Buchkritik

01. Mai 2019

Stereotype und Monokraten

Von Jan Kuhlmann

Vier Neuerscheinungen beleuchten Geschichte und Gegenwart der 
Missverständnisse zwischen Westen und islamischer Welt

Vielleicht erlebt der Syrien-Konflikt 2019 ein entscheidendes Jahr. Die Anhänger von Machthaber Baschar al-Assad kontrollieren wieder die größten Teile des Landes, die Lage der bewaffneten Opposition ist desolat. Der Aufstand ist im neunten Jahr des Konflikts praktisch tot.

Für die Journalistin und ­Syrien-Expertin Kristin Helberg trägt der Westen einen erheblichen Teil der Schuld an dieser Entwicklung, weil er nur seine eigenen Interessen im Blick hatte. Weil ihm der „zivile Widerstand in Syrien egal war, er die Kriegsverbrechen des Regimes geschehen ließ und damit die Radikalisierung der Menschen vorantrieb“, wie Helberg in ihrem Buch „Der Syrien-Krieg“ argumentiert.

Aus dem Band, einer bitteren Anklageschrift gegen die Nahost-Politik der USA und ihrer Verbündeten, liest sich Ernüchterung heraus. Den Aufstieg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) etwa führt Helberg nicht allein auf den US-Interventionalismus der Bush-Ära zurück, sondern auch auf die „krampfhafte Nichteinmischung“ seines Nachfolgers Barack Obama. Überhaupt sei der Syrien-Krieg „das Ergebnis eines Totalversagens der internationalen Gemeinschaft“.

Unvermeidbarer Widerstand

Zunächst erinnert Helberg daran, dass der Protest gegen Assad im März 2011 friedlich begonnen habe. Der bewaffnete Widerstand sei eine „unvermeidbare, natürliche und menschliche Reaktion auf die Brutalität des Regimes“ gewesen – was bei Debatten über den Bürgerkrieg häufig vergessen wird.

Eine Chance aber habe der Aufstand angesichts der militärischen Überlegenheit des Regimes und dessen Skrupellosigkeit nicht gehabt. Vor allem sei es die Unterstützung aus Russland und dem Iran gewesen, die der Widerstandsbewegung das Genick gebrochen habe – und das „ohne ausreichende militärische Hilfe oder eine militärische Intervention von außen“, urteilt Helberg ernüchtert. Das europäische Prinzip der militärischen Nichteinmischung ist für sie verlogen, schließlich gelte es nicht für Syrien generell, sondern nur für Assad.

Den Machthaber in Damaskus hält Helberg schlichtweg für „böse“, wofür sie eine Reihe von nachvollziehbaren Argumenten anführt: die hinreichend belegte Massenvernichtung von Zivilisten durch seinen Staatsapparat; das skrupellose Aus-dem-Weg-Räumen von politischen Gegnern oder die „automatisierte gesamtgesellschaftliche Überwachungsmaschine“. Das Regime habe dabei sämtliche staatliche Institutionen vereinnahmt; Assads Syrien sei „im Privatbesitz eines Clans“.

So ist Helbergs Buch auch eine Mahnung für all diejenigen, die eine Annäherung an das Regime in Betracht ziehen, nachdem Assad als Sieger aus dem Konflikt hervorzugehen scheint. Von ausländischen Geldern für einen Wiederaufbau des zerstörten Landes dürfte vor allem die loyale Unternehmerschaft profitieren, neben den Geheimdiensten das Rückgrat des Regimes. Assad habe zwar den Krieg gewonnen, nicht aber den Frieden – und einen solchen könne es mit ihm auch nicht geben, warnt Helberg.

Neuer Dreißigjähriger Krieg?

Die Natur des Assad-Regimes wird auch beim Vergleich des Syrien-Konflikts mit dem Dreißigjährigen Krieg oft vergessen. Diese Analogie erfreut sich „seit einiger Zeit großer Beliebtheit“, wie der Journalist Daniel Gerlach in „Der Nahe Osten geht nicht unter“ leicht spöttisch schreibt.

Doch nicht alles, was sich ähnelt, ist auch tatsächlich dasselbe. Denn der Vergleich geht, wie Gerlach zu Recht bemängelt, „mit einer Annahme einher, die man gründlich hinterfragen sollte – nämlich der, dass der syrische vor allem ein Stellvertreterkrieg sei, ein proxy war, in dem lokale Akteure als verlängerte Arme, als ‚nützliche Idioten‘ von Weltmächten agieren. Das Land, die Regierung, die Bevölkerung Syriens haben in dieser Gleichung weder Macht noch Verantwortung.“ Damit aber könne sich das syrische Regime aus der Verantwortung stehlen, schreibt Gerlach, woraus er schlussfolgert: „An der Beschaffenheit und Lage des syrischen Regimes scheitert dann auch jeder direkte Vergleich mit den Zuständen des Dreißigjährigen Krieges und mit dessen Beilegung.“

In seinem Buch will Gerlach einen anderen Blick auf die Region werfen, die in Deutschland vor allem als „Pulverfass“ und „Krisenherd“ wahrgenommen wird. So lenkt er den Blick auf Entwicklungen und Personen in der arabischen Welt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machten. Und anders als viele andere hält Gerlach den Arabischen Frühling für noch längst nicht am Ende.

Die jüngsten Massenproteste gegen den altersschwachen algerischen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika belegen diese These, denn sie zeigen, welches Unruhepotenzial bei den Aufständen 2011 geweckt wurde und jederzeit seine Kraft entfalten kann. Und doch: Viele der Hoffnungsschimmer, die Gerlach beschreibt, sind arg schwach – und laufen Gefahr, von den dunklen Kräften in der Region verschluckt zu werden.

Gerlach, vor allem aber Helberg nehmen in ihren Büchern Gegenpositionen zum Publizisten Michael Lüders ein, der dem Westen nicht zu wenig, sondern zu viel Einmischung in Syrien vorwirft, die Gräueltaten des Regimes dabei jedoch nur beiläufig erwähnt. So sind die Autoren Teil einer Debatte über Syrien, die Deutschland stark polarisiert. Viele Faktoren spielen in die Diskussion hinein: die Flüchtlingswelle und der damit verbundene Aufstieg der AfD; alte Fronten zwischen linken Russland-Freunden und den Gegnern Moskaus; aber auch die komplexe Beziehung, die Europa mit den Nachbarn verbindet.

Langlebige Stereotype

Wie belastet das Verhältnis Deutschlands zur islamischen Welt und speziell zur Türkei seit Langem ist, zeigt ein Blick zurück. „Die Deutschen und der Orient“ heißt das Buch des FAZ-Autors Joseph Croitoru, in dem er den Leser mitnimmt in die Zeit der Aufklärung. Akribisch zeichnet Croitoru die deutschen Debatten über den Islam und das Osmanische Reich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach. Die Parallelen in der Debatte zwischen damals und heute sind geradezu erschreckend. Manche Stereotypen und Vorurteile haben sich über die Jahrhunderte gehalten.

Den Ton gab damals, zumindest in Preußen, Friedrich II. vor. Er umwarb das Osmanische Reich als Bündnispartner, was sich durch eine „muslimfreundliche Medienpolitik“ auch in der Presse widerspiegelte. Doch auch beim preußischen König zeigte sich, wie ambivalent das Verhältnis stets war. Als Religions- und Kleruskritiker sah er den Islam generell mit Skepsis und diffamierte dessen Stifter Mohammed als falschen Propheten, eine zu jener Zeit weit verbreitete Ansicht. Auch ansonsten kursierten unzählige Stereotype von der Habgier und Wollust des „Orientalen“. Friedrich II. stöhnte über einen wochenlang in Berlin weilenden Staatsgast aus Konstantinopel: „Er frisst mir die Ohren vom Kopf!“

Trotzdem trat Friedrich immer wieder als Anwalt der Osmanen auf, und in seinem Gefolge bemühte sich auch Gotthold Ephraim Lessing da­rum, traditionelle Orientbilder aufzubrechen. Obwohl auch der Dichter nicht frei von Ambivalenzen war, beschrieb er in seiner Schrift „Rettung des Hier. Cardanus“ einen fiktiven Muslim als „Kind der Aufklärung“ und „Vertreter einer Religion der Vernunft“. Später räumte der Mathematiker Carsten Niebuhr mit seinem Bericht über seine Expedition auf die Arabische Halbinsel mit dem gängigen Klischee von den Arabern als religiösen Fanatikern auf.

Und dennoch fanden die islamkritischen, ja gar -feindlichen Stimmen damals starke Resonanz, vor allem außerhalb Preußens. So entzündete sich in den 1770er Jahren an zwei Koranübersetzungen ins Deutsche ein heftiger Gelehrtenstreit, in dem der evangelische Pastor und Orientalist David Friedich Megerlin einen besonders scharfen Ton anstimmte, eine konservative Gegenreaktion. In der Populärliteratur fanden sich türkenfeindliche Klischees in den Geschichten des Lügenbarons Münchhausen wieder.

Und noch eine Parallele zur Gegenwart: Wie sich heute Rechtspopulisten von der „politischen Korrektheit“ diffamiert fühlen, sahen sich die damaligen Türkenfeinde von der aufklärerischen Presse übergangen. So kommt Croitoru zu einem ernüchternden Fazit: „Dass unser Verhältnis zur islamischen Welt noch immer so von jenem Konfrontationsdenken, das wir längst überwunden ­glaubten, mitbestimmt ist, müsste zu denken geben.“

Kein islamisches Mittelalter

Daran hat auch die westliche Geschichtswissenschaft ihren Anteil, die die Welt vor allem aus einer eurozentristischen Perspektive betrachtet und andere Regionen diesem Blickwinkel unterwirft. Als Beispiel par excellence dient dafür der Begriff des Mittelalters, der bis heute gerne als Metapher für einen vermeintlichen Rückfall islamischer Länder in finstere Zeiten bemüht wird.

Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaften und Arabistik an der Universität Münster, dekonstruiert diesen Periodenbegriff nun so elegant und überzeugend, dass es eine wahre Freude ist. Schon der Titel des Buches ist eindeutig: „Warum es kein islamisches Mittelalter gab“.

Bauer führt dafür zahlreiche Gründe an: Dem Begriff mangele es an Präzision, er verleite zu Fehlschlüssen. So suggeriere er als Gegenbild zur „Konstruktion einer aufgeklärten und säkularisierten Moderne“ eine „religiöse Aufladung“ des Mittelalters. Allerdings hätten sich ganze Lebensbereiche islamischer Gesellschaften zu dieser Zeit „als vollständig oder weitgehend weltlich“ gezeigt, so Bauer. Als Beleg führt er etwa die „großartigste Weindichtung aller Zeiten“ an, die arabische und persische Dichter geschaffen hätten.

Bauer nimmt hier den Begriff der „Ambiguitätstoleranz“ wieder auf, den er in einem seiner früheren Bücher so überzeugend wie erhellend dargelegt hatte. Vormoderne islamische Gesellschaften zeichneten sich demnach durch eine große Fähigkeit aus, Mehr- und Vieldeutigkeiten hinzunehmen. Die Eindeutigkeit, die dem Islam heute oft zugeschrieben und abverlangt wird, erweist sich als ausgesprochen moderne Erscheinung.

Letztlich werden islamische Gesellschaften mit dem eurozentristischen Begriff „Mittelalter“ herabgesetzt und exotisiert. Für Bauer „erweist sich die Vermittelalterlichung der übrigen Welt als imperialistische Strategie, eine westliche Deutungshoheit über die globale Moderne aufrechtzuerhalten“.

Vor allem aber fehlt Bauer eine sachliche Grundlage für den Begriff „islamisches Mittelalter“. Er sieht in dem Auftreten Mohammeds und des Islams im frühen 7. Jahrhundert keine Epochengrenze, da es in der Region weder politisch noch gesellschaftlich trotz der muslimischen Eroberungsfeldzüge einschneidende Veränderungen gegeben habe.

Für Bauer sind die frühen Jahre des Islams eher eine „formative Periode“ und eine beschleunigte Transformation der Spätantike, ehe „eine konsolidierte islamische Kultur“ entsteht. Die Epochengrenze setzt er in Anlehnung an den britischen Historiker Garth Fowden nach dem ersten Jahrtausend an. Bei all dem sorgt für Bauer der Begriff „islamisches Mittelalter“ nur für die „größtmögliche Vernebelung“, weshalb man endgültig auf ihn verzichten sollte. Das allerdings dürfte ein frommer Wunsch bleiben.

Kristin Helberg: Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts. Freiburg/Breisgau: Herder 2018, 256 Seiten, 22,00 €

Daniel Gerlach: Der Nahe Osten geht nicht unter. Die arabische Welt vor ihrer historischen Chance. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2018, 312 Seiten, 18,00 €

Joseph Croitoru: Die Deutschen und der Orient. Faszination, Verachtung und die Widersprüche der Aufklärung. München: Hanser 2018, 416 Seiten, 28,00 €

Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient. München: C. H. Beck 2018, 175 Seiten, 22,95 €

Jan Kuhlmann ist Regionalbüroleiter der dpa für die Arabische Welt und Israel mit Sitz in Istanbul.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 138-141

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