Globalisierung und Weltwirtschaft
Erich Weede über Chancen und Risiken der weltweiten Migration
Rezensionen zu "Global Migration and the World Economy", "Immigrants: Your Country Needs Them" sowie "Breeding Bin Ladens".
Global Migration and the World Economy
Timothy J. Hatton & Jeffrey G. Williamson | MIT Press 2006, ISBN 0262083426, 471 Seiten
Freier Handel und freie Migration haben – folgt man einer ganz einfachen Version ökonomischer Theorie – ähnliche Auswirkungen. Sie bedrohen die Arbeitsplätze und die Löhne der Wenigqualifizierten in den verhältnismäßig reichen Ländern. Die Ökonomen Timothy J. Hatton (Australien) und Jeffrey G. Williamson (USA) halten dagegen: Freier Handel und freie Migration können den globalen Lebensstandard wesentlich heben. Der potenzielle Beitrag der freien Migration ist sogar noch höher als der des freien Handels. Denn nur freie Migration erlaubt es den Menschen von Orten, an denen ihre Produktivität niedrig ist, an Orte zu gelangen, wo ihre Produktivität hoch ist. Vor dem Ersten Weltkrieg, in der ersten Globalisierungsphase, hat freie Migration – vor allem aus Europa nach Nordamerika – mehr als der Freihandel zu Wohlstandsgewinnen und Konvergenz im atlantischen Raum beigetragen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts haben allerdings die Migrationskosten und die Armut eine massive Beteiligung von Nichteuropäern an der Migration nach Amerika verhindert, danach (bis Mitte der sechziger Jahre) zunehmend politische Restriktionen.
Während in der ersten Globalisierungsphase die Migration freier als der Handel war, ist es in der zweiten Globalisierungsphase, in der wir leben, umgekehrt. Der Handel ist relativ frei, die Migration ist reglementiert. Außerdem ist Europa zum Zuwanderungsgebiet geworden und Lateinamerika zum Abwanderungsgebiet. Weil die Löhne zwischen Europa und Nordamerika noch Ende des 19. Jahrhunderts im Verhältnis 1:2 auseinanderklafften, heute aber zwischen vielen bevölkerungsstarken Entwicklungsländern und den reichen Ländern des Westens mindestens im Verhältnis 1:5, bietet Migration aus globaler Sicht eigentlich eine riesige Quelle denkbarer Wohlstandsgewinne. Aber die Zuwanderung Wenigqualifizierter ist aus Verteilungsgründen, in Wohlfahrtsstaaten auch aus fiskalischen und soziokulturellen Gründen – von der Sorge um die kulturelle Identität der Aufnahmeländer bis hin zu Fremdenfeindlichkeit – zunehmend unerwünscht. Wer sich über Theorie, ökonometrische Evidenz zu den Determinanten und Auswirkungen der Migration oder Migrationspolitik informieren will, sollte an diesem Werk nicht vorbeigehen.
Immigrants: Your Country Needs Them
Philippe Legrain | Little and Brown 2007, ISBN 9780316732482, 374 Seiten
Jedes Jahr sterben mehr Menschen bei dem Versuch, illegal aus Mexiko in die USA zu gelangen, als in drei Jahrzehnten bei dem Versuch, die Berliner Mauer von Ost nach West zu überwinden. „Immigrants. Your Country Needs Them“ lautet der Titel eines Buches, in dem der britische Journalist Philippe Legrain zu begründen versucht, warum freie Zuwanderung aus armen in reiche Länder im Interesse nicht nur der Zuwanderer und ihrer Heimatländer liegt, sondern auch und vor allem in dem der Aufnahmeländer. Legrain verweist auf Schätzungen, die eine Verdoppelung des Weltprodukts für möglich halten, wenn alle Grenzen geöffnet würden. Für nur am Rande relevant hält Legrain die Verdrängung einheimischer Unqualifizierter durch zuwandernde Unqualifizierte, denn Zuwanderer schafften immer auch Arbeitsplätze für andere.
Paradebeispiel Legrains für die Vorzüge einer aufnahmebereiten Volkswirtschaft ist Israel, das in nur zwei Jahren durch die Zuwanderung russischer Juden Anfang der neunziger Jahre seine arbeitsfähige Bevölkerung um acht Prozent erweiterte. Diese Zuwanderung führte nicht zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit und nur vorübergehend zu – geringfügig – fallenden Löhnen. Für die USA zitiert Legrain eine Studie, wonach 92 Prozent der Menschen letztlich von Zuwanderung profitieren und nur acht Prozent darunter leiden. Legrain kritisiert rückwärtsgewandte Vorstellungen nationaler Identität und ethnischer Homogenität. Um Sorgen vor einer „Überfremdung“ zu zerstreuen, plädiert er für mehr zeitweilige Zuwanderung von Gastarbeitern ohne Familienangehörige. Dabei spielt er allerdings zum einen die historische Erfahrung herunter, wonach zeitweilige Zuwanderung dazu tendiert, dauerhaft zu werden, zum anderen bedenkt er kaum, dass zumindest permanente Zuwanderung auch die Wählerschaft ändert. Der Frage, was ein zunehmender Anteil muslimischer Wähler für europäische Gesellschaftsordnungen über die Zuwanderungsgeneration hinaus bedeuten kann, würde man eine Erörterung wünschen, die über die Aussage, dass demokratisch legitimierte Gesetze Vorrang vor dem göttlichen Gesetz haben müssen, hinausgeht. Wer sich als Befürworter einer freiheitlichen Marktwirtschaft von Legrains Plädoyer für offene Grenzen überzeugen lässt, könnte dennoch geneigt sein, nicht alle Zuwanderer gleichermaßen mit offenen Armen zu empfangen. Selbst wenn man wenig Furcht vor terroristischen Neigungen einer winzigen Minderheit der Muslime hat, besteht Anlass zur Sorge, dass viele Muslime ihren Kindern oder gar anderen Muslimen das für uns Europäer selbstverständliche Recht vorenthalten wollen, von jeder Religion und damit auch vom Islam abfallen zu dürfen.
Breeding Bin Ladens. America, Islam, and the Future of Europe
Zachary Shore | Johns Hopkins University Press 2006, ISBN 0801885051, 223 Seiten
Zachary Shore, der zeitweilig im Planungsstab des amerikanischen Außenministeriums tätig war, analysiert in seiner Studie die Gewaltneigung einer winzigen Minderheit europäischer Muslime, die sich bei der Ermordung Theo van Goghs in den Niederlanden 2004, bei den Selbstmordattentaten in London im Juli 2005 oder den Vorstadtunruhen in Frankreich im Herbst 2005 manifestiert hat. Als Ursachen identifiziert Shore neben der Frustration und Ambivalenz vieler Muslime gegenüber westlichen Werten und Lebensstilen die Kritik an der amerikanischen und israelischen Politik im Nahen und Mittleren Osten. Von ihm zitierte Umfragedaten bestätigen die Distanz vieler europäischer Muslime zu westlichen Werten. Viele ausführlich dokumentierte Gespräche haben Shore davon überzeugt, dass gerade junge Muslime in Europa zunehmend ihre Identität im Islam suchen und finden. Weil die Zahl der Muslime in Europa sich durch Zuwanderung und hohe Nachwuchsrate in zehn Jahren verdoppeln könnte – der Anteil der Muslime in Frankreich etwa könnte schon in 20 Jahren bei einem Anteil von 25 Prozent liegen –, geht Europa den Autoren zufolge einer schweren Krise entgegen, wenn es ihm nicht gelingt, seine Muslime besser zu integrieren.
Das wird nicht leicht sein, weil enge Heimatkontakte die Integration der Zuwanderer erschweren, auch weil – was nur beiläufig für Großbritannien erwähnt wird – die Integration etwa von südasiatischen Muslimen in den Arbeitsmarkt wesentlich schwerer fällt als von Hindus. Nach Shore wird Europa mehr für die Integration der Muslime unternehmen müssen als bisher. Dabei denkt er vor allem an ein Headstart-Programm nach US-Vorbild zugunsten muslimischer Kinder, an Mikrokredite, mit deren Hilfe Muslime sich selbständig machen können, an Austausch- und Entsendeprogramme oder an die Einrichtung von Beratungsgremien. Aber die vorgeschlagenen Therapien werfen mehr Fragen auf als sie beantworten, etwa: War Headstart wirklich effizient? Und selbst wenn es das war – ist es übertragbar? Wenn es auch das wäre, kann man Europas Steuerzahler und Wähler zur Finanzierung überreden, wo doch Shore selbst nachdrücklich darauf hinweist, dass gesellschaftliche Heterogenität die Bereitschaft zur Finanzierung der Umverteilung untergräbt? Zudem kontrastiert die verhältnismäßig milde Therapie mit der Diagnose eines sehr schwerwiegenden sozialen Problems.
Dr. Erich Weede, geb. 1942, war bis 2004 Professor für Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 2005 erschien von ihm „Balance of Power, Globalization and the Capitalist Peace“ (Friedrich-Naumann-Stiftung).
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 207 - 209.