Ungleicher Wohlstand oder Armut für alle
Wie wirkt sich die Globalisierung auf den Wohlfahrtsstaat aus?
Globalisierung führt weltweit gesehen zu mehr Wohlstand. Doch der Fortschritt hin zu globaler Gleichheit geht in den bereits entwickelten Ländern oft mit steigender sozialer Ungleichheit einher. Es wäre aber kontraproduktiv, dem durch protektionistische Maßnahmen entgegenzuwirken. Durch höhere Steuern etwa werden Leistungsträger vergrault. Ein gewisses Maß an Ungleichheit wird zu akzeptieren sein.
Die Globalisierung verdanken wir der technologischen Entwicklung, den deshalb fallenden Kommunikations- und Transportpreisen, aber auch dem politischen Willen der USA und ihrer Verbündeten, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Handelsschranken zwischen den Nationen abzubauen, wirtschaftliche Freiheit und Kapitalismus global zu verbreiten. Weil Globalisierung die Integration vorher fragmentierter Märkte bedeutet, ermöglicht die Globalisierung mehr Arbeitsteilung und daraus resultierende Produktivitätsgewinne.
Die Ungleichheit unter den Menschen in armen und reichen Ländern – in Bezug auf die Kapitalausstattung der Arbeitsplätze, den Ausbildungsgrad oder auch die Bereitschaft, niedrige Löhne zu akzeptieren – sollte dabei als Hintergrundbedingung beiderseits vorteilhafter Tauschgeschäfte und nicht nur als Ärgernis aufgefasst werden. Die Globalisierung hat mehreren hundert Millionen Menschen in Asien einen Ausweg aus bitterster Armut ermöglicht. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts führt die Globalisierung dank des schnellen Wachstums vieler bevölkerungsstarker asiatischer Länder auch zu einer langsamen globalen Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen und vor allem auch der Lebenserwartungen unter den Menschen.1 Dass manche Länder – vor allem in Afrika – nicht von der Globalisierung profitieren, ist unbestreitbar. Das rechtfertigt aber keine negative Beurteilung der Globalisierung. Nur Beteiligung an der Globalisierung, nicht aber Globalisierungsabstinenz führt zu Globalisierungsgewinnen.
Über die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Nationen und deren Folgen – Wachstum, Wohlstand und Demokratisierung – trägt die Globalisierung auch zur Verringerung des Kriegsrisikos bei, wie ich andernorts dargelegt habe.2 Wer globales Wirtschaftswachstum, Überwindung der Massenarmut in den noch armen Ländern, globale Demokratisierung und die Verringerung von Kriegsrisiken will, muss eigentlich ein Befürworter der Globalisierung sein. Die Globalisierung bedroht nicht die Wohlfahrt der meisten Menschen, sondern höchstens eine sozialpolitische Festung Europa.
Nicht nur die Welt braucht Globalisierung, gerade auch wir brauchen sie. Vor den USA, China und Japan ist Deutschland zurzeit der größte Exporteur der Welt. Es kann deshalb nicht im nationalen Interesse unseres Landes sein, den globalen Liberalisierungsprozess zu behindern und zu verzögern. Das schließt natürlich nicht aus, dass Sonderinteressengruppen oder Verteilungskoalitionen innerhalb unseres Landes ein Interesse daran haben können, vom globalen Wettbewerbsdruck verschont zu werden und deshalb erhöhte Einkommen und Profite zu erzielen. Das so genannte Rent-Seeking von Sonderinteressengruppen dient aber nie dem Allgemeinwohl, sondern ist grundsätzlich ein Versuch organisierter Interessen, sich Sondervorteile gegenüber schlecht organisierten oder unorganisierbaren Interessen, wie denen der Konsumenten oder der Steuerzahler, zu verschaffen. Auch wenn Politiker sich Sonderinteressen unterwerfen, werden diese noch lange nicht zum Gemeinwohl.
Lohndruck durch Globalisierung?
Die Globalisierung hat auch Verteilungsfolgen im Inland. Theoretisch ist es plausibel zu erwarten, dass die Globalisierung in reichen Ländern wie Deutschland tendenziell das mobile Kapital und auch das Humankapital stärkt und die Position immobiler unqualifizierter Arbeit schwächt. Wenn man an China oder Indien denkt, ist klar, dass weltweit unqualifizierte Arbeit im Überfluss vorhanden ist.
Den Lohndruck auf unqualifizierte Arbeit durch Globalisierung sollte man allerdings nicht überschätzen. Zum Teil, nach dominanter Meinung der Fachleute sogar zum weitaus größten Teil, geht die zunehmende Ungleichheit der Löhne und Einkommen in den meisten westlichen Ländern auf die technische Entwicklung zurück. Ich komme noch darauf zurück, was es bedeutet, dass Deutschland zunehmende Ungleichheit nicht akzeptieren will.
Außerdem ist in den meisten westlichen Industrieländern die Mehrheit der Beschäftigten – und im Laufe der Zeit ein noch zunehmender Anteil – im Dienstleistungssektor beschäftigt. Weil die Anbieter vieler Dienstleistungen in der Nähe ihrer Kunden bleiben müssen, bleiben viele deutsche Anbieter vom globalen Wettbewerb verschont. Man fliegt nicht nach Hyderabad, weil dort der Friseur billiger ist. Man geht auch nicht nach Tschunking ins Altersheim, weil dort Altenpfleger und Krankenschwestern für einen Bruchteil der deutschen Löhne arbeiten.
Selbst bei der Produktion handel-barer Güter müssen hohe Löhne kein Problem sein, wenn sie durch entsprechende Produktivitätsunterschiede gedeckt werden. Wer allerdings den heimischen Arbeitskräften Löhne sichern will, die nicht mehr durch Produktivitätsvorsprünge gedeckt werden, der riskiert hohe und zunehmende Arbeitslosigkeit.3 Um ein ehemaliges Wahlkampfmotto von Gerhard Schröder von der Außenpolitik auf die Wirtschaftspolitik zu übertragen: Das ist neuerdings der „deutsche Weg“. International vergleichende ökonometrische Studien4 zeigen, dass in hoch entwickelten Ländern eine allzu egalitäre Einkommensverteilung das Wirtschaftswachstum hemmt. Roland Vaubel hat es kürzlich prägnant zusammengefasst: „Nicht die Globalisierung ist ... das Problem, sondern unsere Unfähigkeit, damit umzugehen.“5
Steuerwettbewerb statt Steuerharmonisierung
Im Zeitalter der Globalisierung ist es zu einem Steuerwettbewerb gekommen, der in vielen westlichen Ländern zu einer Senkung der Unternehmens- und Einkommenssteuern geführt hat, vereinzelt – in den baltischen Ländern, der Slowakei und Russland – sogar zu einer Proportionalsteuer oder „flat tax“.6 Bei der Bewertung dieser Tatsache ist zunächst einmal zu berücksichtigen, dass Steuerwettbewerb bessere Voraussetzungen für die Umsetzung von Bürger- und Wählerpräferenzen in Politik schafft als Steuerharmonisierung. Wenn sich die Präferenzen der Wähler in verschiedenen Gesellschaften in Bezug auf Steuerlasten, Staatsaufgaben und Sozialleistungen unterscheiden, dann erlaubt nur Steuerwettbewerb, nicht aber Steuerharmonisierung im Rahmen der Europäischen Union oder der OECD ein den unterschiedlichen Präferenzen entsprechendes Angebot des Staates. Der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten und ein von Land zu Land unterschiedliches Angebot von Staats- und Sozialleistungen haben den zusätzlichen Vorteil, den Bürgern einen Vergleichsmaßstab für die Leistungen der eigenen Regierung und Verwaltung in die Hand zu geben und damit dem Bürger eine rationale Wahlentscheidung zu erleichtern. Schließlich setzt der Wettbewerb den Staatsapparat unter Kostensenkungs- und Leistungsdruck. Wer dem Wettbewerb unterworfen ist, kann nicht wie ein Monopolist für bescheidene Leistungen hohe Preise oder Gebühren verlangen. Steuer- und Standortwettbewerb erinnern die Politik also daran, dass in der Demokratie letztlich der Bürger und Wähler der Herr und der Politiker nur der Diener ist – und nicht etwa umgekehrt. Man könnte auch sagen, dass die Abwanderungsdrohung dem Bürger in seiner Eigenschaft als Steuerzahler eine zweite Stimme verleiht, die jederzeit und nicht nur alle vier Jahre eingesetzt werden kann.
Wenn man von kleinen Schwankungen auf hohem Niveau einmal absieht, lässt sich weder in westlichen Ländern noch bei uns in Deutschland eine nachhaltige Verringerung der Sozialleistungsquote oder der Staatsquoten feststellen. Günstigstenfalls ist die Hoffnung mit den Daten kompatibel, dass die Globalisierung den langfristigen Trend zur Ausweitung der Staatstätigkeit und der Sozialleistungen endlich zum Halten bringt.
Implizit habe ich gerade nicht nur hohe Staatsquoten, sondern auch hohe Sozialtransferquoten und damit den real existierenden Wohlfahrtsstaat als Übel bezeichnet. Warum? Aus drei Gründen: Von den Anhängern des Wohlfahrtsstaats wird immer wieder eine simple Überlegung vernachlässigt. Der Wohlfahrtsstaat belohnt nicht nur Leistungsdefizite und Erfolglosigkeit durch Transferzahlungen, sondern er muss auch Leistung und Erfolg durch hohe Steuern und Sozialabgaben bestrafen. Wenn man das jahrzehntelang macht, erzeugt man mehr Leistungsdefizite und weniger Erfolg. So transformiert man ein Wirtschaftswunderland zum kranken Mann Europas.
Außerdem ist der Wohlfahrtsstaat in den meisten westlichen Ländern nicht mehr solide finanziert. Jahr für Jahr finanziert der deutsche Staat sich und seine im internationalen Vergleich üppigen Sozialleistungen auch durch Defizite. Selbst wenn man eine ethische Rechtfertigung des Wohlfahrtsstaats für denkbar oder gar zwingend hält, ist ein Wohlfahrtsstaat auf Pump nicht Resultat überlegener Moral, sondern bloße Gefälligkeitspolitik zwecks Stimmenmaximierung zu Lasten künftiger Generationen.
Schließlich müssen die Wanderungsfolgen unseres Wohlfahrtsstaats bei alternder Bevölkerung in einer globalisierten Welt berücksichtigt werden. Wer den einen hohe Sozialleistungen zahlt und bei den anderen hohe Steuern und Abgaben eintreibt, der lockt Leistungsschwache und Erfolglose aus dem Ausland an und vertreibt die Leistungsträger aus dem eigenen Land. Die Zuwanderung von Leistungsschwachen kann man vielleicht in den Griff bekommen, ohne den freiheitlichen Charakter unserer Gesellschaft allzu sehr zu gefährden. Die Abwanderung der Eliten kann eine freiheitliche Gesellschaft nicht verhindern. Das manager magazin hat Anfang des Jahres 2005 aufgrund einer Umfrage unter Hochschulabsolventen deren Auswanderungsbereitschaft unter dem Titel „Generation Good-Bye“ beschrieben.7 Der „deutsche Weg“ unserer herrschenden Politiker erschöpft sich zurzeit darin, der Jugend und vor allem den Leistungsträgern Auswanderungsanreize zu vermitteln.
Im Zeitalter der Globalisierung wird der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag unseres Landes auch für die Leistungsträger in Wirtschaft und Wissenschaft wieder akzeptabel werden müssen. Oder Deutschland setzt den Weg in den Niedergang konsequent fort. In einer offenen Welt kann man die leistungsfähigsten Köpfe nicht verstaatlichen.
Vermutlich sind heute die radikalsten Kritiker des Wohlfahrtsstaats diejenigen, die Teile davon vielleicht noch retten. Wer Leistungsträger und Wirtschaft überlastet, der trägt zunächst zur Stagnation und bei der absehbaren Alterung unserer Gesellschaft irgendwann zum Kollaps des Wohlfahrtsstaats bei.
Dr. ERICH WEEDE, geb. 1942, ist habilitierter Politikwissenschaftler. Er lehrte bis 2004 Soziologie an der Universität Bonn. 2005 erschien von ihm bei der Friedrich-Naumann-Stiftung „Balance of Power, Globalization and the Capitalist Peace“.
- 1 Vgl. etwa Gary Becker, Tomas J. Philipson und Rodrigo R. Soares: The Quantity and Quality of Life and the Evolution of World Inequality, American Economic Review, März 2005, S. 277–291; Surjit S. Bhalla: Imagine there’s no country: poverty, inequality and growth in the era of globalization, Washington, DC 2002.
- 2 Vgl. Erich Weede: Balance of Power, Globalization and the Capitalist Peace, Berlin 2005; ders.: Frieden durch Kapitalismus, Internationale Politik, Juli 2005, S. 64–73.
- 3 Horst Siebert: Arbeitslos ohne Ende? Strategien für mehr Beschäftigung, Wiesbaden 2002.
- 4 Vgl. dazu: Robert J. Barro: Inequality and Growth in a Panel of Countries, Journal of Economic Growth, März 2000, S. 5–32; Erich Weede: Kapitalismus und Solidarität, Arbeit und Wachstum in westlichen Industriegesellschaften, Zeitschrift für Politik, 1/1999, S. 30–49. Gegenteilige Behauptungen in der Fachliteratur sind nicht haltbar, z.T. beruhen sie auf einfachen Verkodungsfehlern, wie etwa der Klassifikation der ehemaligen südkoreanischen Militärdiktatur als Demokratie. Vgl. dazu: Erich Weede: Income Inequality, Democracy, and Growth, European Journal of Political Economy, 4/1997, S. 751–764.
- 5 Roland Vaubel: Sozialpolitische Konsequenzen der Globalisierung, in Andreas Freytag (Hrsg.): Weltwirtschaftlicher Strukturwandel, nationale Wirtschaftspolitik und politische Rationalität, Köln 2005, S. 143–158, hier S. 156.
- 6 Vgl. Friedrich August von Hayek Institut (Hrsg.): Reforms for a Competitive Economy, Wien 2005.
- 7 Vgl. Jugendstudie „Generation 05“. Was Studenten über ihre Zukunft denken. manager magazin, 4/2005, S. 114–131.
Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 114‑117