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01. Nov. 2002

Neue Entwicklungspolitik

Keine Überwindung von Armut ohne Veränderung westlicher Entwicklungsmodelle

Es ist kaum umstritten, dass die Überwindung von Armut und die Lösung der seit langer Zeit bestehenden Entwicklungsprobleme in Asien, Afrika und Lateinamerika auch eine grundlegende Transformation westlicher Gesellschaften erfordert. Dirk Nabers stellt zwei Neuerscheinungen vor, die Defizite des neoklassischen Entwicklungsmodells aufzeigen und für eine neue Entwicklungspolitik plädieren.

Es ist heute hinlänglich bekannt, dass die Überwindung von Armut und die Lösung seit langem bekannter Entwicklungsprobleme in Afrika, Asien und Lateinamerika auch eine grundlegende Transformation westlicher Gesellschaften erfordert. Darauf haben Nobelpreisträger wie Joseph E. Stiglitz und Amartya Sen wiederholt hingewiesen. Ebenso weit verbreitet ist in der Soziologie, den Politik- und Wirtschaftswissenschaften die Kritik an den unrealistischen Grundannahmen des neoklassischen Wettbewerbsmodells, das an der Analyse heutiger Entwicklungsdefizite immer wieder scheitert. Um so wichtiger ist die Betrachtung der mannigfaltigen Varianten staatlicher Entwicklung, internationaler Entwicklungszusammenarbeit und lokaler Entwicklungspraxis aus den unterschiedlichen Perspektiven verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen.

Zwei Ansätze, die sich diesem Anliegen verschrieben haben, bieten das Lehrbuch „Neue Entwicklungsökonomik“ von Rainer Durth, Heiko Körner und Katharina Michaelowa sowie die Monographie „Entwicklung gestalten – Gesellschaftsveränderungen in der Einen Welt“ des Wiener Bezirksrats und Professors für Stadt- und Regionalentwicklung Andreas Novy. So unterschiedlich die Blickwinkel der Autoren sein mögen – das eine aus der nüchternen ökonomischen Perspektive geschrieben, das andere mit einem höchst kritischen soziologischen Unterton –, so haben die Bücher doch eines gemeinsam: den Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin und damit das Angebot neuer theoretischer Erklärungen für Unterentwicklung.

Das besondere Verdienst des unter Schirmherrschaft des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) entstandenen entwicklungsökonomischen Lehrbuchs besteht darin, die ökonomische Analyse von Entwicklungsprozessen um politische, soziale und ökologische Aspekte zu erweitern. Im Gegensatz zum neoklassischen Modell berücksichtigt es Faktoren wie Marktmacht, Spillovers, unvollkommene Informationen, institutionelle Rahmenbedingungen von Entwicklung sowie – und dies ist eine Innovation – die Durchsetzbarkeit politischer Empfehlungen im politischen Prozess.

Das Buch gliedert sich in zwei große Teile. Nach einer umfassenden Analyse der mannigfaltigen Entwicklungsprobleme, die durch eine Reihe von Abbildungen und Tabellen veranschaulicht werden, widmen sich die Autoren im zweiten Teil den wichtigsten Aussagen der Neuen Wachstums- und Außenhandelstheorie, der Neuen Wirtschaftsgeographie, der Neuen Politischen Ökonomie und der Neuen Institutionenökonomik. Das überaus lesenswerte Lehrwerk wird durch einen kurzen entwicklungspolitischen Ausblick abgerundet, in dem thesenartig die Konsequenzen für die Praxis insbesondere multilateraler Geber formuliert werden.

Wichtige definitorische Fragen werden bereits in Teil I erörtert: Was heißt Armut, und in welchem Verhältnis stehen Armut und Bevölkerungsentwicklung? Wie lässt sich in Entwicklungsländern ein höheres Maß an Beschäftigung – als wichtigste Voraussetzung zur Überwindung von Armut – erzielen? Welche Rolle spielt dabei der Staat, wenn es beispielsweise um eine effizientere Gestaltung des Wirtschaftssystems und eine ausreichende infrastrukturelle Ausstattung der Volkswirtschaft geht? Und schließlich: In welchem Wechselverhältnis stehen der wachsende Druck auf nationale Umweltressourcen und die Entwicklung der nationalen Volkswirtschaft? Wie wirken sich Außenhandel, Kapitaltransfer, Verschuldung und Strukturanpassung auf die wirtschaftspolitischen Bedingungen in Entwicklungsländern aus?

Die Antworten der Autoren entstammen der ökonomischen Standardschublade, die seit Jahrzehnten geöffnet wird, wenn es um gut gemeinte Ratschläge für Entwicklungsländer geht. Neben stabilem Wachstum bleiben die Implementierung beschäftigungswirksamer Strategien und die Aufgabe protektionistischer Maßnahmen die wichtigste Prämisse wirtschaftlicher Entwicklung. Hinzu kommen überforderte Steuersysteme, die zudem noch oft durch unproduktive Finanzierungsprojekte (z.B. Rüstung) blockiert werden, eine suboptimale Ressourcenallokation durch künstlich hohe Preise im „modernen“ städtischen Sektor sowie eine Verzerrung der Geld- und Kreditmärkte durch Höchstzinsregelungen und Kreditlenkung.

Wesentlich interessanter ist für den ökonomisch interessierten Entwicklungstheoretiker der zweite Teil des Werkes. Hier werden in einer durchaus gewagten Vorgehensweise neuere ökonomische Ansätze vorgestellt, die für den besonderen strukturellen Kontext von Industrieländern entwickelt wurden. In komparativer Nord-Süd-Betrachtung werden dabei  schonungslos die Schwachstellen der Volkswirtschaften vieler Entwicklungsländer offen gelegt und Hinweise zur Überwindung struktureller Defizite gegeben. Mit der Einführung der endogenen Wachstumstheorie gelingt es den Autoren, das Wachstum systematisch mit unvollkommenen Märkten zu begründen. Immer wieder ist es der geringe Grad an weltwirtschaftlicher Integration, der zum Entwicklungshemmnis wird.

Die neue Wirtschaftsgeographie weist darüber hinaus auf Defizite beim ökonomisch sinnvollen Ausbau von Verkehrsinfrastrukturen hin, und die neue politische Ökonomie moniert die Abhängigkeit politischer Entscheidungen von interessenspezifischen Erwägungen. Es gelte daher, die institutionellen Rahmenbedingungen dahingehend zu verändern, dass die individuelle Maximierung des ökonomischen Nutzens und ein entwicklungspolitisch wünschenswertes Ergebnis miteinander vereinbar gemacht werden.

Ohne Zweifel gibt das Buch wichtige Impulse für eine effizientere Gestaltung der künftigen Entwicklungszusammenarbeit. Einen didaktisch wertvollen, als Übersicht für den entwicklungspolitischen Laien gut nutzbaren Orientierungsleitfaden bieten die acht Thesen zur politischen Praxis, die im Schlusskapitel formuliert werden. Hier wird zusammenfassend deutlich, dass Wirtschaftswachstum allein oft nicht ausreicht für eine nachhaltige Entwicklung. Alles den Marktkräften zu überlassen, ist gerade für ärmere Menschen mit Nachteilen und Risiken verbunden. So wendet sich das Buch insgesamt an eine breite Klientel: Es bietet eine Einführung in die Entwicklungsökonomik für Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen, gleichzeitig aber auch einen wirtschaftstheoretischen Leitfaden für die entwicklungspolitische Praxis. Was dem Buch letztlich fehlt, ist ein Hinweis auf die fundamentale Tatsache, dass Entwicklungszusammenarbeit eine wechselseitige Angelegenheit ist. Sie findet nicht lediglich in Entwicklungsländern statt, sondern bedarf einer Einbettung in umfassendere gesellschaftliche Veränderungen, auch in Industrieländern.

Kritische Hinweise darauf, wie über eine weitgehende Bewusstseinsänderung in der „entwickelten“ Welt nachhaltige Aufholprozesse in Afrika, Asien und Lateinamerika möglich sind, liefert hingegen die Monographie von Andreas Novy. Das Buch wendet sich an eine kritische Öffentlichkeit, die sich engagiert für nachhaltige Entwicklung in Industrie- und Entwicklungsländern einsetzt. Es ist aber auch für die Theoriearbeit in unterschiedlichen Sozialwissenschaften höchst relevant, indem die diskursive Verknüpfung von Wissen und Macht umfassend analysiert wird. Novy zeigt Wege auf, wie aus alten Strukturen entwicklungspolitischen Denkens ausgebrochen werden kann und wie es gerade Intellektuellen möglich wird, neue, effizientere und gerechtere gesellschaftliche Strukturen zu schaffen. Insofern sind vor allem die kritischen Sozialwissenschaften aufgerufen, ihre Praxis, Wissen zu produzieren, immer neu zu überdenken.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden die Grundlagen entwicklungstheoretischen Denkens reflektiert. Der Autor erörtert die Debatte zwischen politischer Ökonomie und interpretativer Sozialforschung, Positivismus und Postmoderne. Auf dieser Grundlage werden eine Reihe grundlegender definitorischer Fragen geklärt: Universelle Entwicklungskonzepte werden mit partikularen Entwicklungskonzepten kontrastiert, „Entwicklung“ im Rekurs auf den Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen als „Freiheit und Befreiung“ definiert. Entwicklung, so eine Kernaussage Novys, erfordert „Räume der Demokratie“.

Im Hintergrund des zweiten Teiles stehen Diskurs- und Strukturationstheoretiker wie Michel Foucault und Anthony Giddens. Hier geht es um den Entwurf einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie, die Entwicklung als Phänomen versteht, das den geographischen Raum sowie  kulturelle und politisch-ökonomische Aspekte miteinander verbindet. Eine Kritik an Dependenz- und Modernisierungstheorie bleibt hier nicht aus.

Der dritte Teil des Buches bietet ein Aktionsprogramm für eine kritische Sozialwissenschaft, die sich von den immer stärker werdenden Globalisierungszwängen befreit und der Überwindung einer zweigeteilten Welt verpflichtet ist. Dies ist ein intellektuelles, wissenschaftliches Unternehmen, in dem die gängige Objektivität der Entwicklungspolitik problematisiert werden soll, doch immer unter Berücksichtigung der Notwendigkeit professionellen Handelns, ständiger Evaluierungen und kompetitiver Mittelvergabe in der Entwicklungszusammenarbeit.

DasWerk ist ein Beispiel kritischer Sozialwissenschaft, das letztlich nicht in den häufig sichtbaren und für die politische Praxis wenig hilfreichen Utopismus abgleitet. Die annotierte Bibliografie am Ende eines jeden Kapitels ist sehr nützlich. Sie gibt dem Leser die Gelegenheit, Novys Gedanken, die überaus kompakt zusammengefasst sind, besser nachzuvollziehen. Wissenschaftliche Belege und die direkte Auseinandersetzung mit den Vertretern der Theorien hätten dem Buch allerdings die ihm gebührende Dimension verliehen. Wenn Novy eine „zu den Wurzeln vordringende“ und historisch-geographische Gegebenheiten berücksichtigende Analyse von Entwicklungsprozessen einfordert, begibt er sich auf einen theoretisch sehr schmalen Grat. Damit Theoriebildungsprozesse nicht zum technokratischen Unternehmen degenerieren, können sie in den Sozialwissenschaften keine andere Aufgabe haben, als die Komplexität beobachteter Phänomene zu reduzieren. Der Autor verweigert dem Leser dabei die nötige Orientierungshilfe, indem er die weitest mögliche Totalität des Wissens postuliert: „Ein Phänomen bis ins Detail zu erforschen, verschafft Einblicke in die Grundstruktur des Phänomens.“ (S. 26)

Insgesamt sind dennoch beide Bücher – das entwicklungsökonomische Lehrwerk von Durthu.a. sowie die kritische Studie von Novy – komplementär. Sie bieten, im Zusammenhang gelesen, eine sinnvolle Lektüre sowohl für die entwicklungspolitische Praxis als auch für das theoretische Studium.

Rainer Durth, Heiko Körner und Katharina Michaelowa, Neue Entwicklungsökonomik. Stuttgart: Lucius & Lucius 2002 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 2306), 269 S.,16,90 EUR.

Andreas Novy, Entwicklung gestalten. Gesellschaftsveränderungen in der Einen Welt. Frankfurt/ M.: Brandes & Apsel Verlag 2002, 160 S., 12,80 EUR.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2002, S. 61 - 64.

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