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01. Nov. 2008

Senkrechtstarter und Schmuddelkinder

Buchkritik

Wohin steuern Peking und Neu-Delhi? Die Urteile über die zwei bevölkerungsreichsten Staaten der Welt rangieren auf einer Skala zwischen kommende Weltmächte und der Verdammung als Autokratie (China), defizitäre Demokratie (Indien), als Sicherheitsrisiko und Umweltsünder. Vier Neuerscheinungen führen die Diskussion weiter.

Als Antipoden der neueren China--Literatur offenbaren sich Georg Blume, einer der profiliertesten deutschen China-Korrespondenten, und James Mann, ehemaliger Auslandskorrespondent der Los Angeles Times in Peking. Ein überraschend positives Bild des ost-asiatischen Giganten zeichnet der über jegliche Wachstumsgläubigkeit und jeden naiven Parteiidealismus erhabene Georg Blume. Hintergrund seiner Streitschrift sind die Demonstrationen von Tibetern und deren brutale Niederschlagung im März 2008. Als unentschuldbar wertet Blume die Gewalt der Zentralregierung, als sträflich den Umgang mit den Menschenrechten. Doch damit hat es sich auch schon. Nur hin und wieder wird der Leser mit der Fehlbarkeit des Einparteienregimes konfrontiert. Es dominiert eine optimistisch-zukunftsgerichtete Metaphorik, die den gesunden Mittelweg des sonst so stark abwägenden Journalisten zu oft verlässt. Zugegeben: Es handelt sich um eine Streitschrift in einer stark polarisierten Debatte, in der ein undifferenziertes China-Bild zumal in Bezug auf Tibet dominiert. Es ist an der Zeit, der allzu verdammenden China-Kritik etwas entgegen zu halten. Doch hier überzieht Blume, indem sukzessive die gesamte deutsche und internationale China-Kritik ins Kreuzfeuer gerät. Angela Merkel habe die deutsch-chinesischen Beziehungen mit ihrer Tibet-Politik auf einen Konfrontationskurs gebracht, während in den USA eine auf Einbindung gerichtete Stimmung herrsche. Mit Rousseau, Hegel, Max Weber, Eisenhower und Kiesinger stehe Merkel in einer langen Tradition der China-Verächter. Heute werde dieses Bild durch die westliche Presse fortgezeichnet. Blumes Fazit: Chinas Modernisierungsprozess ist widersprüchlich, aber unterstützenswert. Am Ende bleibt ein mulmiges Gefühl, und man möchte dem Autor nicht unbeschränkt zustimmen.

Gleiches gilt für James Manns „China Morgana“ – ein Buch, das ein weitaus pessimistischeres China-Bild konstruiert und damit eher dem Mainstream zuzuordnen ist. Wie so oft handelt es sich um einen amerikanischen Sachbuch-Bestseller, der seinen Weg mit einer ausgetüftelten Werbestrategie in die deutschen Buchläden fand. Das ist aus der Sicht des Lesers mit knappem Lektürebudget ebenso bedauerlich wie in Blumes Fall. Über China selbst erfährt man hier so gut wie nichts, über den inneramerikanischen Diskurs zu China umso mehr, über Sprache, Bilder, die Kraft der Symbole und diffamierende Etiketten.

Mann spricht vom „Schönreden“ einer gefährlichen Autokratie mit leninistischem Anstrich und entwickelt drei Szenarien: ein Beschwichtigungsszenario, nach dem die wirtschaftliche Öffnung des Landes unweigerlich in einer umfassenden Demokratisierung münden wird; ein Aufruhrszenario, das China angesichts von sozialer Ungleichheit und Territorialkonflikten auf ein Desaster zusteuern sieht; schließlich ein drittes Szenario, das ein prosperierendes, dabei allerdings sämtliche diplomatischen Spielregeln verachtendes, höchst undemokratisches China antizipiert. Das dritte Szenario erscheint Mann am wahrscheinlichsten und gleichzeitig gefährlichsten zu sein. Wie im Falle Blumes kann man dem Autor nicht richtig folgen. Bei beiden Büchern handelt es sich um Stellungnahmen in einer Debatte, an der die breite Öffentlichkeit nicht wirklich interessiert ist. Was fehlt, sind belastbare Informationen über die gegenwärtige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in China, Einsichten „von innen“, wie sie uns Blume in seinen journalistischen Beiträgen schon so oft geliefert hat.

Weit lesenswerter sind da zwei Neuerscheinungen zu Indien. Noch immer weiß der Normalbürger viel zu wenig über dieses faszinierende Land; Indien scheint in der europäischen Politik wie in der medialen Berichterstattung marginalisiert. Zu Unrecht, wie aus Dietmar Rothermunds lesenswertem Werk über den Aufstieg dieser „asiatischen Weltmacht“ deutlich wird. Rothermund, Historiker und wohl einer der bedeutendsten Indien-Kenner Deutschlands, verbindet hier ein halbes Jahrhundert der Leidenschaft für das Land mit wissenschaftlicher Präzision und versteht es, fesselnde Berichterstattung mit kritischer Weitsicht zu koppeln. Von der Entstehung der föderalen Nation über Liberalisierung, Industrialisierung und Nuklearisierung wagt Rothermund einen Blick in die Zukunft, der angesichts eines unvergleichlichen Reservoirs an Humankapital optimistisch ausfällt. Was Indien neben dem demokratischeren System von China unterscheidet, betont Rothermund an vielen Stellen. Es ist dieser Vergleich, der das Buch zur Pflichtlektüre aller Indien-Interessierten macht.

Wer einen stärker politikwissenschaftlichen und aktuellen Fokus sucht, findet ihn im neuen Buch von Jakob Rösel und Pierre Gottschlich. Hier werden mit Hilfe systematischer Quellenrecherche die Grundpfeiler der -indischen Republik analysiert: -Föderalismus, Pluralismus, Säkularismus, Voluntarismus und Universalismus. Auf dieser Basis wird ein absolut überzeugendes, präzises und für die tiefere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema stimulierendes Bild des demokratischen Wandels, des -ökonomischen Aufstiegs und der -außenpolitischen Chancen des Staates gezeichnet, der sich in einem rapiden Transformationsprozess befindet. Obwohl sich seit einigen Jahren mit der Forderung nach mehr Zentralismus, einem aufkommenden Hindu-Nationalismus anstelle des Säkularismus und der Stärkung der Kasten -einflussreiche politische Alternativen entwickeln, bleibt das demokratische Experiment in Indien nach dem Urteil der Autoren auf gutem Wege. Gestärkt durch die prosperierende und gut -ausgebildete indische Diaspora wird das bald bevölkerungsreichste Land der Erde seine Großmachtambitionen künftig noch selbstbewusster ausspielen. Mit Indien ist zu rechnen, so das Fazit der Autoren. Der alleinige Blick auf China verschleiert diese Perspektive.

Georg Blume: China ist kein Reich des Bösen. Trotz Tibet muss Berlin auf Peking setzen. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2008, 104 Seiten, 10,00 €

James Mann: China Morgana. Chinas Zukunft und die Selbsttäuschung des Westens. Frankfurt/New York: Campus, 2008, 145 Seiten, 14,90 €

Dietmar Rothermund: Indien. Aufstieg einer asiatischen Weltmacht. München: Verlag C.H. Beck, 2008, 336 Seiten, 26,90 €

Jakob Rösel und Pierre Gottschlich: Indien im neuen Jahrhundert. Baden-Baden: Nomos, 2008, 196 Seiten, 29,00 €

Dr. DIRK NABERS  ist Senior Research Fellow am German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg.

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2008, S. 94 - 96

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