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01. Febr. 2008

Kabinett aller Talentlosen

Selbst ausgewiesene Brown-Freunde schauen derzeit beklommen in die Zukunft

Warum selbst ausgewiesene publizistische Freunde von Gordon Brown derzeit beklommen in die Zukunft schauen

Für Großbritannien hätte es eigentlich schon im Frühsommer 2007 eine tiefgehende Zäsur geben müssen, als Premierminister Tony Blair nach zehnjähriger Amtszeit die Geschäfte an seinen handverlesenen Nachfolger Gordon Brown übertrug. Doch das Gefühl, dass eine Ära zu Ende gegangen war, stellte sich erst nach der Sommerpause ein – und es war in keiner Weise an die Person des scheidenden Regierungschefs gekoppelt. Ganz im Gegenteil: Blair, der ein Jahrzehnt lang seine Nation in Höhen und Tiefen geführt hatte, war schneller vergessen als ein Sommerhit in den Charts.

Was sich im Spätherbst abzeichnete, war die Erkenntnis, dass die lange Party, welche das erfolgsverwöhnte Großbritannien mit steigenden Löhnen, stetig im Wert steigenden Immobilien und billigen Krediten unter New Labour gefeiert hatte, unumkehrbar beendet war. Nach und nach gingen seit dem Abschied Blairs die Lichter aus, und die Aussichten für 2008 sind düster. Dass sich keines der vier britischen Fußballteams für die Europameisterschaft in Österreich und in der Schweiz qualifizierte, erschien da fast schon als zwangsläufig.

Zugleich wurde der politischen Elite und den Intellektuellen des Landes immer schmerzlicher bewusst, dass Brown die in ihn gesetzten Hoffnungen wohl nicht würde erfüllen können. Zugegeben: Niemand hatte den verzaubernden Glanz und Glitzer der Blair-Jahre von dem nüchternen Schotten erwartet; dass Browns „Kabinett aller Talente“ freilich einen derartigen Mangel an Visionen und ganz schlicht auch an Alltagskompetenz vermissen ließ, traf selbst Anhänger der Labour Party tief. Es war nicht, wie John Rentoul vom Independent on Sunday konstatierte, der „geordnete Übergang von Blair zu Brown“, der das zu Ende gehende Jahr 2007 bestimmte, sondern der „plötzliche und abrupte Übergang von Brown, dem Besser-als-Erwarteten, zu Brown, dem Schlimmer-als-Befürchteten“.

Eine wesentlich vernichtendere Analyse Labours lieferte Matthew d’Ancona vom konservativen Sunday Telegraph, der bei der Regierung Brown einen „vollständigen Kollaps des Immunsystems“ diagnostizierte: „Sie ist hoffnungslos anfällig für jeglichen politischen Virus, ihre Antikörper sind nach Jahren des Kampfes zusammenkartätscht worden. ... Labours Reflexe funktionieren nicht mehr, die Loslösung (der Partei) von der Realität steht in außergewöhnlichem Gegensatz zu der Hypersensibilität in ihren frühen Jahren an der Macht.“

Die Pannen und Schnitzer, die sich Brown und sein Team leisteten, waren so verheerend, dass sogar ausgewiesene publizistische Freunde des Premierministers düster und beklommen in das neue Jahr blicken. John Rentoul etwa glaubte noch nicht einmal, dass ein neuerlicher Aufschwung von Browns Popularität im Jahr 2008, ein so genannter „bounce“, den Regierungschef retten könne. Dieses zweite Hoch werde nach Rentouls Ansicht das sein, was man im Finanzzentrum der City „den Hüpfer einer toten Katze“ nennt: Wenn man sie auf den Boden schleudert, prallt sie zwar ab, bleibt aber doch tot. „Brown kann nur einmal ein neuer Premier sein; wenn er noch einmal hochspringt, dann wird er kaum so hoch steigen wie im Sommer. Und dann ist es wohl vorbei. ... Etwa zu dieser Zeit im nächsten Jahr, wenn das zweite Popularitätshoch verpufft, wird sich die Partei wahrscheinlich (Außenminister) David Miliband (als neuem Anführer) zuwenden.“

Auch nach Ansicht von Andrew Rawnsley vom Observer hat Gordon Brown die Chance verspielt, die Labour-Partei zu erneuern: „Kompetenz, Vertrauen, Charakterstärke, Wandel – sie alle wurden von gezielten Torpedos versenkt. Die Labour Party steht am Ende des Jahres wieder dort, wo sie am Anfang stand: Die Lage ist genauso ernst wie in den letzten, miesen Tagen von Tony Blair.“ Labour trete „zitternd“ in das neue Jahr ein: „Einige Labour-Abgeordnete bereiten sich geistig bereits auf eine Niederlage vor. Gordon Brown muss verhindern, dass sich dieser Fatalismus ausbreitet, bevor er sich selbst bewahrheitet. Zu glauben, dass man verdammt ist, ist die beste Garantie, wirklich verdammt zu sein.“

Philip Stevens von der Financial Times zählte die Fehlleistungen der vergangenen Monate auf: den Verlust persönlicher Daten von 25 Millionen Briten, das teure Fiasko rund um die Pleite der Bank Northern Rock, die Schludrigkeit im Umgang mit illegalen Einwanderern, von denen einige in unmittelbarer Umgebung des Premierministers eine Anstellung erhielten, ein Parteispendenskandal und schließlich Browns peinliches Verhalten bei der Unterzeichnung des europäischen Verfassungsvertrags in Lissabon. „Viele Minister sind schlicht und ergreifend verwirrt angesichts der Leichtigkeit, mit welcher diese Regierung den Bestand an gutem Willen vergeudet hat, der Brown (bei seinem Amtsantritt) entgegengeschlagen war“, so Stevens. „Einige geben die Schuld dem Vertrauen, das der Premierminister unerfahrenen Kabinettshöflingen schenkt.

Andere wiederum sprechen von einem Führungsstil (des Regierungschefs), der launenhaft und unentschlossen zugleich ist.“ Die Fundamente der britischen Demokratie sah Stevens dabei allerdings nicht gefährdet: „Der Premierminister ist kein Gauner, das politische System der Nation ist nicht in Filz verstrickt. Von seltenen Ausnahmen abgesehen sind britische Minister nicht korrupt. Manchmal werden Regeln gebrochen, aber die Art, wie in Westminster Politik betrieben wird, hält jeden Vergleich mit anderen angesehenen Demokratien stand.“

Beruf statt Berufung

Simon Heffer vom Daily Telegraph indes zog eine andere, fast schon apokalyptische Bilanz des Zustands des politischen Systems in Großbritannien. Er führte die Malaise darauf zurück, dass sich nur noch „Berufspolitiker“ ins Unterhaus wählen ließen, die nichts oder nur wenig vom Leben eines Durchschnittsbürgers verstünden. „Ins Parlament ging man einst, wenn man sich schon einen Namen gemacht hatte und dem Land etwas zurückgeben wollte. (Unsere Abgeordneten aber) gehen in die Politik, um, wenn schon nicht Geld zu machen, so doch, ein anständiges Auskommen zu haben. ... Zu unserer grobschlächtigen Nation passen diese grobschlächtigen Politiker. Sie sind habgierig, für den Staat teuer im Unterhalt, sie erreichen wenig und sie werden chronisch für Fehlleistungen auch noch belohnt. ... Dahin hat uns diese Art des Professionalismus gebracht: Politik ist keine taugliche Berufung mehr für eine ehrbare Person jüngeren oder mittleren Alters.“ Auch 2007 wurde Großbritannien von islamistischem Terror heimgesucht: An Browns erstem vollen Arbeitstag als Regierungschef wurde ein Anschlag in London aufgedeckt, tags darauf schlug eine Attacke auf den Glasgower Flughafen fehl.

In die Debatte um die Verantwortung britischer Muslime schaltete sich nun der ehemalige Muslim-Fundamentalist Ed Husain ein, der in dem viel beachteten Buch „The Islamist“ seine Abkehr vom Radikalismus beschrieb. „Die westlichen Medien haben Recht, wenn sie gebildeten Muslimen einen Spiegel vors Gesicht halten“, so Husain im Observer. „Etablierte Muslime können nicht schweigen, wenn unser Glaube von Extremisten in unseren Reihen zerstört wird und von außen von gewohnheitsmäßigen Islam-Hassern verhöhnt wird. Wir müssen den Mut aufbringen, uns hinzustellen und unseren Glauben zurückzufordern.“ Eine besondere Verantwortung falle jenen Muslimen zu, die „im Westen geboren, aufgezogen und erzogen wurden“ und daher Zugang zu beiden Kulturen hätten: „Meine Generation kann die Kluft zwischen zwei Parteien überwinden, die mitunter wie Kriegsgegner erscheinen.“

Tue was, und sei es noch so dumm

Außenpolitische Themen spielen in der britischen Debatte traditionell eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme bilden Regionen, in denen die Nation sich politisch oder militärisch engagiert. Der Irak ist kein strittiges Thema mehr, seitdem London de facto den endgültigen Abzug seiner Truppen aus Basra eingeleitet hat. Zum zunehmend wichtigeren Kriegsschauplatz wird Afghanistan, wo Brown zugesichert hat, dass Großbritannien weiter militärisch präsent sein werde.

Am selben Tag, an dem der Premierminister seine Afghanistan-Initiative verkündete (12. Dezember), sprach sich Simon Jenkins im linksliberalen Guardian für ein Ende der Mission aus. „Britische Soldaten sollten nicht kämpfen und sterben, nur weil Minister nicht imstande sind, einer simplen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Und was britische Politiker angeht, die Heucheleien über ‚unsere tapferen Jungs‘ murmeln – sie sind eine Schande. Als er unlängst gefragt wurde, was er vom (britischen) Einsatz in (der südafghanischen Krisenprovinz) Helmand halte, zuckte der Führer der Konservativen, David Cameron, die Achseln und erwiderte: ‚Wir können nicht einfach zusehen und nichts tun.‘ Das ist – kurz und bündig – Großbritanniens postimperiale Krankheit: Tue irgendetwas, und sei es auch noch so dumm. In Afghanistan gibt es keine realistische Mission, kein erreichbares Ziel, keine langfristige Strategie, sondern nur die fruchtlose Jagd nach dem Scheitern.“

Henry Porter vom Observer warf den Blick voraus auf die amerikanische Präsidentschaftswahl. Er regis-trierte, dass „die beiden Großmächte der kommunistischen Ära (Russland und China) dieses Jahr so selbstbewusst beenden wie noch nie seit dem Fall der Mauer“. Zugleich würden „ihre Zielstrebigkeit und ihr Trotz begleitet von Zweifeln des Westens an der Stärke unserer Demokratien“.

Der Autor riet dem nächsten US-Präsidenten daher, „noch vor seiner oder ihrer Wahl eine Charmeoffensive“ zu starten. „Amerika muss einen Weg finden, leiser zu sprechen und dennoch einen großen Stock mit sich zu führen, wenn es die neue Mittelschicht Chinas und Russlands überzeugen will, dass es im 21. Jahrhundert moralische Führung zu bieten hat.“

Eigenwillige Wege schließlich gingen die beiden publizistischen Anti-poden New Statesman und The Tablet beim Gedenken an das Weihnachtsfest 2007. Der linksgerichtete Statesman lud Richard Dawkins als Gastautoren ein, dessen Bestseller „Der Gotteswahn“ gleichsam zu einer Bibel für Agnostiker und Atheisten geworden ist. Der Autor sezierte die fragwürdigen Grundlagen des Festes, bevor er zu einer erstaunlichen Schlussfolgerung gelangte: „Ich bin kein Freund des Christentums und ich hasse die alljährliche Orgie der Verschwendung und des unbesonnenen gegenseitigen Geldausgebens. Aber ich muss sagen, dass auch ich lieber ‚Fröhliche Weihnachten‘ wünsche als ‚Frohe Feiertage‘“. Echte Agnostiker freilich könnten am 25. Dezember den Geburtstag eines wahrhaft großen Mannes feiern: des Naturwissenschaftlers Isaac Newton – „Happy Newton Day“.

WOLFGANG KOYDL, geb. 1952, ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 128 - 131

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