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01. Apr. 2008

Raúls vietnamesischer Weg

Versöhnung mit den USA ohne Aufgabe der Ein-Parteien-Herrschaft?

Nach dem Ende der Ära Fidel unterzeichnet Kubas neuer Staatschef Raúl Castro UN-Menschenrechtsabkommen, verspricht eine Öffnung der Wirtschaft und fordert die Bevölkerung zu Kritik auf. Washington gegenüber zeigt er sich versöhnlich. So könnten die USA wie auch Kuba ein Feindbild verlieren – eine Herausforderung für den Karibik-Sozialismus.

Fast ein halbes Jahrhundert lang war Fidel Castro nicht nur Kubas Staatschef, sondern agierte auch auf der Bühne der Weltpolitik. Mit der Amtsübergabe an seinen jüngeren Bruder Raúl, der lieber über wirtschaftliche Effizienz als über den Lauf der Weltgeschichte redet, schrumpft Kuba wieder auf Normalmaß. Und darin liegen Chancen. Die Frage ist nicht nur, ob Kuba unter Raúl dem „chinesischen Modell“ wirtschaftlicher Reformen unter Kontrolle der Kommunistischen Partei folgt, sondern auch, ob die Insel 90 Meilen vor der Küste Floridas außenpolitisch den „vietnamesischen Weg“ gehen kann: eine Aussöhnung mit den USA ohne Aufgabe des politischen Monopols der Einheitspartei.

Kubas außenpolitischer Richtungswechsel war bereits in den zurückliegenden 19 Monaten zu erkennen, während derer Raúl noch als Regierungschef auf Interimsbasis agierte. Zunächst einmal schlicht dadurch, dass Raúl keine außenpolitischen Schlagzeilen machte: Während Fidel in seinen letzten Amtsjahren mit leichter Hand diplomatische Mindeststandards missachtete (etwa indem er Tonbandaufzeichnungen vertraulicher Gespräche mit anderen Staatsoberhäuptern öffentlich machte) oder ohne Bedenken in die Kiste verbaler Ausfälle griff, trat Raúl Castro als berechenbarer Staatsmann auf. Die Rolle des antiimperialistischen Polterers übernahm Venezuelas Präsident Hugo Chávez nur zu gerne. In Raúls Reden hingegen waren versöhnliche Gesten gen Washington fester Bestandteil.

Auch Europa gegenüber signalisierte Fidels Nachfolger, dass bei aller Kontinuität der Revolution doch eine erhebliche Dosis an Entspannung Platz hat – sei es, dass der Film „Das Leben der Anderen“ über das traumatische Wirken der Stasi im Rahmen der Filmfestspiele in Havanna gezeigt werden konnte oder dass der mit der spanischen Regierung begonnene Menschenrechtsdialog mit der Freilassung von vier politischen Gefangenen honoriert wurde. Noch unter deutscher Ratspräsidentschaft hatte sich die EU zudem im Juni 2007 auf ein gemeinsames Schreiben geeinigt, das die Regierung Raúl zu einem Dialog ohne Vorbedingungen nach Brüssel einlud. Die unmittelbare Reaktion war schroff, doch letztlich kaum mehr als eine Nebelkerze. Wenig später signalisierte die kubanische Regierung grundsätzliche Gesprächsbereitschaft.

Der diplomatische Paukenschlag aber erfolgte im Dezember, als Kubas Außenminister Felipe Pérez Roque erklärte, Kuba werde sowohl das UN-Abkommen zu wirtschaftlichen und sozialen als auch das zu politischen und bürgerlichen Rechten unterzeichnen. Am 28. Februar, nur vier Tage nach Raúls formeller Amtseinführung, folgte die Unterschrift. In der internationalen Presse ist die Bedeutung dieses Schrittes kaum ausreichend gewürdigt worden. Er markiert wie kein zweiter den Bruch mit der Ära Fidel.

Denn auch wenn Raúl Castro seine Antrittsrede mit Dutzenden von Fidel-Zitaten spickte und Kubas Nationalversammlung gar bat, seinen Bruder in jeder wichtigen Angelegenheit konsultieren zu dürfen: Die Macht im Land liegt längst bei Raúl. Die vielerorts gern gepflegte These, dass Fidel Castro nach wie vor die Macht hinter dem Thron innehabe, hat mit der Realität auf der Insel nicht mehr viel zu tun. Seine Rolle als hofierter Elder Statesman gleicht zunehmend einem goldenen Käfig. Fidels Kolumnen in der Parteizeitung geben davon beredt Zeugnis. In ihnen geht es um internationale Politik, globale Probleme und historische Erinnerungen; Innenpolitik oder gar konkrete Maßnahmen der Regierung Raúls hingegen sind für den einstigen „Oberkommandierenden der kubanischen Revolution“ inzwischen offenkundig off limits. Fidel Castros letzter Versuch einer offenen Einmischung in die Politik seines Bruders wurde zu einer Demonstration seiner Ohnmacht. Nachdem Außenminister Pérez Roque bekanntgegeben hatte, Kuba werde die beiden Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen unterschreiben, ließ Fidels Antwort keine zwei Tage auf sich warten: Kubas Staatsfernsehen verlas einen Brief des kranken Comandante en Jefe, in dem dieser die Ablehnung des UN-Pakts zu sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten zur Prinzipienfrage erhob. Reaktion auf Fidels Kritik: Keine. Das Machtwort des einst all-mächtigen Comandante blieb unwidersprochen, aber auch ungehört. Zudem rieben sich die Beobachter auf der Insel verblüfft die Augen, dass der im Fernsehen verlesene Brief Fidels das zweite Abkommen, das über politische und Bürgerrechte, mit keinem Wort erwähnte. Dabei ist offenkundig, dass dieses für ein Ein-Parteien-System wie das kubanische noch weiter reichende Konsequenzen hat – kaum vorstellbar, dass Fidel Castro dazu keine Meinung haben sollte.

Sicherlich, mit einer Unterschrift in New York sind die Bürgerrechte in Kuba noch nicht umgesetzt. Dennoch akzeptiert dieser Schritt einen international anerkannten Rechtskodex als Messlatte, an dem die Kubaner ihre Regierung künftig legitimerweise -messen können. Während manche Dissidenten die Unterzeichnung der Abkommen als Farce abtun, sehen andere darin einen zentralen Ansatzpunkt für politische Veränderung, ähnlich der Schlussakte von Helsinki im Kalten Krieg. So schreibt etwa die regimekritische Internet-Zeitung -Consenso in ihrem Editorial vom 29. Februar 2008: „Der Unterschrift muss nun eine Aktualisierung der entsprechenden kubanischen Gesetzgebung folgen (…) Jetzt müsste unter anderem der Inhalt der unterzeichneten Abkommen in Kuba verbreitet werden.“

Noch ein letztes brachte diese Episode zu Tage: Außenminister Felipe Pérez Roque, der mehr als irgendjemand sonst in Kubas Führung als persönlicher Ziehsohn Fidels gilt, ist keineswegs der fundamentalistische „Taliban“, als der er gerne etikettiert wird. Aller flammenden Rhetorik zum Trotz erweist er sich als pragmatischer Opportunist, der selbstverständlich von Fidel abrückt, wenn er erkennt, dass die für seine weitere Laufbahn entscheidende Macht inzwischen bei Raúl liegt. Ja, so Pérez Roque auf der Pressekonferenz, Kuba unterschreibt die UN-Abkommen; und ja, wir teilen vollständig die Einwände des Comandante. Der zweite Teil ist Huldigung, der erste Teil Politik.

An derartige diskursive Akrobatik wird man sich gewöhnen müssen. Was auch immer die Nachfolge-Regierung tut, es wird im Namen Fidel Castros geschehen. Seit letztem Jahr ist in Kuba allenthalben ein Fidel-Zitat aus dem Jahre 2000 auf Stellwände und Transparente tapeziert: „Revolution heißt, all das zu verändern, was verändert werden muss!“ Eine Generalvollmacht, die jeder nach Belieben interpretieren kann. Auch wenn Hugo Chávez aus Caracas tönt, Fidel bleibe der Comandante en Jefe der kubanischen Revolution: Die neue Führung in Havanna ist sich ganz offenbar sicher, dass Fidel nicht mehr öffentlich darüber urteilen kann, ob er sich mit den in seinem Namen erfolgenden Veränderungen richtig verstanden fühlt.

Das „chinesische Modell“ …

Raúl Castro war 49 Jahre lang der loyalste Vize, den man sich denken kann. Sein ganzes Leben ist mit dem Prozess der Revolution und ihrem politischen System verbunden. Wenn er von Reformen spricht, dann mit Sicherheit, um dieses Projekt zu retten, und nicht, um es zu stürzen. Auch wenn er für mehr Debatten und internen Pluralismus plädiert, das Ein-Parteien-System steht nicht zur Debatte, bekräftigte Raúl Castro erst kürzlich wieder bei der Wahl zur Nationalversammlung, bei der exakt 614 Kandidaten für 614 Sitze kandidierten. Wenn in einem solchen Rahmen von wirtschaftlicher Öffnung die Rede ist, liegt es nur allzu nahe, die Parallele zum „chinesischen Modell“ zu ziehen. Als reine Chiffre für ökonomische Reform ohne politische Liberalisierung funktioniert der Vergleich. Der Versuch jedoch, den Weg der chinesischen KP zum Modell für die kubanischen Genossen zu erheben, ist mit erheblicher Vorsicht zu genießen.

Zunächst einmal geht es um viel kleinere Schritte, die nicht an Pekings Politik, sondern an die kubanischen Reformen der frühen neunziger Jahre anknüpfen. Nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Verbündeten in Übersee griff die kubanische Führung zu „Maßnahmen, die uns nicht gefallen“, wie Fidel Castro bekannte: die Zulassung einiger Kleingewerbe als Arbeit auf eigene Rechnung, die Umwandlung von Staatsfarmen in Produktionsgenossenschaften, die Legalisierung des US-Dollar-Besitzes sowie, auf dem Tiefpunkt der sozialen Krise 1994, die Eröffnung von Bauernmärkten. Gerade dieser letzte Schritt wird unmittelbar mit Raúl Castro verbunden. Während sein Bruder immer wieder die Gefahren betont hatte, die die mit freien Agrarmärkten verbundene Bereicherung von Bauern und Händlern darstelle, versuchte Raúl, diese Märkte öffentlich zu rehabilitieren. Nahrungsmittel, so der Verteidigungsminister damals, seien „die oberste ökonomische, politische und militärische Priorität“ des Landes.

Mit der wirtschaftlichen Stabilisierung ab Mitte der neunziger Jahre setzte Fidel Castro dieser Reformdynamik jedoch wieder ein Ende. Die zunehmend enger werdenden Beziehungen zu Venezuela mit dem für Kuba sehr vorteilhaften Export von Dienstleistungen gegen Erdöllieferungen ab dem Jahr 2000 nahmen den wirtschaftlichen Druck für Reformen noch weiter zurück. Die -Regierung in Havanna verkündete zweistellige Wachstumsraten. Das leicht verfügbare Geld für Lebensmittelimporte führte dazu, dass die nationale Nahrungsmittelproduktion auf neue Rekordtiefen sank. Rund ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche liegen kubanischen Schätzungen zufolge inzwischen brach.

So ist es kein Wunder, dass die unter Raúl neu initiierte Debatte nicht zuletzt an einer Wiederbelebung der heimischen Landwirtschaft ansetzt. Dabei geht es um Verpachtung von Staatsland an Kleinbauern, höhere -Ankaufpreise für ihre Produkte, mehr Entscheidungsautonomie für Kleinbauern, Genossenschaften und Staatsfarmen und weniger Gängelung durch den Plan, Märkte für Produktionsmittel wie Dünger, Werkzeuge und Maschinen. Die Umsetzung steht noch aus, doch die Richtung ist deutlich. Und auch, dass die Reformschritte im Agrarbereich durchaus als Wegbereiter für Veränderungen in der übrigen Wirtschaft des Landes gesehen werden.

… und der „vietnamesische Weg“

Zentrale Einschränkungen für jeden Vergleich mit dem „chinesischen Modell“ betreffen die Größe der nationalen Ökonomie, die Einbindung in die Weltwirtschaft, das Verhältnis zu den USA, und auch die kubanische Exilgemeinde mit ihren ökonomischen Ressourcen und politischen Ambitionen. Kuba ist kein Milliardenreich, sondern eine kleine, immer schon sehr außenhandelsabhängige Karibikinsel vor den Türen der USA. Mit einer weitergehenden wirtschaftlichen Öffnung ist in Kuba unweigerlich auch das Verhältnis zu den USA mit zu verhandeln. Insofern ist gerade außenpolitisch der Blick auf den Fall Vietnam womöglich aufschlussreicher als der zur Weltmacht China.

Als Anfang der neunziger Jahre Vietnams KP einen Prozess der Wirtschaftsreform, die so genannte Doi- Moi-Politik, begann, war diese begleitet von einer konsequenten Strategie außenpolitischer Normalisierung: Rückzug der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha, Aussöhnung mit China, Beitritt zum ASEAN-Bündnis, Kooperationsabkommen mit der EU und schließlich, 20 Jahre nach Ende des Vietnam-Kriegs, die Aufhebung des US-Handelsembargos und die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Washington. Seit Abschluss eines Handelsabkommens im Dezember 2001 sind die USA zum wichtigsten vietnamesischen Exportmarkt aufgestiegen – all dies ohne am Machtmonopol der Kommunistischen Partei zu rütteln.

In der Ära Fidel war so ein Weg für Havanna genauso wenig denkbar wie für die USA. Fidel Castro war nicht nur für die Linke eine Symbolfigur, er war es genauso für die Rechte. Ohne ihn schrumpft Kuba auch für die USA auf Normalmaß zurück. Wie viele Emotionen ruft ein blasser Raúl Castro zwischen Boston und San Diego, zwischen Seattle und Arkansas noch hervor? In der Nach-Fidel-Ära werden sich die Hardliner des kubanischen Exils nicht mehr auf den automatischen Schulterschluss mit Mainstream America verlassen können. Auch wenn seine Kandidatur nicht erfolgreich war, hatte der republikanische Präsidentschaftsbewerber Mitt Romney sogar vielen seiner konservativen Parteifreunde aus der Seele gesprochen, als er sagte: „Die einzige Gefahr für die nationale Sicherheit der USA, die von Kuba ausgeht, ist ein interner Kontrollverlust, der zu einem Massenexodus führt.“ Und Romney weiter: „Der einzige Weg, damit die Kubaner dort bleiben, ist eine starke Regierung.“ Und wenn das die von Raúl Castro wäre, so what?

Mit dem Beginn der Post-Fidel-Ära kommt auch Bewegung in die Kuba-Politik der USA. Unmittelbar nach Bekanntwerden von Fidels Amtsverzicht unterschrieben 108 Kongressabgeordnete beider Parteien einen Brief, der eine umfassende Revision der bisherigen Embargo-Politik fordert. Selbst aus dem Außenministerium waren neue Töne zu hören: Hieß es bisher, eine „succession“ – also eine Nachfolge innerhalb des Regimes – sei genau das Gegenteil der angestrebten „transition“ zu Demokratie westlicher Prägung, so ließ das State Department nun verlauten, die erfolgten Veränderungen seien „bedeutend“.

Bis zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst sind kaum große Veränderungen zu erwarten. Danach aber wird die Frage einer rationaleren und pragmatischeren Kuba-Politik mit Macht auf die Agenda Washingtons rücken – unabhängig vom Wahlsieger. Barack Obama hat sich mit seinem Plädoyer für direkte Verhandlungen ohne Bedingungen am weitesten vorgewagt. Während Hillary Clinton eine abgeklärte, moderate Haltung dagegen setzt, sucht John McCain die rhetorische Nähe zu den Hardlinern des kubanischen Exils, um den Schlüsselstaat Florida auf seine Seite zu ziehen. Doch auch so gestandene Kalte Krieger wie die ehemaligen republikanischen Vize-Außenminister Bernard Aronson und Richard Armitage, die jetzt zu McCains außenpolitischen -Beratern gehören, rücken bereits weit ab von Washingtons derzeitiger Kuba-Politik. Die Beschränkungen von Geldsendungen aus den USA an Fa--milienangehörige auf der Insel sowie von Besuchen in der alten Heimat sind die ersten Sanktionen, die mit Sicherheit zur Debatte gestellt werden, sobald die Wahlstimmen in Florida ausgezählt sind. Auch von der Etablierung direkten Flugverkehrs ist die Rede. Die Hafenbetreiber in Texas, Florida und Louisiana drängen längst darauf, die Sanktionen im Schiffsverkehr aufzuheben; die großen Erdölkonzerne wollen bei der Off-Shore-Exploration neuer Vorkommen in kubanischen Gewässern nicht außen vor bleiben; und die amerikanischen Tourismuskonzerne gönnen es den Europäern und Kanadiern schon seit langem nicht, dass sie ihnen den kubanischen Markt kampflos überlassen müssen.

Erstmals gibt es also realistische Aus-sichten dafür, dass sich die großen politischen Koordinaten der Kuba-Politik Washingtons verschieben könnten. Pate stehen könnte die Normalisierung der Beziehungen zu Vietnam. Für den Machterhalt des kubanischen Sozialismus, der sich ein halbes Jahrhundert ganz entscheidend über das Feindbild USA legitimiert hat, wäre dies vermutlich eine noch größere Herausforderung als die Amtsnachfolge Fidel Castros durch seinen Bruder geräuschlos über die Bühne zu bringen.

Dr. BERT HOFFMANN, geb. 1966, ist Politologe und stellvertretender Direktor am Institut für Lateinamerika-Studien des German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2008, S. 90 - 95

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