IP Special

27. Okt. 2025

Schockwellen made in China

Pekings brachiale Technologie- und Industrie
offensive dürfte zu mehr als nur einem neuen „China-Schock“ führen. Sie droht, Europas indus­trielle Wettbewerbsfähigkeit zu zerstören.

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Bild: Stand des chinesischen Autoherstellers BYD bei einer Automesse in München
Die Autoindustrie steht für die neue Dynamik: Lange dominierten die europäischen Premiummarken in China, heute kontrollieren chinesische Anbieter den heimischen Markt zu 90 Prozent, und auch hierzulande stehen Europas Autobauer stark unter Druck: BYD-Stand auf der Internationalen Automobilausstellung in München, September 2025.
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Es war die nächste Warnung, die nach der Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Sicherheitskonferenz aus München kam: Auf der Internationalen Automobilausstellung waren 14 Hersteller und rund 100 Zulieferer aus China vertreten – 50 Prozent mehr als im Vorjahr.

Auch wenn die Europäer merklich nachziehen, was Innovation und Kostenreduzierung angeht, sind die chinesischen E-Auto-Unternehmen das Maß aller Dinge. Trotz erhöhter Einfuhrzölle haben sie ihren Marktanteil in der EU verteidigt und allein im Juli 750 000 Fahrzeuge in alle Welt exportiert. Auf das Jahr hochgerechnet macht das insgesamt neun Millionen Autos. Und insbesondere in China verlieren deutsche Automobilkonzerne gegenüber ihren chinesischen Wettbewerbern weiter an Boden: Mercedes verzeichnete innerhalb eines Jahres ein Minus von 14 Prozent, BMW büßte 15,5 Prozent ein und Audi 10,2 Prozent.

Volkswagen, Audi, Ford und Daimler Truck haben im vergangenen Jahr 90 000 Stellen gestrichen. Bosch, Continental, Schaeffler und ZF weitere 25 000. Bei Unternehmen wie Thyssenkrupp, Philips und Nokia ist das Bild ähnlich düster. Nicht all diese Entwicklungen sind direkt auf China zurückzuführen. Doch wirtschaftliche Ungleichgewichte und Wettbewerbsdruck aus Peking spielen eine zentrale Rolle, wenn es um die Zukunft der europäischen Wirtschaft geht. 

Aktuelle Handels-, Investitions- und Innovationsdaten unterstreichen das: Im August 2025 hat China Deutschland aus den Top 10 der innovativsten Nationen verdrängt, deutsche und europäische Exporte nach China befinden sich im freien Fall, und Abhängigkeiten und Importe aus ­China nehmen kontinuierlich zu.

Vor diesem Hintergrund geht es für Europa längst nicht mehr nur um die Symbolkraft einer Automesse. Der Erfolg chinesischer Autos steht sinnbildlich für eine radikale Industriewende und fundamentale Verschiebungen im globalen Handel, die bereits jetzt für Turbulenzen sorgen. Chinas wirtschaftlicher Aufstieg hat die US-Industrie bereits nachhaltig ausgehöhlt. In Europa wurde dieser Effekt bislang noch abgefedert. Tatsächlich hat der Kontinent von Chinas erhöhter Nachfrage nach Maschinen, Chemikalien und Autos sogar für eine gewisse Zeit profitiert.

Damit scheint nun allerdings Schluss zu sein, denn: Europa und China befinden sich – sowohl wirtschaftlich als auch politisch – mehr und mehr auf Kollisionskurs. 


Die Überkapazitäts-Maschine

Der Grund liegt in der politischen Ökonomie der Volksrepublik. Nach der globalen Finanzkrise hat Peking sich Schritt für Schritt von der Konvergenz mit dem Westen verabschiedet. Stattdessen hat Xi Jinping sein Land auf einen neuen Kurs eingeschworen, der auf sicherheitsgetriebene, staatlich gelenkte Industrialisierung setzt.

Chinas Entwicklungslenker lehnen die Vorstellung ab, dass Konsum und Dienstleistungen langfristig im Mittelpunkt von wirtschaftlichem Wachstum stehen sollten. Stattdessen wird Kapital in die Industrie, in Spitzentechnologien und in strategisch wichtige Branchen gelenkt. Banken vergeben billige Kredite an vom Staat auserkorene Unternehmen; Kommunen halten die Produktion auch dann aufrecht, wenn die Nachfrage schwächelt; und private Investoren werden vom Immobilien- und Internetgeschäft ausgeschlossen und in Industrieprojekte gedrängt. 

Die Folgen dieser Strategie sind absehbar: Produktion in einem nie dagewesenen Ausmaß, gedrosselter Konsum – und ein Fokus auf globale Konkurrenzfähigkeit statt auf Effizienz im Kleinen oder Produktivität im Großen. Peking bezeichnet diesen Ansatz als ein „neuartiges gesamtstaatliches System“. Treffender wäre es allerdings, von einer brachialen Entwicklung zu sprechen, die auf Innovation und Produktion um jeden Preis basiert.

Auf letzterer basiert Chinas politische Ökonomie. In den meisten Branchen übersteigt das Angebot die heimische Nachfrage. Fabriken laufen weiter, weil die lokale Politik in einem System, das Stabilität über alles stellt, mehr Angst vor Entlassungen hat als vor Verlusten. Banken vergeben ohne Unterlass Kredite, weil politische Direktiven mehr zählen als Bilanzen. Investoren lenken Kapital in die Industrie, weil Immobilien und Konsumtechnologie von der Politik blockiert werden und Chinas geschlossenes Kapitalkonto es erschwert, Renditen im Ausland zu erzielen. Das Ergebnis ist eine chronische Überkapazität. 

Der Begriff neijuan, der übersetzt so viel wie „Involution“ oder übersteigerter, sich selbst erschöpfender Wettbewerb bedeutet, beschreibt diese innere Dynamik des chinesischen Systems: Unternehmen kämpfen um Marktanteile, koste es, was es wolle. Preise sinken, die Produktion steigt, und Produktivitätsgewinne werden durch Verschwendung aufgezehrt. In Europa nimmt die Involution eine andere Form an: Billigimporte gefährden Unternehmen, die mit subventionsverzerrten Preisen nicht mithalten können und gleichzeitig dazu verpflichtet sind, den Shareholder Value zu maximieren. Die Firmen können ihre Produkte zwar weiterhin verkaufen, aber nur mit schrumpfenden Margen. 

Europa wird den Folgen dieser Entwicklung nicht aus dem Weg gehen können. Die chinesische Überproduktion flutet die Märkte und drückt weltweit die Preise – eine Belastung, die subventionierte und staatsnahe oder von Provinzen gestützte chinesische Firmen überstehen können, marktorientierte europäische Privatunternehmen jedoch eher nicht. Der europäische Binnenmarkt wird so in gewisser Weise zum Entlastungsventil für Chinas Marktverzerrungen. Die Stahl-, Schiffbau-, Solar- und Aluminiumindustrie waren bereits die ersten Opfer. Mittlerweile stößt China jedoch auch in komplexere Bereiche vor: Elektrofahrzeuge, Batterien, Maschinenbau, IT-Geräte, Medizintechnik und Chemikalien. In den kommenden Jahren könnten Elektrolyseure, neuartige Materialien und moderne Pharmazeutika folgen.

Das Muster ist unverkennbar: Jedes Mal, wenn China Ressourcen in einen Sektor lenkt, sinken die Preise auf dem Weltmarkt, Margen brechen ein und ausländische Wettbewerber ziehen sich zurück – die Marktanteile verschieben sich in Richtung China. Mit dem natürlichen weltwirtschaftlichen Zyklus hat das wenig zu tun. Vielmehr ist dieser Effekt ein direktes Resultat von Chinas neuem ­Entwicklungsmodell.


Sektoraler Druck

Die Auswirkungen sind bereits in den ­Kernindustrien Europas spürbar. Selbst der deutsche Maschinenbau, lange stolz auf seinen Innovationsvorsprung, spürt den wachsenden Druck seit Jahren. Von Messen in Peking und Schanghai berichten europäische Aussteller, dass die Produkte der chinesischen Konkurrenz ungemein an Qualität zugelegt haben – und dabei mitunter sogar noch kleinere chinesische Konzerne im Nacken haben, die sie preislich unterbieten. 

Im Werkzeugmaschinenbau übersteigen die chinesischen Exporte inzwischen die Importe – und in der Robotik beansprucht die chinesische Industrie bereits fast die Hälfte des Marktes für sich. Pekings Ziel ist es, 70 Prozent der weltweiten Arbeitskraft in diesem Bereich zu stellen. In Deutschland könnte die Produktion allein dieses Jahr um 5 Prozent sinken. Der einst komfortable Vorsprung der deutschen Industrie schrumpft täglich, und abseits der technologischen Spitze verliert die Branche in wichtigen Bereichen ihre Marktanteile.

Die Chemieindustrie steht derweil gleich doppelt unter Druck. Sie kämpft nicht nur mit der Konkurrenz in China, sondern auch mit den hohen Energiekosten in Europa. Doch unabhängig davon, wo die Unternehmen angesiedelt sind: Die Auslastung der rund 60 Steamcracker (Chemieanlagen, die Rohbenzin in Ethylen, Propylen und andere Produkte spalten) in China wird in den nächsten Jahren gering bleiben – mit globalen Auswirkungen. Chinesische Produzenten profitieren dabei neben der staatlichen Unterstützung auch von günstigen Materialien und Zulieferern. Die chinesischen Exporte von Grundchemikalien und Zwischenprodukten wachsen stetig und drücken die Profitabilität europäischer Unternehmen – und das just in dem Moment, wo sich letztere strengeren Klimarichtlinien unterwerfen müssen.

Der einst komfortable Vorsprung der deutschen Industrie schrumpft, die Branche verliert abseits der technologischen Spitze wichtige Marktanteile

In der Medizintechnik und in der Pharmaindustrie zeichnen sich ähnliche Trends ab. Chinesische Firmen, die von günstigen Zulieferketten und riesigen Patientendatenspeichern profitieren, bauen Kompetenzen in Diagnostik, Bildgebung und Biotechnologie auf. Im High-End-Segment sind europäische Firmen zwar weiterhin führend. Doch ihre Margen geraten immer mehr unter Druck, die Innovationszyklen in China werden kürzer.

In kaum einer Branche wird die neue Dynamik so deutlich wie in der Automobilindustrie. Jahrzehntelang dominierten Europas Premiummarken – trotz Joint-Venture-Auflagen – den chinesischen Markt. Sie lieferten Motoren und Technologie in die Volksrepublik und genossen dort höchstes Ansehen. Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Chinesische Firmen kontrollieren 90 Prozent des heimischen Elektroautomarkts, und ausländische Marken werden dort von dem brutalen Wettbewerb erdrückt, den sich über 100 chinesische Hersteller liefern, deren Verluste (oder Mini-Gewinne) durch Staatshilfen abgesichert werden. 

Und auch in Europa stehen die Autohersteller unter enormem Druck. Chinesische E-Autos kommen nicht nur günstiger auf den Markt, sondern sind oft auch technisch überlegen. Start-ups wie Xiaomi, einst Hersteller von Handys und Haushaltsgeräten, stellen auf deutschen Rennstrecken Geschwindigkeitsrekorde auf – und Branchenriesen wie BYD skalieren ihre Produktion gleichzeitig auf mehreren Kontinenten. Für Europas Autobauer lautet das Motto deshalb: Marktanteile halten. Doch heftige strategische Anpassungen und politische Eingriffe, die bessere Wettbewerbsbedingungen schaffen, könnten viele in existenzielle Schwierigkeiten bringen.


Der Kampf um die Drittmärkte

Der China-Schock betrifft aber nicht nur den europäischen Markt. Auch auf Drittmärkten, in denen europäische Unternehmen einst stark waren, verändert die Volksrepublik das Spielfeld. In Afrika, Lateinamerika und Südostasien treten chinesische Unternehmen mit einem unschlagbaren Komplettpaket auf den Plan: Sie bieten billige Produkte, staatlich abgesicherte Finanzierungsmodelle, Infrastrukturausbau und diplomatische Absicherung an. Europäische Firmen können mit einem solchen „One-Stop-Shop“-Angebot nicht mithalten – schon allein deshalb, weil dies einer ganzen Reihe von EU-Richtlinien und politischen Normen zuwiderlaufen würde.

Chinesische Elektrofahrzeuge werden heute in Brasilien, Südafrika, Indone­sien und Thailand zu Preisen verkauft, mit denen europäische Hersteller nicht mithalten können; chinesische Solarmodule sind das Herzstück von Energieprojekten in Afrika und im Nahen Osten; chinesische Batterieproduzenten bauen Werke in Südostasien, um Lieferketten abzusichern und Zugang zu lokalen Märkten zu gewinnen; und in weiten Teilen des Globalen Südens bildet chinesische Technik das Rückgrat der 5G-Netze.

Der Faktor der globalen Reichweite ist nicht zu unterschätzen. Denn verliert Europa den Kampf um die Drittmärkte, dann entgehen dem Kontinent nicht nur wichtige Kunden, sondern auch allerlei andere Vorteile – etwa die Fähigkeit, Industriestandards zu setzen, Branchen mitzugestalten und Zukunftsindustrien zu dominieren. Wenn chinesische Firmen die digitale Infrastruktur und die grünen Technologien im Globalen Süden kon­trollieren, dann wird China automatisch zum Vorreiter der „twin transition“, der digitalen und grünen Transformation, bei der Europa führend sein wollte. Europäische Firmen riskieren also nicht nur, den wirtschaftlichen Anschluss im Ausland zu verlieren, sondern langfristig auch komplett an Relevanz einzubüßen. 


Europas Wettbewerbsfähigkeit

Chinas Aufstieg hat die US-Industrie schwer getroffen – ein Schlag, den die amerikanische Gesellschaft und Politik noch immer nicht richtig verdaut hat. Europa wurde bislang verschont, da die Stärken des Kontinents die chinesische Nachfrageexplosion gut ergänzt haben: Während des chinesischen Wirtschaftsbooms waren deutscher Maschinenbau, französische Chemie, italienische Luxuswaren, niederländische Hightech-Produkte, skandinavische Telekommunikation und europäische Medizintechnik insgesamt enorm gefragt. Die europäische Stahlindustrie sowie der italienische und spanische Schiffbau litten zwar unter dem Druck chinesischer Baukonzerne. Doch niedrigere Verbraucherpreise und günstigere Materialpreise waren kurzfristig ein Vorteil für Europa.

Heute hat sich dieses Bild stark gewandelt: Die Sektoren, die China ins Visier nimmt, sind mittlerweile genau jene, auf die Europa angewiesen ist: Automobilindustrie, Maschinenbau, Chemie, Medizintechnik, neuartige Materialien und weitere Zukunftsbranchen. Der schärfste Wettbewerb findet nicht länger in der einfachen Fertigung statt, sondern in all den Bereichen, die hochentwickelte Volkswirtschaften prägen. Europäische Unternehmen geraten mehr und mehr in Chinas „Preisstrudel“, der die globalen Märkte durcheinanderbringt, die Preise nach unten treibt und Konkurrenten in den Abgrund reißt. 

Die unmittelbare Gefahr dieser Entwicklung ist Disruption – aber auch Ero­sion und Verdrängung werden folgen. Denn selbst wenn europäische Firmen ihre Marktanteile halten können, werden sie dazu gezwungen, eine Preispolitik mitzugehen, die sie sich kaum leisten können. So sinkt ihre Rentabilität, ihre Investitionen gehen zurück und ihre Wettbewerbsfähigkeit erodiert langfristig. Zulieferer in ganz Europa – besonders Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere ­Unternehmen – bekommen es zu spüren, wenn ihre multinationalen Kunden in China und daheim Marktanteile verlieren. Die sozialen und politischen Folgen einer solchen Entwicklung könnten gravierend sein.


Europas strategisches Dilemma

Europa kann nicht erwarten, dass China seinen Kurs ändert. Staats- und Parteichef Xi Jinping wähnt sich mit seinem Entwicklungsmodell auf dem richtigen Kurs. Überkapazität und marktwirtschaftliche Verzerrungen werden zugunsten einer brachialen Entwicklung in Kauf genommen. Die Verantwortlichen in Europa ­müssen schwierige, existenzielle Entscheidungen treffen. 

Eine Option wäre es, seine Offenheit zu wahren und auf die europäische Anpassungsfähigkeit und Resilienz zu vertrauen. Die Stärke europäischer Unternehmen, kombiniert mit dem Sozialstaat, könnte den China-Schock theoretisch absorbieren und dem Abwärtsstrudel trotzen. Man könnte also schlicht darauf hoffen, dass das chinesische Entwicklungsmodell nicht langfristig tragbar ist und man es schlichtweg überdauert. Damit riskiert Europa jedoch massive Verluste und den Zusammenbruch von wichtigen Indus­triezweigen. 

Eine zweite Option wären der konsequente Schutz und die massive Förderung der eigenen Industrie. Mit Anti-Subventionsmaßnahmen, Investitionskontrollen und anderen restriktiven Instrumenten könnte Europa versuchen, den Siegeszug der chinesischen Konkurrenz auszubremsen. Strategisch wichtige Branchen könnten zusätzliche staatliche Unterstützung erhalten. Doch auch dieser Weg birgt immense Risiken: von chinesischen Vergeltungsmaßnahmen über eine Preisexplosion bis hin zu einer weiteren Fragmentierung der Weltwirtschaft. Eine protektionistische Politik mag Europa etwas Zeit erkaufen, langfristig kann sie echte Wettbewerbsfähigkeit nicht ersetzen.

Europa hat noch immer Handlungsspielräume:  Es kann proaktiv agieren, seinen Markt schützen, seine Industrien fördern und sich global engagieren

Eine dritte Option wäre derweil eine Art Balanceakt: Europa verteidigt den Binnenmarkt dort, wo die Gefahr für europäische Firmen am größten ist, und schützt vor allem seine wichtigsten Industrien. Gleichzeitig setzt man sich für faire Bedingungen auf Drittmärkten ein, schmiedet neue Allianzen und setzt neue Handelsabkommen durch. All das würde jedoch ein Höchstmaß an Koordination, Ressourcen und politischem Willen erfordern. 

Jede dieser Optionen hat einen Preis. Offenheit birgt die Gefahr des Niedergangs, Abschottung das Risiko der Konfrontation – und ein Balanceakt könnte am Ende wirkungslos bleiben. Und fast noch wichtiger ist die Frage: „Wer trägt die Kosten?“

Ein rein reaktiver Ansatz garantiert die schlechtesten Ergebnisse. Die industrielle Erosion wird sich fortsetzen, der Einfluss auf Drittmärkte wird schrumpfen, die politischen Folgekosten werden steigen. Im Zentrum müssen deshalb die eigene Offensive und Leistungsfähigkeit stehen. Ein proaktiver Ansatz erlaubt es Europa, seine eigene Entwicklung mitzugestalten – auch wenn die Herausforderung nicht völlig zu bewältigen ist. Doch wer zu lange auf die Ausarbeitung maßgeschneiderter Lösungen wartet, läuft Gefahr, dass diese zu spät greifen. 

11 Prozent: So groß ist der Anteil der Empfehlungen aus dem Draghi-Bericht, den die EU mehr als ein Jahr nach seiner Veröffentlichung umgesetzt hat. Bleibt es bei diesem Tempo, dann wird Europa mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit scheitern. Der Kontinent braucht nicht nur eine geoökonomische Überlebensstrategie, sondern rasches und entschiedenes politisches Handeln. Denn während China seine rasante Entwicklung weiter vorantreibt, richten auch die Vereinigten Staaten ihre Energie-, Finanz- und Technologie­politik grundlegend neu aus. 

Europa muss deshalb konsequent auf seine eigenen Stärken bauen: seinen Binnenmarkt, seine Offenheit, seine regulatorischen Fähigkeiten, seine extreme Fokussierung auf Innovation, Talent und Bildung. Dort muss überall politische Energie investiert werden.


Eine gesamteuropäische Strategie 

Europas industriepolitische Maßnahmen dürfen Chinas Ansatz nicht kopieren – und Nischenstrategien, die einige deutsche Autobauer verfolgen, können nicht das Modell zur Absicherung des Industriestandorts Europa sein. Die langfristigen Voraussetzungen europäischer Wettbewerbsfähigkeit – von Bildung und Forschung zu souveräner Infrastruktur – sind bislang erschreckend unterbelichtet. Der Politikmix der EU muss unternehmerische Freiheit mit staatlichen Fördermitteln, strategisch eingesetzten öffentlichen Aufträgen, der Schaffung neuer Märkte und gezielter Unterstützung von wirtschaftlichen Kernbereichen kombinieren. Solche Maßnahmen sollten jedoch stets datenbasiert sein, transparent umgesetzt werden und strikten Fristen folgen. Erfolgreiche Industriepolitik in Europa bedeutet nicht, Unternehmen dauerhaft vor Konkurrenz abzuschirmen, sondern die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Wettbewerb zu Innovation und Effizienz führt. 

Eine gesamteuropäische Strategie müsste vor allem auf einem einheitlichen Binnenmarkt aufbauen und die eigene Produktivität stärken – durch neue Finanzierungsmodelle, regulatorische Reformen und Marktintegration. Sie müsste die Produktionsqualität steigern und Innovation fördern. Und sie müsste Koalitionen jenseits bereits bestehender Partnerschaften schmieden, um neue Märkte und resiliente Lieferketten zu erschließen.

Die Schockwellen aus China und der weltwirtschaftliche Strudel, den das chinesische Entwicklungsmodell verursacht, haben Europas Fabriken, Vorstandsetagen und Gemeinden längst erreicht. Die Frage lautet nicht mehr, ob Europa die Folgen des chinesischen Aufstiegs zu spüren bekommen wird, sondern wie der Kontinent antwortet. Der Wettbewerb zwischen Europa und China ist ein Kampf der Wirtschaftsmodelle: Die eine Seite setzt auf Expansion und Stärke durch staatliche Mobilisierung. Die andere Seite baut auf Rentabilität, Normen und die Verantwortung gegenüber ihren Anteilseignern.

Europa hat noch immer Handlungsspielräume. Es kann proaktiv agieren, seinen Markt schützen, seine Unternehmen entfesseln, seine Industrien fördern und sich global engagieren. Oder es kann sich treiben lassen in der Hoffnung, dass eine moderate Anpassung an die neuen Umstände genügt. Aber das Zeitfenster für entschlossenes Handeln schließt sich – und darauf zu hoffen, dass China oder die USA ihren Kurs ändern, wäre naiv. Europa kann nicht darauf zählen, dass die Welt sich in seinem Sinne verändert. Es kann nur auf seine eigene Stärke vertrauen.


Aus dem Englischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 6, November 2025, S. 27-33

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Jacob Gunter ist Programmleiter für „Wirtschaft und Industrie“ beim Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin.

Dr. Mikko Huotari ist Direktor des Mercator Institute for China Studies (MERICS).

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