„Nichts als Gift und Lügen“
Internationale Presse
Die Kommentare der britischen Presse erinnern zuweilen an die amerikanische Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“: So wie in diesem Film ein TV-Reporter in einer Zeitschleife gefangen und dazu verurteilt ist, denselben Tag immer wieder aufs Neue zu durchleben, kehren auch die Kommentatoren im Vereinigten Königreich stets zu immer demselben Thema zurück: dem unaufhaltsamen Abstieg der Labour-Regierung und ihres glücklosen Premierministers Gordon Brown.
Die Lobeshymnen über den weitgehend als Erfolg gewerteten Finanzgipfel der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, den Brown in London ausgerichtet und geleitet hatte, waren noch nicht verklungen, da hatten Kommentatoren und Kolumnisten wieder zu ihrem bevorzugten Thema zurückgefunden: dem jüngsten Skandal, in den Premier und Regierung sich verstrickt hatten, nachdem bekannt geworden war, dass einer der engsten Mitarbeiter Browns eine Schmutzkampagne mit teilweise frei erfundenen Vorwürfen gegen führende Oppositionspolitiker geplant hatte. Neu war diesmal freilich, dass dieses Komplott quer durch das gesamte politische Spektrum – von links wie von rechts – nachhaltig verurteilt wurde.
Selbst Andrew Grice vom traditionell der Labour Party verbundenen New Statesman (16.4.) rügte die Pläne als „töricht“: „Der moralische Kompass des Premierministers scheint seine Orientierung verloren zu haben“, schrieb Grice unter Rückgriff auf ein früheres Versprechen Browns, sich stets von moralischen Gesichtspunkten leiten zu lassen. „Er wird nun kämpfen müssen, um jene moralischen Höhen wieder zu erlangen, die er so schätzt und um sich als erfahrener (und nun auch noch globaler) Staatsmann zu präsentieren, der über dem ordinären, taktisch motivierten politischen Punktesammeln steht.“ Den „gefährlichsten Aspekt“ der Affäre sah der New Statesman darin, dass sie das Bild von „verzweifelten Männern in der Downing Street“ geschaffen habe, „die sich um jeden Preis an der Macht festklammern wollen“.
Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangte die Bagehot-Kolumne im Economist (18.4.), die „schlimmere und anhaltende Konsequenzen“ der Episode für Brown erwartete. Die Affäre scheine „etwas zu bestätigen, dessen man Brown und seine Regierung schon in der Vergangenheit verdächtigt hat, dass nämlich einige ihrer Mitglieder und rivalisierenden Führer sich monomanisch verhalten, wenn es darum geht, die Macht zu erhalten“.
Eine „wachsende moralische Sklerose“ in Westminster diagnostizierte die Sonntagszeitung Observer (19.4.) in ihrem Leitartikel. Das Blatt forderte von Brown eine „neue Art von Führung, die auf moralischer und politischer Offenheit (...) und auf der ehrlichen Bereitschaft beruht, erneut in eine Debatte mit einer Öffentlichkeit einzutreten, die von der politischen Klasse die Nase gestrichen voll hat“. Gegenstand der Debatte müssten Maßnahmen zur Bekämpfung der Rezession sein. „Dies sind die Werte und politischen Schritte, mit denen der nächste Wahlkampf ausgetragen wird.“
Die mit Abstand boshaftesten Attacken auf Brown veröffentlichten erwartungsgemäß konservative Zeitungen. Das Wochenblatt Spectator zog Parallelen zum Watergate-Skandal, da es den Anschein habe, als liefen die Drähte auch bei der britischen Affäre bis ins Herz der Macht (18.4.). „Der innere Schaltplan dieses Regimes ist aufgedeckt worden, und was man sieht, ist kein schöner Anblick“, meinte der Spectator. „Verzweifelte Männer, die zu verzweifelten Mitteln greifen und nichts anderes mehr in ihrer Werkzeugkiste haben als einen Vorrat an Gift und einen Haufen armseliger Lügen.“
Iain Martin zog im Daily Telegraph (17.4.) Parallelen zwischen dem Skandal und der Persönlichkeit des Premierministers: „Dieser Skandal enthüllt den Augen der Öffentlichkeit, was viele, die ihn (Brown) berufsmäßig studieren, schon lange wussten: dass Robert Louis Stevensons ‚Doktor Jekyll und Mister Hyde‘ eine nützliche Metapher für eine Diskussion über Gordon Brown ist.“ Nach Martins Ansicht geht Browns „langer Weg vom jungen Idealisten zur beherrschenden Figur seiner Zeit“ zu Ende. „Letzten Endes hat ihn dieser Weg an einen dunklen Ort geführt“, schrieb er. Der Skandal werfe ein „grelles Schlaglicht“ auf den „getriebenen und hilfsbedürftigen“ Mann an der Spitze der Regierung. Das sei „ganz gewiss nicht das, wovon ein Land träumt, das einen echten Neuanfang sucht“.
Zusätzlich unter Druck geriet Browns Regierung durch Berichte über mutmaßliche Übergriffe der Polizei auf Demonstranten während des Weltfinanzgipfels. Ein unbeteiligter Passant starb an inneren Blutungen, nachdem er von einem Polizisten zu Boden gestoßen und mit einem Gummiknüppel geschlagen worden war. Fast täglich tauchten neue Fotos auf, die das brutale Vorgehen der Polizei belegten. Für den Observer (19.4.) stellte dieses Vorgehen eine „Schande“ für eine Polizei dar, „die das Vertrauen der Öffentlichkeit besitzen muss, wenn sie Erfolg haben will“. Die liberale Sonntagszeitung sah einen Zusammenhang zwischen der „Aggression“ der Beamten und „der hässlichen Angewohnheit der Regierung, Gesetze zu entwerfen, die lieber den bequemen Weg einer Verstärkung der Sicherheitskräfte beschreiten als die Rechte freier Bürger“ zu verteidigen.
Eine radikal andere Haltung zur Rolle des Staates vertrat David Goodhart in der April-Ausgabe des Prospect Magazine. Er widersprach Vorwürfen, dass sich Großbritannien mit seinen allgegenwärtigen Kameras und Datenbanken in einen Überwachungsstaat verwandele. „Wir leben nicht in einem Polizeistaat“, betonte er. Ein moderner Staat brauche „jede Menge Daten über uns, um die Anforderungen zu erfüllen, die wir an ihn stellen“. Gebe es „zu viele Datenschutzregeln, kann uns der Staat nicht geben, was wir wollen“, argumentierte er. „Gibt es aber keine oder unzureichende Regeln zum Schutz sensibler Informationen über Bürger, dann entsteht ein Potenzial für Missbrauch – sei es zufällig oder absichtlich. Derzeit laufen wir Gefahr, die Nachteile beider Varianten zu bekommen.“
Wettbieten ums Klima
Mit Wohlwollen hat vor allem die liberale Presse Ankündigungen der Regierung und der konservativen Opposition aufgenommen, die Volkswirtschaft künftig auf eine grüne Basis zu stellen. In einem Leitartikel (17.4.) sah der Independent bereits ein veritables „Wettbieten“ der großen Parteien. „Es ist ermutigend, dass die Umwelt ein politisches Schlachtfeld wird“, schrieb das Blatt, „und dass diese wichtige Agenda nicht von der Rezession in den Schatten gestellt worden ist.“ Politiker jeglicher Schattierung hätten nun die Aufgabe, dem Wähler „den greifbaren Nutzen einer grünen Transformation unserer Wirtschaft zu vermitteln“. „Die Partei, die als Sieger vom umweltpolitischen Schlachtfeld geht, wird nicht nur die effektivste Politik entwickeln können, sondern sie auch den Wählern am besten verkaufen können.“
Mit Skepsis beurteilte der Guardian die Überlegung der Regierung, mit einer Abwrackprämie jene Briten zu belohnen, die ihren Altwagen verschrotten, um ein Elektroauto zu kaufen: „Ein plausibles Konzept, aber eine schreckliche Idee“, befand das Blatt (16.4.). „Es klingt machbar, und es wird wahrscheinlich sehr populär sein – Auszahlungen von Bargeld haben das nun mal so an sich“, fügte der Guardian sarkastisch hinzu. Doch das Problem liege „darin, dass der wirtschaftliche Nutzen zweifelhaft ist, dass die Idee wahrscheinlich umweltpolitisch schädlich ist, und dass (...) die Abhängigkeit der Briten von Autos gerade zu einem Zeitpunkt erhöht wird, an dem wir uns ihrer eigentlich entwöhnen müssten.“ Wirtschaftlich laufe es darauf hinaus, dass alle Steuerzahler „ein paar Glückspilzen Geld dafür zahlen, dass sie sich ein neues Auto gönnen“. „Gefangen zwischen einer Rezession auf der einen und dem drohenden Klimawandel auf der anderen Seite, grapscht eine minderbemittelte Regierung nach plausiblen Lösungen von der Stange“, beendete der Guardian seinen Kommentar.
Rückkehr ins nationale Idyll?
Internationale Themen im Allgemeinen und Europa im Besonderen findet man selten in der britischen Presse. So war es auch kein Brite, sondern der Münchner Soziologe Ulrich Beck, der sich in einem Gastbeitrag für den Guardian (13.4.) für die „Begründung eines neuen Europas“ aussprach, das auf den Trümmern der derzeitigen Wirtschaftskrise errichtet werden müsse. Die Union sei nicht nur keine Bedrohung für die nationale Souveränität, sie ermögliche erst die Ausübung dieser Souveränität. „In der globalen Risikogesellschaft, im Angesicht einer bedrohlichen Anhäufung globaler Probleme, die sich nationalen Lösungen widersetzen, sind auf sich selbst gestellte Nationalstaaten machtlos und unfähig, ihre Souveränität auszuüben“, betonte Beck. Er forderte eine Abkehr von „intellektuellem Protektionismus“ und der angesichts der Rezession grassierenden „nostalgischen Selbsttäuschung“, dass es „eine Rückkehr ins nationale Idyll“ geben könne.
Ein wahrer Kosmopolit und Europäer war Georg Friedrich Händel, dessen 250. Todestag in diesem Jahr in seiner britischen Wahlheimat gedacht wird. Tristram Hunt nahm das Jubiläum in der Times (13.4.) zum Anlass für eine provokante Frage: „Was haben die Deutschen je für uns getan?“ Gleichsam im selben Atemzug gab er die Antwort: Der Todestag des Komponisten sei „der richtige Augenblick, um an den herausragenden Beitrag deutscher Kultur zur Identität Großbritanniens zu erinnern“. Diese Wertschätzung werde „viel zu oft durch unsere Besessenheit in Sachen Nazis ausgelöscht“.
Außer Händel nannte Hunt Königin Victorias Ehemann Prinz Albert, die Schriftsteller der deutschen Romantik, Philosophen von Feuerbach bis Marx und nicht zuletzt deutsche Wissenschaftler und Unternehmer als prägende Einflüsse auf britische Kultur. Es sei verständlich, dass die Erinnerung daran unter dem Eindruck der Nazigräuel in den Nachkriegsjahren verblasst sei. „Noch bedauerlicher ist freilich, wie sich in der Allgemeinheit in den vergangenen 20 Jahren eine Vorstellung vom deutschen ‚Anderssein‘ verstärkt hat – angetrieben vom Chauvinismus der Boulevardpresse, von der medialen Aufarbeitung der Geschichte und von Lehrplänen, die im Bann von Hitlers Machtergreifung stehen.“ Das Händel-Jubiläum biete eine willkommene Gelegenheit, sich derartig spießiger Borniertheit zu widersetzen. „Vielleicht kommen mehr von uns zu der Erkenntnis, dass unser modernes Britannien-Bild ein deutsches Nebenprodukt ist.“
WOLFGANG KOYDL ist Großbritannien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.
Internationale Politik 5, Mai 2009, S. 100 - 103.