Die Schuld des Westens
Wofür die USA und Europa in Nahost verantwortlich sind – und wofür nicht
Ein Pulitzer-Preis-gekröntes Werk über den IS, eine mängelbehaftete und lückenhafte Anklageschrift gegen die USA, ein faktenreiches Porträt Saudi-Arabiens: Drei Neuerscheinungen, drei unterschiedliche Ansätze, doch ein gemeinsames Fazit – im Umgang mit der Region mangelt es dem Westen nach wie vor an strategischer Vernunft.
Die Nahost-Politik der USA war in den vergangenen 15 Jahren alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Zunächst war es George W. Bush, der das Land und seine willigen Verbündeten in das Irak-Abenteuer führte, unter dessen Folgen die Region bis heute schwer zu leiden hat. Sein Nachfolger Barack Obama wiederum lehnte ein eigenes militärisches Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg bis zum Ende seiner Amtszeit ab. Letztlich musste er sich vorhalten lassen, zu wenig unternommen zu haben und dadurch für die Eskalation verantwortlich zu sein.
Kein Wunder, dass das Fazit selten bis nie positiv war, wenn Wissenschaftler oder Publizisten die amerikanische Nahost-Politik unter die Lupe genommen haben. Das gilt auch für zwei neue Bände, die sich auf ganz unterschiedliche Weise diesem Thema widmen: Der amerikanische Journalist Joby Warrick zeichnet in seinem reportageartigen Buch „Schwarze Flaggen“ nach, wie die USA den Aufstieg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) überhaupt erst möglich gemacht haben. Der deutsche Publizist Michael Lüders arbeitet sich in „Die den Sturm ernten“ an der Nahost-Politik der USA und anderer Länder aus dem Westen ab und macht sie für die Eskalation des Konflikts verantwortlich.
Eine Nahaufnahme
Joby Warrick wird in den USA mittlerweile in einem Atemzug mit Recherchegrößen wie Bob Woodward genannt. Auch für „Schwarze Flaggen“ hat der Reporter der Washington Post wieder über Jahre hinweg akribisch recherchiert. In den USA und im Nahen Osten, dort hauptsächlich in Jordanien, führte er zahlreiche Interviews mit Augenzeugen, Geheimdienstlern und anderen Regierungsmitarbeitern.
Behörden gewährten ihm Zugang zu unveröffentlichten Geheimdienstquellen. Das hat es Warrick ermöglicht, aus einem bisher unerschlossenen Fundus an Informationen zu schöpfen, mag aber zuweilen seinen Blick trüben, wenn es gilt, die Arbeit der Geheimdienstler zu beurteilen.
Detailliert beschreibt Warrick die ersten Jahre der IS-Vorläuferorganisation. Dem Spiritus rector der Miliz, dem Jordanier Abu Muhammad al-Maqdisi, und dem ersten Anführer der Organisation, dessen Landsmann und Vertrauten Abu Musab az-Zarqawi, nähert er sich so präzise an wie kaum ein Autor vor ihm.
So traf Warrick den Gefängnisarzt Basel al-Sabha, der die beiden als junger Mediziner im jordanischen Hochsicherheitsgefängnis Al-Dschafr behandelte. Eine Art „Vorgeschmack auf die Hölle“ sei dieses Gefängnis, schreibt der Autor, der den Ort und die handelnden Personen so genau und intensiv schildert, dass der Leser das Gefühl bekommt, selbst dabeigewesen zu sein.
Az-Zarqawi wurde 2006 bei einem Militärschlag getötet. Was sein Charisma als Anführer ausmachte, bekommt bei Warwick klare Konturen: dunkles Haar, eine kräftige Statur und Schultern, die zu einem Ringer gepasst hätten. Als der junge Arzt dessen Augen sah, wusste er: „Diese Augen würde er nie wieder vergessen. Sie lagen tief in ihren Höhlen und wirkten im gedämpften Licht der Zelle fast schwarz, und doch offenbarten sie eine kalte Intelligenz.“
Az-Zarqawi erscheint bei Warwick als ein Mann, der für seine Brutalität gefürchtet war, der quasi Befehle erteilen konnte, ohne sie aussprechen zu müssen – ein geborener Anführer und „ein Mann der Tat, der vor nichts zurückschreckte“. Es sind Schilderungen wie diese, für die Warricks Buch völlig zu Recht mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Dieses Werk gehört zum Besten, was über den IS bislang geschrieben wurde.
Blind gegenüber der Realität
Analytisch bleibt Warrick allerdings in den üblichen Bahnen. Auch er zeichnet nach, wie sich die Bush-Administration geradezu obsessiv in den Irak-Krieg stürzte, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie man die Zeit danach gestalten wollte. Mit der Auflösung der Armee und der Entlassung aller Mitglieder von Saddam Husseins Baath-Partei entstand ein fruchtbarer Boden, auf dem az-Zarqawis Terror gedeihen konnte.
„Die Strategie, der sich die USA im Frühjahr und Sommer 2003 im Irak bedienten, passte so gut zu Abu Musab az-Zarqawis Plänen, als hätte er sie den Amerikanern persönlich diktiert. Az-Zarqawi konnte in aller Ruhe sein eigenes Terrornetzwerk aufbauen“, urteilt Warrick.
Als Terroranschläge zur fast täglichen Routine geworden waren, tat die amerikanische Regierung immer noch so, als wüsste sie von nichts; CIA-Berichte, die von einem „Aufstand“ im Irak sprachen, wurden vom Weißen Haus und vom Pentagon einfach ignoriert.
Ein „Aufstand“, das passte nicht in das öffentlich verbreitete Bild, der Irak sei friedlich und auf dem Weg in die Demokratie. „Alle rasteten aus“, zitiert Warrick einen früheren CIA-Mitarbeiter. „Die CIA sagt, es zeichnet sich ein Aufstand ab, und das Weiße Haus ist sauer.“ Weil es in einer Wirklichkeit lebte, die, wie Warrick schreibt, mit der Wirklichkeit der CIA-Spione kollidierte.
Erfolgreich, aber mangelhaft
Michael Lüders feiert mit seinem neuen Buch wie mit dem Vorläuferband „Wer den Wind säht“ einen gewaltigen Verkaufserfolg. Er beschreibt darin, wie die USA seit den 1950er Jahren rücksichtslos versuchen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, wenn nötig auch mithilfe der Inszenierung eines Putsches. Lüders hat dabei eine wichtige Botschaft: Die USA, der Westen insgesamt haben die Probleme der Region ganz erheblich selbst geschaffen – und damit auch die Folgen, etwa in Form von Terrorangriffen, unter denen sie heute zu leiden haben. Der IS ist für ihn die Quittung „für ein Jahrhundert imperialer Unterwerfung“.
Der Verkaufserfolg von Lüders’ Buch kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Darstellung tiefgreifende Mängel aufweist. So gibt der Autor auch für die Eskalation im Syrien-Krieg den USA die Hauptschuld. Doch um diese These nicht selbst zu unterlaufen, blendet er viele Faktoren aus oder erwähnt sie nur am Rande.
Es liest sich bei Lüders so, als wäre von Anfang an klar gewesen, dass der Aufstand in Syrien in ein Erstarken radikaler Kräfte münden musste, ja, als wären letztlich fast alle Rebellen Dschihadisten, zumindest die mächtigsten. Die Bezeichnung „gemäßigte Opposition“ war für Lüders nie mehr als „Camouflage, im besten Fall Ausdruck von Wunschdenken“. Doch die Realität der syrischen Regimegegner ist wesentlich komplexer. Die Mühe, sich mit den verzweigten, unübersichtlichen und oft chaotischen Strukturen der Opposition auseinanderzusetzen, macht sich der Autor nicht.
Auch die Verbrechen der Assad-Regierung, die ein ganz entscheidender Auslöser des Aufstands im Frühjahr 2011 waren, kommen bei Lüders nur am Rande vor. Stattdessen wirft der Autor den USA vor, sie hätten in Syrien – wie anderswo in den Jahrzehnten zuvor – auf eine Politik des „regime change“ gesetzt. Wie das jedoch zu Obamas Entscheidung passen soll, nach dem Chemiewaffenangriff 2013 in der Nähe von Damaskus auf eine Militärintervention zu verzichten, erläutert Lüders nicht. Dabei wäre das die bislang beste Gelegenheit gewesen, Assad zu stürzen – wenn Obama es denn tatsächlich gewollt hätte.
Auch dem damaligen Angriff mit Sarin-Gas widmet Lüders ein Kapitel. Zu Recht merkt er an, dass offiziellen Darstellungen, das Assad-Regime trage die Verantwortung dafür, ein gesundes Misstrauen entgegengebracht werden müsse. Er selbst kommt zu der weitreichenden Schlussfolgerung, Indizien legten nahe, „dass nicht das Assad-Regime für den Giftgasangriff in Ghouta verantwortlich war, sondern die Nusra-Front (der syrische Al-Kaida-Ableger), unter Regie der türkischen Regierung“. Lüders referiert hier im Wesentlichen einen Artikel des US-Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh, der sich auf einen nicht näher genannten früheren Geheimdienstmitarbeiter als Kronzeugen stützt.
Doch auch hier weist Lüders Erzählung Lücken auf. Unerwähnt bleiben nicht nur der Bericht der Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW), sondern auch die Recherchen des investigativen Internetjournalisten Elliot Higgins, Gründer der Seite Bellingcat. Mithilfe von Videos und anderem Open-Source-Material hat Higgins gezeigt, dass die 2013 eingesetzte Munition schon vorher und ausschließlich von syrischen Regierungstruppen eingesetzt worden war und die angegriffenen Ziele in Reichweite von Anhängern des Regimes lagen – womit er zentrale Punkte eines früheren Artikels von Hersh widerlegte.
Auch Human Rights Watch kam in einem Bericht zu dem Schluss, dass die für den Giftgasangriff eingesetzten Raketen bis dahin nur vom syrischen Regime, nicht aber von Oppositionskräften eingesetzt wurden. HRW schließt daraus, dass syrische Regierungskräfte „fast sicher“ für den Angriff verantwortlich waren. Diskutiert wird aber auch das von Lüders nicht.
Schwieriger Weg in die Moderne
Zu den auswärtigen Mächten, die im Syrien-Krieg mitmischen, gehört das Königreich Saudi-Arabien, seit Jahrzehnten ein Verbündeter der USA und des Westens, wenn auch ein problematischer. Selten ist das deutlicher geworden als in diesem Jahr, als ein von Riad angeführtes Bündnis eine Blockade über das Golf-Emirat Katar verhängte.
Der Islam- und Politikwissenschaftler Sebastian Sons, Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, hat mit „Auf Sand gebaut“ ein äußerst kundiges und faktenreiches Porträt über das Königreich geschrieben. Zu Recht warnt er davor, die Regionalmacht nur undifferenziert schwarz-weiß wahrzunehmen. Saudi-Arabien ist das Land, in dem Frauen nicht einmal Auto fahren dürfen; es ist aber auch ein Land, das sich fundamental verändert – mit einer Dynamik, die von der Jugend ausgeht, die aber außerhalb des Landes kaum wahrgenommen wird.
Der saudische Weg in die Moderne ist schwierig: Die Verwaltung ist immer noch aufgeblasen und ineffizient, die Geistlichkeit ultrakonservativ, trotz des Ölreichtums sind die wirtschaftlichen Probleme gewaltig. Saudi-Arabien stehe jetzt vor einer entscheidenden Phase, schreibt Sons.
Doch die Politik der Regierung sieht er kritisch: Außenpolitisch verfolge das Königshaus einen Kurs der Konfrontation, vor allem wegen seiner Rivalität zum Iran, was die Region destabilisiere. Das Königreich müsse zudem seine Abhängigkeit vom Erdöl überwinden: „Gelingt das nicht, drohen innere Unruhen und grassierende Unzufriedenheit“, warnt Sons.
Er kritisiert aber auch diejenigen, die Saudi-Arabiens Probleme mit Genugtuung betrachten; schließlich sei das Land zu groß, um scheitern zu dürfen. Überhaupt stößt er sich an der Doppelmoral, mit der der Westen Saudi-Arabien behandele: einerseits destabilisierender Kriegstreiber, andererseits Stabilitätsanker.
Amerika und Europa wirft Sons vor, keine klare Strategie im Umgang mit dem Königreich zu haben: „Was fehlt, sind ein stabiler Kurs und eine solide werte- und interessengesteuerte Politik, die nicht von Polemik, sondern von konstruktiver Vernunft getrieben wird.“ Das lässt sich auch für die Politik des Westens in anderen Ländern der Region sagen.
Jan Kuhlmann ist Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur dpa für die arabische Welt. Er lebt und arbeitet in Istanbul.
Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 138 - 141