woraus es selbst jahrzehntelang wie selbstverständlich den größten Nutzen gezogen hatte: der enge Schulterschluss mit den Amerikanern. Mancher deutsche Sozialdemokrat, dem noch immer Tränen der Rührung in die Augen schießen, wenn er sich an Willy Brandts Kniefall in Warschau erinnert, mokiert sich jetzt über die polnischen Parvenüs, die sich von den Amerikanern als „trojanische Esel“ in Europa missbrauchen ließen, anstatt mit ersten Schritten in die Weltpolitik geduldig zu warten, bis ihnen die großen Weltstrategen in Paris und Berlin einen Platz in der zweiten Reihe angewiesen haben.

Und die Amerikaner? Sie strotzen vor Stolz auf ihre überlegene Waffentechnologie und ihre Entschlossenheit, mit der sie das Weltübel überall da bei den Hörnern zu packen und niederzuwerfen bereit sind, wo es deutlich identifizierbar scheint. Darüber vergessen sie regelmäßig, wie viel schwerer es für sie ist, den Frieden zu gewinnen als einen Krieg.

Das gemeinsame Experiment

Europa und Amerika bleiben nicht zuletzt deshalb aneinander geschweißt, weil die Fehler und Versäumnisse des einen immer auch der andere ausbadet und weil die Irrtümer des einen immer auf die des anderen zurück verweisen. Seit über zwei Jahrhunderten nehmen beide an einem einzigartigen weltgeschichtlichen Experiment teil – der Entwicklung einer offenen Gesellschaft. Sie leben unter vom Volk gewählten und vom Volk abwählbaren, von Gesetzen und öffentlicher Kritik kontrollierten Regierungen und in Gesellschaften, deren Mitglieder zugunsten der Geltung abstrakter Verfahrensregeln darauf verzichten, das, was sie für ihr Recht halten, selbst in die Hand zu nehmen und auf eigene Faust durchzusetzen.

Diese Gesellschaften haben es geschafft, in einer feindseligen Umgebung zu überleben und sogar zu den wohlhabendsten und mächtigsten der Welt aufzusteigen. Dabei standen die Chancen für ihren Fortbestand allzu oft ziemlich schlecht. Wie würde eine so instabile, unzulängliche Gesellschaft, die nie zu ihrer „eigentlichen“ Form finden kann, sondern von unablässigen, öffentlich ausgetragenen inneren Konflikten in ständiger Bewegung und Veränderung gehalten wird, jemals dem Ansturm zu allem Entschlossener standhalten können, die versprachen, eine wahrhaft haltbare und harmonische Ordnung zu gründen?

Faschisten, Nationalsozialisten, Kommunisten, größenwahnsinnige Diktatoren aller Art waren davon überzeugt, dass sie diese dekadenten Gebilde wie ein Kartenhaus zum Einsturz bringen oder zumindest zum Rückzug zwingen könnten. Doch das amerikanisch-europäische Experiment hat sich gegen sie alle behauptet. Das hat viele blutige Kämpfe erfordert und schreckliche Opfer gekostet. Ein Gedanke, der Gesellschaften, die sich doch eigentlich als zutiefst friedlich und tolerant betrachten, nur schwer erträglich ist: dass man es immer wieder mit Gegnern zu tun hat, die nur mit Gewalt niedergehalten werden können, und zu deren Niederhaltung man große Risiken eingehen muss – und dabei stets in der Gefahr schwebt, im Kampf mit einem erbarmungslosen Feind dessen Züge anzunehmen und unter der Maßgabe der Verteidigung der Freiheit die eigenen Rechtsprinzipien zu unterminieren. (Das aktuelle Symbol dieser Gefahr heißt Guantánamo).

Die strategischen Rezepte und Methoden, wie eine offene Gesellschaft mit solchen Gefahrensituationen umzugehen hat, sind so umstritten, provisorisch und unzulänglich wie alles, was eine diskutierende, pluralistische Öffentlichkeit hervorbringen kann. Gegenwärtig werden die westlichen Gesellschaften einmal mehr von einem absoluten Feind herausgefordert. Am 11. September 2001 hat er bewiesen, wie weit er zu gehen bereit und in der Lage ist. Er trägt in mancherlei Hinsicht die bekannten Züge früherer totalitärer Bewegungen, aber in vielerlei anderer Hinsicht ist er neu und unbekannt. Er tritt als absolute Negation der modernen globalisierten Welt auf und ist doch ein originäres Produkt der dunklen Seite dieser Globalisierung. Er ist schwer greifbar, weil er nicht an die Infrastruktur eines bestimmten Staates gebunden ist, sondern – eine makabre Antwort auf die Theorie vom „postnationalen Zeitalter“ – supranational operiert, und doch ist er ohne die Rückendeckung oder zumindest die stille Duldung durch Staaten und Regierungen kaum operationsfähig. Das Auftauchen dieses Feindes war für die westlichen Gesellschaften ein historischer Schock, denn er markierte mit brutaler Härte das Ende der Ära, die primär von den Nachwehen des Kalten Krieges bestimmt war, und den Beginn einer neuen Epoche voller Herausforderungen, für die es keine vertrauten Muster der Bewältigung gibt.

Amerikaner und Europäer reagierten darauf, entsprechend der Abstufung unmittelbarer Betroffenheit, unterschiedlich. Für die USA stellten die Terrorattacken eine Kriegserklärung dar, und sie betrachten sich seitdem im Kriegszustand mit einem Feind, der global agiert und den sie daher auf globaler Ebene bekämpfen müssen. So ordnet sich aus amerikanischer Sicht auch der Irak-Krieg in den Kampf gegen den Terrorismus ein – ein Zusammenhang, den die Europäer nicht nachvollziehen wollen: Die zentrale Brutstätte des islamistischen Terrorismus ist der Nahe Osten, namentlich die arabische Welt, und daher müsse dem Übel an die Wurzel gegangen und die gesamte Region neu geordnet werden. Europa aber hat sich dem ganzen Ausmaß der Veränderung, das der 11. September mit sich brachte, noch nicht wirklich gestellt. Es verarbeitet die Bedrohung durch den Islamismus noch immer mit Denkkategorien, die sich aus dem Zerfall der Kalten-Kriegs-Ordnung ergaben.

„Humanitäre Interventionen“

Der westliche Menschenrechtsinterventionismus der neunziger Jahre wurde von der Zuversicht getragen, dass totalitäre und genozidale Diktaturen vom Urteil der Geschichte bereits zum Untergang verdammt worden seien. Eingriffe des Westens wie die auf dem Balkan zielten darauf, die anachronistischen Überreste einer überwundenen Epoche zu beseitigen. Daraus konnte der liberale Menschenrechtsinterventionismus seine Vorstellung ableiten, militärische Mittel – sofern ihr Einsatz als Ultima Ratio unvermeidlich seien – stellten im Grunde nur eine Art polizeiliches Instrumentarium dar, mit dem Fehlentwicklungen einer posttotalitären Übergangszeit korrigiert werden müssten. An ihrem Ende aber werde die Ausbreitung der zivilgesellschaftlichen Ideale des Westens stehen, womit kriegerische Mittel als Instrument der Politik endgültig überflüssig werden würde.

Den Kosovo-Krieg wollten die Europäer folgerichtig nicht einen „Krieg“, sondern lieber eine „humanitäre Intervention“ nennen. Die Voraussetzungen, die Motive und der Verlauf des Kosovo-Krieges werden in Europa im Rückblick häufig idealisiert. Dabei hatte schließlich auch dieser Krieg Zerstörung hervorgerufen und zivile Opfer gekostet, und auch er war, ähnlich wie jetzt der Irak-Krieg, völkerrechtlich umstritten, weil nicht von den Vereinten Nationen mandatiert. Kriegskritiker argumentierten damals nach einem ähnlichen Muster wie jetzt in der Irak-Frage die französische und deutsche Regierung: Eine militärische Intervention, hieß es damals, werde die gesamte Region destabilisieren, Russland vom Westen entfremden, entsetzlich hohe Opferzahlen und Flüchtlingsströme produzieren.

Im Kosovo-Krieg aber kämpften Amerikaner und Europäer noch gemeinsam, und er hat am Ende zu einer zumindest notdürftigen Befriedung des Balkans geführt. So geriet tendenziell in Vergessenheit, dass in den Erfahrungen dieses Krieges bereits die Friktionen angelegt waren, die in der amerikanisch-europäischen Konfrontation in der Irak-Frage mündeten. Die Amerikaner nahmen daraus die Erfahrung mit, dass sie von den Europäern immer dann in die Pflicht genommen werden, wenn diese sich wieder einmal als unfähig erweisen, ihre eigenen Probleme zu lösen, sich aber abschätziger Kritik ausgesetzt sehen, wenn sie ihre politische und militärische Macht tatsächlich massiv einsetzen. In den Augen großer Teile der europäischen Öffentlichkeit standen die Amerikaner am Ende als rücksichtslose militaristische Wüstlinge da, die Streubomben auf die Zivilbevölkerung geworfen und die chinesische Botschaft in Belgrad bombardiert hatten.

Friedensbringer

Dagegen ließen sich europäische Politiker als rein humanitär motivierte Friedensbringer feiern, die nach dem Ende der kriegerischen Aktionen für zivile Verhältnisse in der verwüsteten Region sorgten – obwohl die Voraussetzungen dafür doch ohne den massiven Einsatz der amerikanischen Militärmaschinerie und den entschiedenen Willen der amerikanischen Regierung, ihn trotz unvorhergesehener Schwierigkeiten – Slobodan Miloöevib widerstand dem militärischen Druck länger als erwartet – konsequent durchzuhalten, nie geschaffen worden wären. Bei den Europäern wiederum blieb hängen, dass sie in die Kriegsplanungen, etwa die Auswahl der Bombenziele, nur unzureichend einbezogen worden waren. Es machte sich bei ihnen ein bitteres Ohnmachtsgefühl gegenüber der erdrückenden Dominanz der USA innerhalb des westlichen Bündnisses breit. Daraus entstand ein bleibendes Misstrauen gegenüber amerikanischen Beteuerungen westlicher Bündnissolidarität und multilateraler Kooperationsbereitschaft.

„Humanitäre Interventionen“ waren im Selbstverständnis ihrer Urheber eine Art erzwungener Rückgriff auf ein Gewaltpotenzial, das eigentlich einem schon überholten Zeitalter angehörte, auf das man aber noch nicht gänzlich verzichten könne, weil es nach wie vor Kräfte gebe, die sich den neuen, friedfertigen Regeln der Völkergemeinschaft widersetzten.

Zwei Philosophien

Mit den Terrorangriffen des 11. Septembers aber wurde offenbar, dass eine neue „totalitäre“ Ideologie herangewachsen war, die sich ganz und gar außerhalb der westlichen Geschichtserfahrungen bewegt und gegenüber dem abschreckenden Effekt „humanitärer“ Schläge unempfindlich ist. Die Frontalattacke des islamistischen Terrorismus durchschlug jene Unterscheidung von „Innen“ und „Außen“, die der Menschenrechtsinterventionismus der neunziger Jahre noch aufrecht erhalten hatte. Die Regulierung von Krisenherden in aller Welt wurde damals zwar auch als Abwehr einer langfristigen Bedrohung der Sicherheit des Westens betrachtet, doch blieb dieser Zusammenhang abstrakt. Mit der Herausforderung durch den extremistischen Islamismus aber verwandelten sich die Krisenherde, an erster Stelle der Nahe Osten, in Quellen einer unmittelbaren Bedrohung der westlichen Welt. In dieser neuen Situation kamen die unterschiedlichen Sichtweisen und Interpretationen zum Vorschein, die in der gemeinsamen Politik der neunziger Jahre verborgen waren. Schematisch gesprochen, haben sich daraus zwei konkurrierende Philosophien entwickelt: Die eine setzt weiter auf Eindämmung und rechtliche Einhegung der explosiven Konflikte, die die internationale Stabilität und damit auch die Sicherheit des Westens bedrohen. Die andere setzt auf Vorwärtsverteidigung und geht davon aus, dass sich die Demokratie nur erhalten wird, wenn sie sich langfristig auf dem ganzen Globus ausbreitet.

Die Bush-Regierung, die sich letzterer Philosophie verschrieben hat, sieht es als legitim und notwendig an, dieses Ziel notfalls mit „präventiven“ militärischen Mitteln zu verfolgen. Doch wären die Verhältnisse grundlegend anders, wenn die Linien der amerikanischen Politik nicht von einer konservativen Administration und ihren „neokonservativen“ Vordenkern, sondern von einem demokratischen Präsidenten bestimmt würden? Richard Holbrooke, ehemaliger Botschafter in Deutschland und bei den Vereinten Nationen sowie amerikanischer Chefunterhändler bei den Bosnien-Friedensverhandlungen in Dayton, der als Außenminister unter einer Präsidentschaft Al Gores vorgesehen war, hat erst kürzlich (in einem Interview im „Deutschlandradio“) seine grundsätzliche Zustimmung zu George W. Bushs Irak-Politik zum Ausdruck gebracht. Er kritisierte zwar die Art und Weise, wie sich die amerikanische Regierung im Irak-Disput präsentiert hat – ihren „Stil“, der „viele Leute vor den Kopf gestoßen“ habe. Er erinnerte aber auch daran, dass Bill Clinton schon 1998 „ganz klar das Ziel ‚Regimewechsel in Irak‘ benannt“ habe. „Allerdings“, fuhr Holbrooke fort, „hätten weder Clinton noch Gore dieselbe Politik wie Bush verfolgt, um an dieses Ziel zu gelangen – aber es war das richtige Ziel!“ Diese Haltung gibt die Ansicht der meisten maßgeblichen aktuellen Außenpolitiker der Demokratischen Partei wieder. Der schroffen Ablehnung, auf die Bushs Irak-Politik in Europa stieß, stehen auch diese amerikanischen „Multilateralisten“ verständnislos gegenüber.

Denn in den Augen der amerikanischen Demokraten setzt der demokratische Expansionsdrang der Bush-Regierung, wenn auch mit unzulänglichen Methoden, ein originäres Projekt der liberalen Linken fort. Ähnlich sieht es in Europa nur der britische Regierungschef Tony Blair, in dessen Augen der Sturz Husseins die konsequente Fortsetzung jener Politik eben jenes „humanitären Interventionismus“ ist, der in den neunziger Jahren in den gemeinsamen Aktionen in Bosnien und in Kosovo kulminierte.

Wie diese verschiedenen Sichtweisen, die sich verselbständigt haben und auf beiden Seiten vereinseitigt wurden, wieder zusammen kommen können, ist offen. Zweifellos trennen Amerika und „Alteuropa“ schwer wiegende Unterschiede: das Ungleichgewicht an militärischer Stärke, die Uneinigkeit über die Auslegung internationaler Rechtsnormen und – dies ist wohl das Gravierendste – die differierende Einschätzung der internationalen Bedrohungslage.

Identität des Westens

Doch es ist ein Irrtum, das Zerbrechen des Konsenses der westlichen Allianz im Irak-Konflikt mit dem Zusammenbruch der „Identität des Westens“ gleichzusetzen, wie es zuletzt der italienische Philosoph Angelo Bolaffi (in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19.5.2003) getan hat. „Der Westen“ war nie dadurch gekennzeichnet, mit sich selbst identisch zu sein. Seine „Identität“ lag nie primär in dem begründet, worin alle Demokratien positiv übereinstimmten. Der Kern seiner Gemeinsamkeit lag vielmehr immer in der gemeinsamen Abwehr von Übeln.

„Der Westen“ wird nicht so sehr dadurch charakterisiert, was er will, sondern was er nicht will: diktatorische Gleichschaltung, Unterdrückung von Persönlichkeitsrechten und die Verletzung der Menschenwürde. Unter dem Dach dieses „negativen“ Konsenses hatten die unterschiedlichsten sozialphilosophischen Leitbilder, gesellschaftlichen Modelle und Rechtsauslegungen Platz, vom schwedischen Wohlfahrtsstaat bis zur individualistischen Marktordnung amerikanischer Prägung. Dass im Westen jetzt ein interner Streit über die Grundlinien der Weltpolitik ausgebrochen ist, spiegelt nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache wider, dass die Weltlage zu komplex, widersprüchlich und dynamisch geworden ist, als dass man sie in altbewährten Konsensritualen fassen könnte. Das alte Völkerrecht verliert angesichts von Kräften, die es nicht vorausgesehen hat und die sich seinen Kategorien entziehen, an Geltungskraft. Es beginnt das Tasten nach neuen Formen der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen.

Konflikt statt Konsens

Jetzt vollzieht „der Westen“ als Ganzes nach, was innerhalb der offenen Gesellschaften schon längst im Gange ist: den Übergang von der Konsens- in eine Konfliktgesellschaft – in eine heterogene Struktur, die nicht primär durch Übereinstimmung, sondern durch das gemeinsame Erlernen des Umgangs mit der Nichtübereinstimmung zusammengehalten wird. Die „Emanzipation“ der Europäer von den USA kann nicht darin bestehen, dass man Träumen von einer illusionären „multipolaren“ Gegenachse nachhängt. Sie äußert sich vielmehr darin, dass Unterschiede jetzt offen artikuliert und ausgetragen werden können und müssen. Die Notwendigkeit, in historischem Neuland nach Wegen der Selbstbehauptung der westlichen demokratischen Zivilisation zu suchen, wird Europa noch stärker miteinander verklammern, als dies in den Zeiten harmonischer Übersichtlichkeit war, als man noch den einen großen gemeinsamen Feind vor Augen hatte.

Neben allen negativen Folgen der qualvollen Vorlaufzeit bis zum Ausbruch des Irak-Kriegs lag darin doch auch eine atemberaubend neue, vorwärtsweisende Perspektive. Nie zuvor ist das Für und Wider eines Krieges weltweit so intensiv und in allen Einzelheiten diskutiert, seine möglichen Folgen so umfassend abgewogen worden. Das Resultat war, dass die USA mit ihren treuesten Verbündeten gegen die Meinung des überwiegenden Teils der Weltöffentlichkeit handelte. Doch es war zugleich auch das erste Mal, dass eine solche globale Öffentlichkeit tatsächlich hergestellt wurde. Erstmals wurde ein Krieg als weltinnenpolitisches Problem behandelt, an dem die gesamte Menschheit Anteil nahm – um dann am Ende in ihrer überwiegenden Mehrheit doch nur passiver Zuschauer zu bleiben. Damit ist die ganze Widersprüchlichkeit, die gesamte Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung des Weltzustands bezeichnet, mit dem wir, Europäer und Amerikaner gemeinsam, zurecht kommen müssen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2003, S. 1 - 8

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