Nichts ist gut in Afghanistan
… und wenig beim Nachbarn Pakistan: Neue Bücher über eine Krisenregion
Mehr als zehn Jahre nach Beginn der Militärintervention in Afghanistan ist von einem funktionierenden Staat am Hindukusch nur in Ansätzen etwas zu erkennen. Korruption und Drogenhandel blühen, die Taliban sind auf dem Vormarsch. Kaum besser ist die Lage in Pakistan, dem Schlüsselstaat für eine Lösung des Konflikts. Vier Neuerscheinungen.
Die Aussichten für Afghanistan könnten trüber kaum sein. Mehr als zehn Jahre nach Beginn der Militärintervention hat die internationale Gemeinschaft keines ihrer Ziele erreicht. Im Gegenteil. Die Taliban, die niedergerungen werden sollten, sind auf dem Vormarsch. Ein funktionierender Staat mit Gewaltmonopol ist, wenn überhaupt, nur schemenhaft zu erkennen. Stattdessen blühen Korruption und Drogenhandel, an denen die politische Elite gut verdient.
Nichts ist gut in Afghanistan. Und wenig beim Nachbarn Pakistan. Beide Staaten müssen in einem Atemzug genannt werden, denn der Konflikt in dem einen Land ist ohne das andere nicht zu lösen.
So lautet das Fazit nach der Lektüre von vier Büchern, die sich mit Afghanistan und Pakistan beschäftigen. Dass nun mit Vertretern der Taliban über die Zukunft Afghanistans verhandelt wird, mag eine unangenehme Vorstellung sein, ist aber der Realität geschuldet. Die radikal-islamische Bewegung ist ein bedeutender Spieler am Hindukusch, der mit Gewalt nicht besiegt werden kann. Vielmehr gleicht er einer Hydra: Wird irgendwo ein Anhänger der Taliban getötet, rekrutieren sie an seiner statt zwei Neue.
Das Label „Taliban“
Sehr ausführlich beschreibt der Sammelband „Der Taliban-Komplex“ Geschichte, Struktur und Denkweise der Bewegung. Erfolgreich sind die Radikalislamisten nicht zuletzt wegen ihrer einfachen Schwarz-Weiß-Ideologie, in der sich religiöse Elemente mit solchen aus dem paschtunischen Stammeskodex mischen, wie Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network in seinem Aufsatz erläutert. Die Welt teilen sie strikt in Gut und Böse sowie in Gläubige und Ungläubige ein. Das ist leicht zu verstehen und vage genug, um die Masse hinter sich zu sammeln. Die Taliban nutzen die Macht der großen religiösen Erzählung.
Zudem sind ihre Organisationsstrukturen hoch entwickelt. Die heterogene Taliban-Bewegung setzt sich aus einem komplexen Geflecht regionaler Netzwerke zusammen, die durch familiäre, politisch-ideologische und freundschaftliche Beziehungen fest verknüpft sind. Regionale Anführer genießen „relativ viel Handlungsfreiheit“.
Überhaupt handelt es sich bei der Bewegung eher um ein „Franchising-System, in dem das Label ‚Taliban‘ öffentlichkeitswirksam verwendet wird, um gegen die herrschende Ordnung zu rebellieren“, wie Conrad Schetter und Jörgen Klußmann in der Einleitung zu ihrem Buch schreiben. Auch die Hierarchie von oben nach unten ist gut ausgebaut. Reicht das nicht, greifen die Taliban zu Terror und Gewalt, um ihre Ziele durchzusetzen. In die Hände spielt ihnen auch, dass sich die Regierung von Präsident Hamid Karsai nicht nur als schwach, sondern auch als äußerst korrupt erweist. Zudem treibt die hohe Zahl der Menschen, die dem Militäreinsatz der westlichen, „ungläubigen“ Mächte zum Opfer fallen, die Afghanen zurück in die Arme der Taliban.
Cornelius Friesendorf sieht in diesem Zusammenhang auch den Aufbau der Afghan National Police (ANP) äußerst kritisch. Deutschland, zunächst Führungsnation beim Polizeiaufbau, habe die Aufgabe falsch eingeschätzt und zu wenig Kräfte geschickt. Später trieben die Vereinigten Staaten die Paramilitarisierung der Polizei voran, was dem „Geist ziviler Polizeiarbeit“ zuwiderläuft und dem Ansehen der ANP unter den Afghanen schadete.
Angekündigtes Scheitern
Die Taliban, sie trieben natürlich auch den heutigen Grünen-Bundestagsabgeordneten Tom Koenigs um, als er von Frühjahr 2006 bis Ende 2007 die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) leitete. Koenigs sieht sie in seinem Buch „Machen wir Frieden oder haben wir Krieg?“ trotz ihrer terroristischen Mittel als politische Bewegung: „Ich bestehe da so drauf, weil man mit der Reduzierung auf ‚Terrorismus‘ immer auch gleich meint, dass man mit denen nicht reden soll oder kann. Mit Terroristen verhandelt man nicht – sondern bekämpft sie, scheinbar am besten militärisch.“
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in diesem religiös-nationalistisch aufgeladenen Konflikt ausgerechnet ein früherer linker Straßenkämpfer die UNAMA übernahm, der der antinationalen und antireligiösen 68er Sponti-Bewegung angehörte und sein Erbe einst dem Vietcong spendete.
Dem Buch tut das durchaus gut. Versammelt sind hier die Emails, die Koenigs in seiner Afghanistan-Zeit an seine Familie und engste Freunde schrieb. Dementsprechend persönlich und vor allem undiplomatisch schreibt er an vielen Stellen. Gegenüber anderen Akteuren wahrt er eine manchmal geradezu despektierliche Distanz. Koenigs agiert in den Strukturen, ohne sich von ihnen vereinnahmen zu lassen. Da ist er bis heute der antiautoritäre 68er geblieben.
Für den Leser ist das vergnüglich, vor allem weil Koenigs nicht nur häufig in einem ironisch-süffisanten Tonfall, sondern durchaus elegant schreibt. Da schildert er etwa, wie er den früheren afghanischen König besucht, einen Mann „in einem schlichten, schlechten und schlecht sitzenden braunen Anzug, preußisch krumme Nase, Schnauzbärtchen aus der Hitlerzeit, uralt“. Und schwerhörig, weshalb bei der halbstündigen Audienz ein wirkliches Gespräch kaum möglich ist.
Genervt ist Koenigs von den deutschen Besuchern „aus dem politischen Raum, die nur mal wissen wollen, wie es eigentlich so steht in Afghanistan“, womit er, jetzt selbst Bundestagsabgeordneter, wohl vor allem Parlamentarier meinen dürfte: „Dann bringe ich die Erdferkel-Nummer: ‚Haben Sie im Zoo das junge Erdferkel gesehen? Nein? Da müssen Sie unbedingt hin. Ach, wie ist es possierlich!‘“
Eine stringente Analyse bekommt der Leser nicht, wohl aber interessante Einblicke in die manchmal grotesken Gepflogenheiten der diplomatischen Welt. Am Ende bleibt vor allem der Eindruck, wie planlos viele Akteure handeln, wir sehr sie oft mehr gegeneinander als miteinander arbeiten – und wie massiv die einheimischen politischen Eliten, aber auch die internationale Gemeinschaft dabei versagt haben, einen funktionierenden Staat aufzubauen. Die jüngste Geschichte Afghanistans, sie ist die Chronik eines angekündigten Scheiterns.
Kasernenhofdemokratie
Ganz so dramatisch stellt sich die Lage in Pakistan nicht dar. Aber auch das Nachbarland ist weit davon entfernt, ein stabiler Staat zu sein. Viele Beobachter fürchten, Pakistan könne sich „talibanisieren“ und zerfallen, was wegen des Atomwaffenarsenals große Ängste auslöst. „In keinem anderen Land liegen Al-Kaida-Camps und Atomwaffenlager geographisch so nah beieinander wie in Pakistan“, stellt Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in seinem Buch „Brennpunkt Pakistan“ fest.
Wagner beschreibt das Land als „Kasernenhofdemokratie“, in der das Militär die wichtigste Kraft ist, der sich die Politik unterzuordnen hat. Weder die Armee noch ihr gefürchteter Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) unterliegen einer parlamentarischen Kontrolle. Neben politischer Macht besitzt das Militär eigene Wirtschaftsimperien, es ist nicht nur „ein Staat im Staate, sondern auch eine sich selbst reproduzierende Einrichtung“. Ganz nach dem geflügelten Wort: „Alle Länder habe eine Armee, Pakistan ist der einzige Fall, in dem eine Armee ein Land hat.“
Um die Vorherrschaft der Uniformierten zu brechen, müssten die demokratischen Kräfte das Primat der Politik durchsetzen – was Wagner für unwahrscheinlich hält. Die Parteien nämlich haben sich in diesem System eingerichtet, sie lassen sich gegeneinander ausspielen und paktieren mit dem Militär, wenn es günstig erscheint. Korruption und Patronage grassieren, die Großkopferten füllen sich die Taschen.
Das Staatsverständnis großer Teile der Elite scheine „von einer skrupellosen Selbstbedienungsmentalität“ geprägt zu sein, urteilt Wagner in seinem sehr kundigen Buch. Mit der Aufgabenteilung zwischen Militär und Politik kann im Übrigen auch die internationale Gemeinschaft gut leben – für sie nämlich garantiert die Armee die Sicherheit der pakistanischen Nuklearwaffen. Dafür nimmt sie scheindemokratische Zustände gerne in Kauf.
Komplex ist die Lage in Pakistan vor allem deswegen, weil viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen: der Kaschmir-Konflikt mit Indien, der sich auch auf Afghanistan auswirkt; neben religiösen vor allem ethnische Konflikte in einem Staat, der nie wirklich eine Nation geworden ist; nicht zuletzt die Stammesgebiete im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, die sich jedem staatlichen Gewaltmonopol entziehen – was sich Al-Kaida und Taliban zunutze machen.
Scheitert Pakistan? Fast ist der Leser am Ende überrascht, dass Wagner Pakistan zwar auf unabsehbare Zeit für ein „Sorgenkind“ hält, die allerdüstersten Szenarien dennoch ausschließt. Er sieht keine Anzeichen für eine „Talibanisierung“ oder Herrschaft der Religiösen.
Die Mehrheit der Pakistanis sei geprägt durch den moderaten Islam der Sufis, der südasiatische Islam zudem fragmentiert und durch ideologische Gegensätze geprägt. Die staatlichen Institutionen genössen trotz geringer Leistungsfähigkeit ein hohes Ansehen in der Bevölkerung. Wagners Fazit: Pakistan ist „weit davon entfernt, ein gescheiterter Staat wie Somalia zu sein, in dem sich staatliche Institutionen durch den jahrelangen Bürgerkrieg aufgelöst haben“.
Nur ein demokratischer Anstrich
Während Wagner den Militärgeheimdienst ISI nur am Rande behandelt, widmet ihm Hein G. Kiessling in seinem Buch über die Geheimdienste Pakistans und Indiens fast 300 Seiten. Akribisch beschreibt er die Geschichte und Strukturen des „Inter-Services Intelligence“. Sein Wissen stützt sich vor allem auf seine Erfahrungen als Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung in Pakistan. Ausführlich legt er dar, wie der ISI die Taliban mit aufgebaut hat und bis heute enge Verbindungen zu ihnen hält. Das Buch bietet zwar viele Informationen, ihm fehlt es jedoch an Prägnanz, oft auch an Schärfe. Kiessling ist eher Sammler als Analyst. Geschmälert wird die Qualität des Bandes auch durch den hölzernen Schreibstil.
Nach dem Ende der Militärherrschaft Pervez Musharrafs 2008 schien es so, als könne die neue Regierung den Geheimdienst unter ihre Kontrolle bringen. Mehr als einen „demokratischen Anstrich“ aber kann Kiessling nicht erkennen, wofür er – wie Wagner – nicht nur die Generäle, sondern auch die Politiker verantwortlich macht. Optimistisch stimmt das für die Zukunft des Landes nicht.
Conrad Schetter, Jörgen Klußmann: Der Taliban-Komplex.Zwischen Aufstandsbewegung und Militäreinsatz. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2011. 270 Seiten, 29,90 €
Tom Koenigs: Machen wir Frieden oder haben wir Krieg? Auf UN-Mission in Afghanistan. Berlin: Wagenbach Verlag 2011, 272 Seiten, 19,90 €
Christian Wagner: Brennpunkt Pakistan. Islamische Atommacht im 21. Jahrhundert. Bonn: Dietz Verlag 2012, 168 Seiten, 16,90 €. Erscheint im Mai.
Hein G. Kiessling: ISI und R&AW – Die Geheimdienste Pakistans und Indiens. Konkurrierende Atommächte, ihre Politik und der internationale Terrorismus. Berlin: Verlag Dr. Köster 2011, 420 Seiten, 29,80 €
JAN KUHLMANN arbeitet als Publizist in Berlin.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S.132-135