Eine Gerechte unter den Völkern
Die Zukunft des Irak: Wie eine Frau die Prozesse gegen Saddams Regime möglich machte
Tony Judt gibt keine oberflächlichen Kommentare zum Verhältnis zwischen Amerika und Europa ab. In der New York Review of Books vom 10. Februar versucht er, die Ursachen der nicht erst in jüngster Zeit entstandenen Beziehungsprobleme genauer zu bestimmen. Zunächst korrigiert er die Fehlurteile über die wirtschaftlichen Verhältnisse, die beide Seiten pflegten. Der klare Gegensatz von der in Freiheit florierenden amerikanischen Ökonomie und den reglementiert dahinsiechenden europäischen Volkswirtschaften lasse sich nicht aufrechterhalten, zeigt Judt mit zahlreichen Beispielen. Die wirklichen Probleme Europas lägen woanders: Judt erwartet, dass die Spannungen zwischen der traditionellen europäischen Bevölkerung und den stark wachsenden muslimischen Minderheiten immer weiter zunehmen werden.
Erweiterung sei für Europa nicht nur ein bürokratischer Prozess, der Nahe Osten keine ferne Weltregion. Vielmehr handele es sich, im Hinblick auf Europas geostrategische Lage und muslimische Immigranten, um existenzielle Fragen. Was in Amerika oft übersehen und in Europa nicht ausgesprochen werde – die Aufnahme der Türkei und die amerikanische Mittelost-Politik berührten unmittelbar das Überleben der Europäer. „Von Tanger bis nach Täbris ist Europa vom ‚Mittleren Osten‘ umgeben.“ Darum könnten auch die Spannungen zwischen Amerika und Europa nicht so leicht aufgelöst werden. Mehr durch glückliche Zufälle, weniger aufgrund eigener Verdienste und Planung und manchmal sogar gegen den Willen der Europäer sei mit der Europäischen Union jedoch eine Struktur geschaffen worden, die als Modell dienen könne, um Frieden und neue Formen von Gemeinschaft zu stiften.
Was eine in den letzten Monaten so häufig genannte Bruchstelle zwischen den atlantischen Partnern betrifft, scheint sich die amerikanische Debatte verändert zu haben. Der Iran ist augenblicklich nicht mehr das beherrschende Thema. Symptomatisch ist der Beitrag von Christopher de Bellaigue in der gleichen Zeitschrift, in der Ausgabe vom 24. Februar. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass eine amerikanische Invasion das Problem nur verschlimmern würde – genauso wie die an ökonomischen Vorteilen orientierte Politik der Europäer. Die iranischen Führer würden ihren Anspruch auf ein Atomwaffenprogramm nur aufgeben, wenn sie sich davon mehr Sicherheit versprechen könnten. Man dürfe jedoch nicht Ambition und Rhetorik der Iraner mit der tatsächlichen Waffenproduktion verwechseln – noch gehe es dem Iran um Drohgebärden, mit denen er seine Stellung verbessern wolle. Um richtig zu reagieren, müsse sich eine internationale Koalition bilden, so beschließt der Autor knapp seine Ausführungen.
„Outsourcing Terror“ ist ein Stück von Jane Mayer im New Yorker vom 14. Februar betitelt. Die Autorin berichtet in Reportageform von der geheimen amerikanischen Politik der „extraordinary rendition“, die systematische Züge angenommen habe. Besondere Einheiten der CIA würden Terrorverdächtige verschleppen und in Privatflugzeugen, die auf Militärflughäfen zwischenlandeten, in Länder wie Ägypten, Jordanien, Marokko oder Syrien bringen. Dort versuchten die lokalen Geheimdienste gewaltsam Informationen aus den Gefangenen herauszupressen. Häufig komme komme es dabei zu Folterungen. Anwälte des Weißen Hauses und des Justizministeriums hätten ihren Scharfsinn darauf verwendet, eine rechtliche Grauzone zu schaffen, in der die Genfer Konvention keine Anwendung finde. Wie Mayer jedoch in Interviews mit CIA-Verantwortlichen wie Michael Scheurer oder Cofer Black und FBI-Ermittlern herausfindet, sei diese Praxis bereits von der Clinton-Regierung eingeleitet worden. Pure Verzweiflung sei die Ursache gewesen. Man habe nicht gewusst, wie man mit den islamistischen Terroristen verfahren sollte. Was zunächst nur in wenigen Ausnahmefällen Anwendung fand, sei jedoch nach dem 11. September „explodiert“, so erklärt Scheurer der Autorin.
Das Ziel dieser Verhöre war nie, vor Gericht verwertbare Aussagen zu erhalten – ohnehin würde kein westliches Gericht diese anerkennen. Neue Anschläge sollten verhindert werden, und dazu sei fast jedes Mittel recht gewesen, bei ungewissem Erfolg: „Folter und weniger schlimme Formen physischen Zwanges bringen erfolgreich Geständnisse hervor. Das Problem ist nur, dass diese Geständnisse nicht notwendigerweise der Wahrheit entsprechen.“ Darauf hätten die mit humaneren Verhörmethoden arbeitenden FBI-Beamten schon früh hingewiesen. Für ihre detektivisch-langsamen Ermittlungen seien sie von den Spezialisten des Terrorkriegs belächelt worden. Letztere müssten heute wie Scheurer ihr Scheitern erkennen: „Wir haben einen Albtraum geschaffen.“
Robert D. Kaplan beschäftigt sich in der New York Times vom 23. Januar mit der neuesten Literatur zu Verhörmethoden und Folter. Er führt die ethischen Probleme an, die Gelehrte wie Michael Walzer oder Alan Dershowitz erörtern. Den Kern des Problems sieht Kaplan in bürokratischen Systemfehlern, die von der amerikanischen Regierung nicht beseitigt würden: Die Verhörspezialisten seien oft mangelhaft ausgebildet, beherrschten die Sprachen nicht und wüssten nicht alles, was sie für ein Verhör wissen müssten, weil jede Behörde ihr eigenes Wissen vor den anderen beteiligten Stellen geheimhalte.
Der wichtigste Gegenstand der amerikanischen Diskussion bleibt der Irak. Spätestens seit den Wahlen hat die Dichte der Beiträge wieder enorm zugenommen. In der Washington Post vom 18. Februar warnt Robert Kagan vor der um sich greifenden „antischiitischen Paranoia“; er fordert, genauer zwischen den verschiedenen Strömungen unter den Wahlsiegern zu unterscheiden. Nur wenige seien wirklich iranhörige Islamisten. Am Ende könnte es sich erweisen, dass der irakische Großajatollah Ali Sistani mehr Einfluss auf den Iran habe als die iranische Führung auf die Entwicklung im Irak.
Auch im Weekly Standard vom 14. Februar verleiht er gemeinsam mit William Kristol seiner Hoffnung Ausdruck, die von den Wahlen beflügelt ist. Dagegen breitet sich auf den Seiten der New Republic bittere Enttäuschung aus. Der einstige Kriegsbefürworter Spencer Ackerman plädiert in der Ausgabe vom 14. Februar dafür, ein baldiges Datum festzusetzen, an dem die amerikanischen Truppen aus dem Irak abgezogen würden. Nur so lasse sich noch ein Bürgerkrieg verhindern. Die amerikanische Truppenpräsenz sei mittlerweile Teil des Problems und nicht mehr dessen Lösung. Man sei in einen Teufelskreis geraten: Die fortdauernde Besatzung sei nötig, um mehr irakische Sicherheitskräfte auszubilden. Aber je länger die Besatzung andauere, desto stärker nehme die Gewalt im Land zu. Und darum müssten dann immer noch mehr irakische Sicherheitskräfte ausgebildet werden. Ein fester Abzugs-termin innerhalb eines Jahres könnte der neuen Regierung jetzt Freiraum verschaffen. Fatal wäre, wenn sich Pentagonplaner durchsetzten, die kurdische und schiitische Todesschwadronen aufstellen wollten, um den Preis für den Terror in den sunnitischen Gebieten in die Höhe zu treiben und so den Widerstand zu brechen.
Lawrence F. Kaplan, einer der eloquentesten Unterstützer einer Invasion des Iraks, sieht deren Ziel sogar als völlig gescheitert an. Er berichtet in der Ausgabe vom 7. Februar von seiner Reise nach Bagdad. Vielleicht hätten die Wahlen so etwas wie Demokratie gebracht. Aber der „liberale Bestandteil liberaler Demokratie hat sich in Luft aufgelöst“, so Kaplan. Den Jubel über die Wahlen kann er nicht teilen. Eine liberale Demokratie – „ein politisches System, das die grundlegenden Rechte und Freiheiten schützt“ – scheine unerreichbar. Die Bush-Regierung habe Demokratie mit der Mathematik der Mehrheiten verwechselt. „Demokratie zuerst, Liberalismus danach“ sei eine katastrophale Parole gewesen. Kaplan schildert seine deprimierenden Begegnungen mit den Vertretern liberalen Geistes und zivilgesellschaftlichen Engagements – vereinzelte, an den Rand der Gesellschaft gedrängte Heimkehrer aus dem Exil. Soweit sie noch in Amt und Würden seien, müssten sie täglich um ihr Leben fürchten und gefängnisgleiche Bewachung in Kauf nehmen.
„Wie soll sich denn der Liberalismus ausbreiten, wenn Liberale ihr Haus nicht verlassen können?“ fragt Kaplan. Dennoch gebe es mutige Einzelne wie Mustafa al-Kadhimi, der mit seiner „Iraq Memory Foundation“ die Verbrechen der Tyrannei Saddams dokumentiert. Das Sicherheitsproblem könnten sie freilich nicht lösen. Aber ohne Sicherheit werde es keine liberale Demokratie geben, denn immer noch gelte, wie Kaplan zustimmend den Regierungsberater Larry Diamond zitiert: „Es gibt keinen demokratischen Staat ohne einen Staat, und die fundamentalste Bedingung des Staates ist sein Gewaltmonopol.“
Von einer unerschrockenen Frau weiß William Langewiesche im Atlantic Monthly vom März zu berichten. Kaum einer weiß von ihr, aber ohne Hania Mufti könnte es keine Prozesse gegen die Schergen Saddams und den Tyrannen selber geben. Langwiesche erzählt die Geschichte altmodisch langsam und unaufgeregt. Er stellt Hania Muftis Biographie, die Entwicklung der Menschenrechtsin-stitutionen und die Untaten des irakischen Regimes in seiner chronologisch verfahrenden Reportage nebeneinander. Ausführlich wird aus Dokumenten zitiert, zahlreiche davon stammen aus der Feder Hania Muftis, verfasst für Amnesty International, ihren langjährigen, und Human Rights Watch, ihren gegenwärtigen Arbeitgeber. Aber es geht nicht um nachträgliche Kriegslegitimation. Viele der Menschenrechtsaktivisten haben sogar gegen den Krieg plädiert, weil sie das Chaos danach voraussahen. Es geht darum, die Opfer systematischer Barbarei wahrzunehmen und so ihnen und ihren Angehörigen die Würde, die ihnen lange vorenthalten wurde, zuteil werden zu lassen.
Im Frühjahr wird im Irak der erste Prozess gegen einen der Hauptverantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit beginnen. Ali Hassan al-Majid, auch als „Chemical Ali“ bekannt, wird mit einer eindeutigen Beweislast konfrontiert werden. Seine Verbrechen reichen bis zum Völkermord. Wo Zweifel bleiben, betreffen sie lediglich die Zusammensetzung des Gerichts. Salam Tschalabi, der erste Vorsitzende des Tribunals, mag nicht der beste Mann dafür gewesen sein, aber er war engagiert und unabhängig. Er wurde durch Richter ersetzt, die loyaler zur irakischen Regierung stehen. Ohnehin hätten die Menschenrechtsinstitutionen einen Prozess vor einem internationalen Gerichtshof vorgezogen.
Hania Mufti hat die Verbrechen jahrelang so genau dokumentiert, wie ihr möglich war. Lange hat sich niemand dafür interessiert. Die Tochter einer reichen jordanischen Familie heuerte 1981 bei Amnesty in London an und kümmerte sich gleich um den Mittleren Osten – was zunehmend bedeutete: um den Irak. Sie reiste in Flüchtlingslager in angrenzenden Ländern, um Überlebende der Untaten zu befragen, sie half nach Europa Entkommenen, Asyl zu erhalten, sie besuchte Kuwait nach der Befreiung von den Irakern und den kurdischen Nord-irak, der seit 1991 unter alliiertem Luftschutz stand. Mit unparteiischem Auge registrierte sie die Racheaktionen der Kuwaiter genauso wie die Verbrechen der irakischen Truppen, die Menschenrechtsverletzungen der Amerikaner im gegenwärtigen Irak wie die grausame Abschlachtung der Schiiten durch Saddams Apparat oder den Massenmord an Iranern durch Einsatz chemischer Waffen. Anders als die amerikanische Regierung untersuchte sie alles sorgfältig und unterlag nie der Exilantenpropaganda.
Den Gipfel seiner Verbrechen erreichte das selbst nach nahöstlichen Maßstäben ungewöhnlich grausame „Reich der Angst“ (so ein Buchtitel des mit Hania Mufti befreundeten Kanan Makiya) aber in Kurdistan. Die besonders von Human Rights Watch vor und nach der amerikanischen Invasion gesammelten Zeugnisse lassen keinen Zweifel daran, dass der Massenmord durch Massenerschießungen und Giftgas systematisch-bürokratischen Charakter trug. Man möchte die Einzelheiten nicht wiederholen. Die von Ali Hassan al-Majid unterzeichneten Befehle lesen sich wie Anweisungen an deutsche Einsatzgruppen im Zweiten Weltkrieg. Langewiesche spricht mit Bezug auf die „Anfal“-Aktion des Regimes von „der irakischen Entsprechung der Endlösung“. Zumindest waren die Kriterien der vom Irak 1959 unterzeichneten Völkermordkonvention erfüllt.
1997 beendete Hania Mufti, verzweifelt, erschöpft und ungehört, ihre Tätigkeit für Amnesty. Sie erholte sich und studierte französische Literatur und Philosophie. Im Jahr 2000 kehrte sie zurück, für Human Rights Watch. Anfang 2003 wurde ihre Ankunft im Nordirak von den Kurden bejubelt. Hania Mufti hat einen sicheren Platz im Herzen der Menschen, deren Leben oder Andenken sie gerettet hat. Sie lebt jetzt in Bagdad und wird eine kritische Beobachterin der Prozesse sein.
Internationale Politik 3, März 2005, S. 118 - 121.