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01. Nov. 2005

Warten auf Atatürk?

Reuel Marc Gerecht, der amerikanische Islam- und Terrorexperte, hat die Hoffnung auf Demokratie in der arabischen Welt noch nicht aufgegeben

Dieser Mann ist ein Ereignis. Ein Mediävist, der zu den wichtigsten NahostExperten im gegenwärtigen Washington gehört. Ein Schüler von Bernard Lewis, zu dessen besten Freunden Olivier Roy zählt. Ein Neocon, der sich in die Seelen von muslimischen Radikalen und europäischen Linksextremisten hineinversetzen kann. Ein ehemaliger CIA-Agent, der in den Iran vernarrt ist. Ein intimer Kenner des Persischen, der für die Bombardierung der iranischen Nuklearproduktionsstätten plädiert. Ein Befürworter von Präventivkriegen, dessen Glaube an den Demokratiewunsch im Nahen Osten unerschütterlich ist. Ein dialektischer Denker, der Präsident Bush unterstützt und Verteidigungsminister Rumsfeld für eine Katastrophe hält.

Reuel Marc Gerecht war in Berlin, als Gast der American Academy. In ihm verkörpern sich wie in kaum einem anderen Größe und Tragödie der amerikanischen Politik seit dem 11. September 2001. Gerecht gehört zu den produktivsten Washingtoner Publizisten, als Fellow des American Enterprise Institute, gefeierter Buchautor und ständiger Mitarbeiter von Weekly Standard und Atlantic Monthly. Ein Porträt dieses Mannes führt ins Zentrum der außenpolitischen Debatte der USA. Und es wird zwangsläufig eine Würdigung des Phänomens „Neokonservatismus“.

Zum jetzigen Zeitpunkt? Der heiße Begriff „Neocon“ ist längst erkaltet. Wer bis jetzt nicht verstanden hat, was sich dahinter verbirgt, wird es nicht mehr begreifen. Als Feindbild der Amerika-Gegner und Projektionsfläche der Verschwörungstheoretiker taugt er kaum mehr. Doch die Neocons stehen längst nicht mehr nur unter Beschuss von links oder aus Europa. Ihre konservativen Gegner attackieren immer lautstärker: Einer eher schwachen Verteidigung durch Joshua Muravchik in Commentary (Oktober) stehen die Frontalangriffe in den jüngsten Ausgaben von National Interest (Herbst) und Foreign Affairs (September/Oktober) gegenüber.

Gregory Gause erklärt in der letztgenannten Zeitschrift das Kernstück der Freiheitsstrategie Bushs zum Irrglauben. Eine Demokratisierung des Nahen Ostens würde nicht zum Ende des Terrorismus führen. Verwiesen wird auf die wahrscheinlichen Gewinner freier Wahlen – die Islamisten – und auf die Tatsache, dass es auch in westlichen Demokratien oder in Indien Terrorismus gab und gibt. Osama Bin Laden wolle gar keine Demokratie, sondern ein muslimisches Kalifat, und darum würde ihn auch die Demokratisierung islamischer Länder nicht besänftigen, meint der Nahost-Fachmann. In National Interest erklärt John Mearsheimer erneut den Irak-Krieg zum „Testfall“ für die außenpolitischen Theorien der Neokonservativen und der Realisten. Der klare Sieger nach dem bisherigen Desaster im Irak: Mearsheimers eigene realistische Denkschule. Dov S. Zakheim zeigt Verständnis für das Ziel eines demokratischen Nahen Ostens, hält aber den Zeitplan der Bush-Regierung für völlig unrealistisch – es handle sich hier um ein Projekt, das mehrere Generationen umspanne. Die Generalabrechung mit dem „Freiheitskreuzzug“ erfolgt an derselben Stelle durch Robert W. Tucker und David C. Hendrickson: Demokratieverbreitung entspreche weder der Tradition noch den Interessen Amerikas.

Reuel Marc Gerecht lassen diese Vorwürfe kalt. Vom Nahen Osten haben seine Gegner, wie er glaubt, wenig begriffen. Kaum einer ist dort so oft wie er unterwegs, auf Straßen und Basaren, zu Geistlichen und Politikern, Journalisten und Schriftstellern. Natürlich verspricht sich nicht Bin Laden, aber vielleicht das Millionenheer seiner Sympathisanten von der Demokratie ein besseres Leben. Auch die Angst vor den Islamisten, der verengte Blick auf Amerikas kurzfristige Interessen beeindrucken Gerecht nicht. Die arabische Welt kann sich nur selbst demokratisieren. Wenn bei freien Wahlen antiamerikanische Parteien an die Macht kommen, ist das Teil eines langen und qualvollen Weges zur politischen Selbstbestimmung, den Gerecht einen „Heilungsprozess“ nennt.

Demokratie kann nur durch ein Aufbegehren von unten kommen und nicht durch gönnerhafte Reformen von oben. „Auf einen arabischen Atatürk zu warten ist eine tödliche Sackgasse“, erklärt Gerecht. Die arabische Demokratie wird islamisch sein. In einer Demokratie können Fehler immer wieder korrigiert werden und die Wähler sich immer wieder überlegen, was am besten für sie ist. Darum ist Demokratieförderung auch wichtiger als die kontraproduktive Forderung nach Frauenrechten. Gerecht hat dieses amerikanische Urvertrauen in die Vernunft des Volkes, in den gesunden Menschenverstand, der sich am Ende durchsetzen wird. Dieser unerschütterliche Glaube an die demokratische Sehnsucht und Reife der arabischen Bevölkerung unterscheidet ihn von vielen europäischen Freunden eines freiheitlichen Nahen Ostens.

Vor den Angriffen auf World Trade Center und Pentagon sprach sich Gerecht selbst noch für einen Weg zur Demokratie aus, der über liberale oder diktatorische Säkularisten führen sollte (Weekly Standard vom 19. September). An diesem Tag hat er verstanden, dass es nur den islamischen Weg zur Demokratie geben kann. Die Herrschaft des Volkes wird die Sprache sprechen, die das Volk versteht. Die winzige liberale Elite spricht diese nicht. Der Westen muss sich von der Idee des „institution building“ lösen. Gerechts Hoffnungsträger sind die Schiiten, allen voran reformerische Mullahs im Iran und der irakische Großajatollah Al-Sistani. Als dieser verkündete, das Prinzip „ein Mann, eine Stimme“ entspreche dem islamischen Religionsgesetz, wurde dem Irak eine demokratische Zukunft eröffnet. Die Ideen einer konstitutionellen Regierung und der Gewaltenteilung sind in schiitischen Kreisen weit verbreitet. Wenn man Gerecht von der offenen Debatte unter schiitischen Geistlichen schwärmen hört, könnte man glauben, die Demokratie stehe kurz vor ihrer Verwirklichung. Denn die freie Diskussion ist für ihn die Essenz einer freien Ordnung. Die Schiiten haben die Flexibilität und das Entwicklungspotenzial ihrer Tradi-tion unter Beweis gestellt. Ein genuin islamischer Begriff des Zweifels und der rationalen Entscheidung bereitet die Demokratie vor. Schwieriger sieht es bei den Sunniten aus, wo es anders als bei den iranischen Schiiten keine intellektuelle Erneuerung durch eine Revolution gab. Bei den Sunniten entdeckt Gerecht aber eine tyrannenfeindliche Tradition. Auch hier ist die vibrierende Debatte ein Hoffnungszeichen – besonders unter den ägyptischen Muslimbrüdern.

Hat der Irak-Krieg dabei geholfen? Es war wohl mehr die Rhetorik der Bush-Regierung als ihre faktische Politik, die dem „arabischen Frühling“ einen Anstoß gegeben hat. „Die Bush-Revolution ist zum Stillstand gekommen“, sagt Gerecht mit Bedauern. Die Vorstellung, der Irak solle ein demokratisches Vorbild für die Region werden, hält Gerecht dagegen für eine „US-zentrierte, selbstverliebte Idee. Wir müssen keinen Schönheitswettbewerb gewinnen. Die Araber brauchen uns nicht, um zu wissen, welche Vorteile sie von einer Demokratie haben.“ Natürlich waren die Neocons für den Krieg. Aber sie wollten nie diesen Krieg, so wie ihn Rumsfeld geführt hat. „Immerhin hat die Regierung jetzt verstanden, dass sie zu einer Counter-insurgency-Strategie übergehen muss. Statt Schonung der Truppen und Jagd auf Aufständische muss die Sicherheit der Bevölkerung oberste Priorität haben. Nur mit der Unterstützung der Bevölkerung wird man den Terror besiegen können.“ Passend dazu hat der Vietnam-Spezialist Andrew F. Krepinevich in Foreign Affairs (September/Oktober) gerade eine solche Strategie entworfen.

Den Krieg hat Gerecht vehement gefordert – weil er die nationale Sicherheit Amerikas in Gefahr glaubte. Militärische Interventionen befürwortet er nur aus zwei Gründen: Wenn Tyrannen und Terrorregime ihre eigene oder andere Bevölkerungen abschlachten, und wenn diese Gewaltherrscher zu einer Bedrohung der Sicherheit Amerikas werden – etwa durch das Streben nach Massenvernichtungswaffen. Demokratie kann für Gerecht nie ein Kriegsgrund, nur ein „Kollateralnutzen“ einer Intervention sein. Aber Gerecht betont das Prinzip der Prävention: Je länger man in solchen Fällen wartet, desto schlimmer wird zumeist die Lage. Darum ist der frühe militärische Eingriff besser. Im aktuellen Fall des Irans heißt das: Gerecht plädiert für den Angriff, und er rechnet mit dessen Erfolg. „Durch die gescheiterten Verhandlungen der EU-3 wissen wir, dass die Nuklearproduktion nicht über das ganze Land verstreut ist, wie wir gefürchtet hatten, sondern sich im Wesentlichen an zwei Stätten konzentriert.“

Doch Gerecht hält einen Angriff für ausgeschlossen. Weder die USA noch Europa sind dazu bereit. Stattdessen bereitet er uns auf ein anderes Szenario vor: auf eine neue Ära des Containment. Iran wird die Bombe bauen, und der Westen wird eine Politik der Eindämmung betreiben. Das Problem ist nur, dass weder Europäer noch Amerikaner wirklich einschneidende Sanktionen verhängen werden. Am wirkungsvollsten wäre ein Energieembargo, aber keiner will den Ölpreis noch höher treiben. Den regierenden Mullahs traut Gerecht nicht über den Weg. Mit einem demokratischen, nuklear gerüsteten Iran hingegen hätte Gerecht keine Probleme. Also bleibt als einzige realistische Option „regime change“. Aber den können nur die Iraner selbst herbeiführen.

Gerecht zieht die logische Konsequenz aus seiner strategischen Analyse. Und er ist fest davon überzeugt, dass sich dieser Vorschlag durchsetzt, auf Dauer und über die Parteigrenzen hinweg. Die Eindämmung der Sowjet-union war begleitet von der Förderung von Dissidenten, Demokraten, Anti-stalinisten, über offene wie verdeckte Kanäle. Die besten Chancen, heimlich CIA-Geld zu erhalten, hatten linke Antikommunisten und Sozialisten. Ähnlich, nur viel verdeckter, ging die Unterstützung von Dissidenten in Osteuropa vonstatten. Wer dazu bereit war, konnte heimlich Geld aus Washington bekommen. So manche Samisdat-Publikation konnte so entstehen. Vaclav Havel hat später dieses Engagement der USA gelobt. Beflügelt hat die heimlichen Demokraten Radio Free Europe/Radio Liberty, die mediale Speerspitze des Kalten Kulturkriegs.

Nach genau diesem Muster will Gerecht heute im Nahen Osten verfahren. Besonders im Iran ist die Zeit dafür reif. Offene Unterstützung ist schwierig und kann leicht in falsche Hände gelangen. Darum plädiert Gerecht für die verdeckte Unterstützung aller Gruppen und Personen, deren Ziel eine Öffnung und Demokratisierung der nahöstlichen Gesellschaften ist. Die Minderheit der Liberalen und Linken fällt darunter, aber genauso schiitische Geistliche, konservativ- reformerische Journalisten im Iran oder moderatere Islamisten. Sie müssen keine Demokraten nach westlichem Muster, nur Gegner von Terror und Tyrannei sein. Zwei Bedingungen gibt es: Erstens müssen die Amerikaner wissen, mit wem sie es zu tun haben, und darum ihre sprachlichen und kulturellen Kompetenzen ausbauen – um etwa die klerikalen Differenzen im Iran auszunutzen, würde man dann nicht westliche Werte, sondern Religionsfreiheit propagieren. Zweitens entscheiden die potenziell Förderungswürdigen völlig freiwillig, ob sie das Geld aus Washington nehmen. „It takes two to tango“, meint Gerecht.

Eine Arbeitsteilung ist dabei denkbar und erwünscht. Die offene Demokratieförderung betreiben am besten spezialisierte NGOs, vom National Endowment for Democracy bis zur Soros-Stiftung, und Radio Free Europe könnte den Soundtrack dazu liefern. Die riskantere verdeckte Förderung übernehmen die Geheimdienste. Das könnte konkret so aussehen: Eine reformorientierte Zeitung im Iran muss schließen, weil ihr das Geld oder Papier ausgegangen ist – nicht weil sie verboten wurde. Offiziell darf sie keine Hilfe aus dem Ausland erhalten. Aber wenn der Herausgeber es will, übernimmt die CIA heimlich die Finanzierung, ohne Einfluss auszuüben. Wie im Kalten Krieg eben. Nischen erkennen und ausfüllen ist das Prinzip.

Gerecht und seine Mitstreiter schrecken auch vor scharfer Kritik an der Regierung nicht zurück. „Wir stammen aus einer Tradition des Widerspruchs, und wenn wir es für nötig halten, werden wir uns auch von Bush distanzieren.“ So weit ist es aber nicht. Weiterhin glaubt Gerecht an den Erfolg im Irak und die Demokratie in der islamischen Welt.

Wenn Gerecht über etwas enttäuscht ist, dann nicht über die Entwicklung in der islamischen Welt, sondern über die Reaktion der europäischen Linken: „1991 hat die französische Linke mit ähnlichen Argumenten wie wir die Unterstützung der algerischen Junta kritisiert. Warum setzen wir uns nicht gemeinsam für Demokratie in der islamischen Welt ein?“ Der Antiamerikanismus steht dagegen – und die Skepsis. Der arabischen Welt traut man die Demokratie doch nicht zu. Aber es gibt noch einen dritten Grund, wie Gerecht glaubt: den blanken Neid. Nicht mehr Europas Linke, sondern die Neocons sind die Avantgarde des Fortschritts. Sie übernehmen eine klassische europäische Rolle in einem globalen Drama: Sie sind heute die engagierten Intellektuellen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2005, S. 126 - 129

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