Die Russland-Flüsterer
Die Zeichen stehen auf Verständigung
Die kommenden Monate könnten einen Durchbruch bei der überfälligen Westbindung Russlands bringen. Viele kleine vertrauensbildende Maßnahmen haben ein Umdenken in den Eliten der USA, Russlands, Polens und Deutschlands für die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen in Gang gesetzt. Jetzt heißt es: nur keine Fehler machen.
Am 29. September saßen der polnische und der russische Botschafter nebeneinander auf dem Podium des Auswärtigen Amtes in Berlin und diskutierten mit den deutschen Gastgebern über die Aussichten einer engeren Zusammenarbeit. Der Ton war derart harmonisch, dass fast schon der Eindruck entstand, als könnte sich bald in östlicher Richtung ein neues Trio nach dem Vorbild des Weimarer Dreiecks zwischen Deutschland, Frankreich und Polen bilden.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Einbindung Russlands an Illusionen gescheitert: Im Westen herrschte der Irrglaube, das wirtschaftlich und ideologisch geschwächte Russland würde sich gleichsam über Nacht in ein Land mit westlichen Standards wandeln, das sich wie die DDR und die kleineren osteuropäischen Staaten automatisch dem Westen zuwenden würde. Als Friedensdividende aus dem Ende des Kalten Krieges hoffte man nicht nur eine schnelle Osterweiterung der NATO und der EU durchsetzen zu können.
In Russland trug damals eine diffuse Mischung aus Naivität und Passivität zum Scheitern bei. Es fehlte eine klare strategische Vorstellung über den Weg nach Westen und darüber, welches Maß an multilateraler Bindung ein so großes Land wie Russland eigentlich eingehen möchte. Die Folge beider Haltungen war eine jahrelange gegenseitige Enttäuschung.
Heute ist die Ausgangslage aber eine andere: Die damaligen Illusionen sind einer neuen realpolitischen, nüchternen gegenseitigen Betrachtung gewichen. So hat man im Westen akzeptieren gelernt, dass Russland – zumindest noch – kein Land nach westlichen rechtsstaatlichen Standards ist. Dennoch, oder vielleicht gerade darum, wächst auf allen Seiten derzeit die Einsicht, dass eine Annäherung eine „Win-win“-Situation für alle Beteiligten bedeuten kann. So wie früher eine Spirale des Misstrauens und der gegenseitigen Provokationen jeden Fortschritt verhinderten, so erleichtern derzeit positive Schritte auf der einen Seite neue Gesten der Kooperation auf der anderen. Verantwortlich ist dabei eine denkbar günstige Ausgangslage in vier entscheidenden Ländern.
Polen
Ein entscheidender positiver Schritt war zweifellos die Veränderung des Denkens in der Führung des Landes der Mitte, Polen. Je selbstbewusster das osteuropäische Land wurde und sich in der EU als starker Partner etablierte, desto entspannter agierte auch die Politik in Warschau. Seit dem Regierungsantritt von Premierminister Donald Tusk im November 2007 haben sich die Chancen auf eine Zusammenarbeit nicht nur nach Osten, sondern auch nach Westen dramatisch verbessert. Der tragische Flugzeugabsturz des polnischen Präsidenten Lech KaczyÄski im russischen Smolensk am 10. April 2010 hat diese Entwicklung sogar noch beschleunigt. Zwar gibt es in Polen immer noch sehr starke, historisch bedingte Vorbehalte gegenüber Russland. Aber die gesamte Debatte mit den Nachbarn ist auf eine andere Grundlage gestellt. In der EU wird Polen immer mehr zu einer treibenden Kraft, die Initiativen wie etwa die östliche Partnerschaft startete – und dabei ausdrücklich ein Gesprächsangebot an Russland unterstützte.
Dies wird auch in Moskau ausdrücklich honoriert. Seit Monaten sind von russischen Diplomaten in den Kontakten mit deutschen Kollegen die Klagen verstummt, dass man ja gerne mehr mit der EU machen würde, wenn da nur die polnischen Störenfriede nicht wären. Mittlerweile haben die Auswärtigen Ausschüsse beider Parlamente, der Sejm und die Duma, eine Zusammenarbeit beschlossen. Russland
Die teilweise martialischen Töne von Ministerpräsident Wladimir Putin und die nach wie vor bedenklich großen rechtsstaatlichen Probleme in Russland dürfen nicht über die insgesamt positive Entwicklung in der russischen Außenpolitik hinwegtäuschen. Ausgerechnet jener Putin nämlich ist mittlerweile sogar zum Motor der Annäherung an Polen geworden. Sein Besuch auf der Westernplatte in Danzig zur Erinnerung an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, seine Visite in Katyn und schließlich die Reaktion auf den Absturz KaczyÄskis sind drei Ereignisse, die die Sicht auf Russland erheblich verbessert haben. In den bilateralen Beziehungen entstand Bewegung, weil diese Gesten eben von Putin und nicht von dem ohnehin als moderater geltenden Präsidenten Dmitri Medwedew ausgingen.
Weil auch die westliche Berichterstattung über Russland meist von Stereotypen geprägt ist, wurden viele kleine positive Veränderungen nicht bemerkt. Außenpolitisch war immerhin registriert worden, dass sich Russland in der Iran-Politik erheblich bewegte. Moskau unterstützte nicht nur die Resolution des UN-Sicherheitsrats. Im September wurde auch bekannt, dass Russland trotz seiner Interessen an Einnahmen aus Militärexporten kein russisches Flugabwehrsystem an den Iran liefern würde.
Beim Thema Afghanistan zeigt sich seit längerem eine immer stärkere Annäherung. Der Grund ist die Sorge in Moskau vor einer Destabilisierung der Südgrenzen. Deshalb hat Russland seine Kooperation mit der NATO über die vergangenen Monate systematisch ausgebaut. Es begann mit Transportleistungen für die deutsche Bundeswehr und reicht heute bis zur Ausrüstung der afghanischen Armee mit Gewehren und Hubschraubern.
Aufmerksam und mit einiger Überraschung war auch das russische Verhalten nach den ethnischen Unruhen in Kirgistan in diesem Jahr beobachtet worden. Obwohl Russland in den vergangenen Jahren immer wieder betont hatte, dass es Zentralasien als „natürliches Einflussgebiet“ ansieht und neue imperiale Ängste weckte, blieb diesmal der typische polternde Reflex aus. Obwohl die kirgisische Präsidentin Russland sogar offiziell um ein militärisches Eingreifen bat, wies Moskau dieses Anliegen zurück.
Es stimmt, im Streit mit Georgien um die beiden abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien gibt es wenig Bewegung. Aber abgesehen von diesem Konfliktherd lässt sich die Liste der vielen kleinen, positiven Gesten beliebig fortsetzen. Eine davon ist Russlands Beitritt zur ASEM-Gruppe der europäischen und asiatischen Staaten. Anfang Oktober folgte die russische Regierung erstmals einer Einladung, an einer Sitzung der „Freundesgruppe“ der östlichen EU-Partnerschaft in Brüssel teilzunehmen.
Man mag einwenden, dass etwa die ASEM-Treffen vor allem informeller Natur sind und die alte Klage noch immer geäußert wird, Russland werde in vielen Gesprächen westlicher Staaten doch nur als „Objekt“, nicht aber als „Subjekt“ gesehen. Aber langsam reift in der russischen Elite die Erkenntnis, dass dieses Problem am besten zu lösen ist, wenn man Mitglied in den kritisierten Gremien wird. Und angesichts des rasanten Aufstiegs Chinas und der dadurch entstehenden Ängste nimmt man in Moskau langsam Abschied von dem seit Jahren vorherrschenden Denken, Russland sei zu groß, um sich Bündnissen anzuschließen.
Sicher, man sollte angesichts dieser Zeichen nicht in Euphorie verfallen: Russlands Außenpolitik folgt schon wegen der immensen Größe des Landes und seiner Zerrissenheit zwischen Asien und Europa weiter eigenen Wegen. Zudem ist der innenpolitische Machtkampf zwischen eher traditionellen Eliten und Modernisierern in Moskau noch lange nicht abgeschlossen. So hat man sich etwa immer noch nicht zu dem überfälligen Beitritt zur Welthandelsorganisation durchringen können.
Aber es gibt viele weitere, manchmal sehr informelle Zeichen auf allen Ebenen, dass die Uhren in Moskau mittlerweile anders und multilateraler ticken. Als ein Indiz kann man den Aufsatz des Politikwissenschaftlers Sergej Karaganow mit der provokanten These sehen, dass Russland doch der EU beitreten sollte und könnte. Bei dem von ihm organisierten Waldai-Treffen westlicher Russland-Experten sprach zudem ein hoher russischer Offizieller unbefangen davon, dass man diese Möglichkeit doch als Fernziel tatsächlich ins Auge fassen sollte. Letztlich zielt auch die von Medwedew im Sommer 2008 in Berlin erstmals erwähnte Idee einer europäischen Sicherheitsarchitektur nur in eine Richtung – nach Westen.
USA
Nun ist die Veränderung des Denkens in Russland nicht unabhängig vom Denken im Westen und vor allem in Washington zu sehen. Die Europäer kassieren nämlich momentan so etwas wie eine Obama-Dividende. Dessen „Reset“-Politik im Verhältnis zu Russland hat erst die Grundlagen für eine echte Verbesserung der Atmosphäre geschaffen. Nach anfänglicher Skepsis nehmen die Russen den Amerikanern heute ab, diese Politik ernsthaft betreiben zu wollen, auch wenn derzeit starke Kräfte in Washington wieder Lobbyarbeit dafür betreiben, Georgien stärker militärisch zu unterstützen.
Aber zwei Einflüsse haben Moskaus Führung dazu gebracht, Obamas Regierung ernster zu nehmen. Zum einen war die Kandidatur des republikanischen Russland-Kritikers John McCain ein Fingerzeig, dass Russland es auch mit anderen, sehr kritisch eingestellten US-Präsidenten zu tun bekommen könnte. Das Erstarken der radikalen „Tea-Party“-Bewegung und deren relativ einfaches Weltbild dürfte in Moskau das Gefühl bestärken, dass man allen Grund hat, auf einen Erfolg und eine Wiederwahl Obamas zu setzen.
Zum anderen gibt es jenseits der Administration eine starke Bewegung in der außen- und sicherheitspolitischen Community, die auf ein Zugehen auf Russland drängt. Ein Beispiel dafür ist die „Euro-Atlantic Security Initiative“ der Carnegie-Stiftung, mit der zum ersten Mal ein echter Resonanzboden für die russischen Vorschläge entstanden ist. Man fühlt sich endlich ernst genommen. Auch die Idee einer späteren NATO-Mitgliedschaft Russlands wird zumindest nicht mehr als völliges Tabuthema angesehen.
Deutschland
In früheren Jahren beschränkte sich die Rolle der Bundesregierung darauf, Kummerkasten und Beziehungsberater für die Ostpartner zu spielen – was nicht immer auf Gegenliebe stieß. Als das Eis zwischen Washington und Moskau schmolz, stieg damit auch das Ansehen der deutschen Ratgeber und deren kleinen Gesten. So hat das Auswärtige Amt einen Historikerkongress mit polnischen und russischen Experten organisiert und damit erstmalig einen direkten Dialog in Gang gebracht.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Moskau anfangs in bewusster Absetzung der Schröderschen Russland-Politik skeptisch betrachtete, scheint nun einen weiteren Schritt gehen zu wollen. Denn im Mai hat sie beim Besuch des russischen Präsidenten in Berlin für die Öffentlichkeit überraschend die „Meseberg-Initiative“ gestartet. Das Angebot an Moskau ist dabei relativ einfach: Russland soll zeigen, dass es einen Beitrag zur Lösung der zwei „frozen conflicts“ in Transnistrien und Nagorny-Karabach leistet. Dann würde sich die Bundesregierung verstärkt dafür einsetzen, dass die Medwedew-Initiative im Westen ernsthafter als bisher diskutiert würde. Denn bisher fristet diese im so genannten Korfu-Prozess der OSZE eher einen Dornröschenschlaf. Allerdings machte Merkel Medwedew damals auch klar, dass sie diese Debatte nur unter der Voraussetzung unterstützen wird, dass Moskau die „ESA“ nicht als Spaltpilz für die NATO einsetzen will. Wie in der Vergangenheit ist Berlin aber bereit, den intellektuellen Taktgeber einer Annäherung zu spielen.
Um neues Misstrauen vor einem deutsch-russischen Zusammengehen gleich im Keim zu ersticken, schlug Merkel zudem einen monatlichen Austausch der EU-Außenbeauftragten und des russischen Außenministers vor. Bereits einige Monate zuvor hatte sie, wie auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy, betont, es reiche nicht mehr, nur im Rahmen der NATO mit Russland zu reden. Auch die EU brauche einen eigenen strategischen Dialog mit dem großen östlichen Nachbarn.
Und die Zeit ist günstig aus Berliner und Pariser Sicht: Frankreich wird 2011 für ein Jahr die G-8- und die G-20-Präsidentschaft übernehmen und kann damit Akzente setzen. Und schon aus Sorge, von Deutschland in einer neuen Ostpolitik abgehängt zu werden, hat Sarkozy bereits einen eigenen Vorstoß nach Osten unternommen. Am 18. und 19. Oktober traf sich der französische Präsident auf eigene Initiative mit Kanzlerin Merkel und Präsident Medwedew in Deauville. Dabei ging es auch um eine stärkere Abstimmung in internationalen Fragen wie der Finanzmarktregulierung, wo das Trio durchaus ähnliche Ansätze verfolgt.
Gerade aus deutscher Sicht steckt in dieser Abstimmung über andere internationale Themen eine fast pädagogisch anmutende Chance: Bisher war Russland besessen von der Idee, vor allem harte Sicherheitsfragen mit dem Westen zu diskutieren. Vertrauensbildung kann dagegen besser funktionieren, wenn beide Seiten erst einmal bei unkomplizierteren Themen die Erfahrung machen, welche Interessen sie eigentlich einen.
Risiken
Es wäre allerdings falsch, aus all diesen verheißungsvollen Zeichen zu schließen, dass diese positive Entwicklung unumkehrbar wäre. Es gibt auch heute genug Risiken, die die Annäherung innerhalb kurzer Zeit wieder zunichte machen könnten. Eine Gefahr sind dabei ganz einfach die demokratischen Wahlen im Westen. Denn innerhalb kurzer Zeit könnte sich dadurch die einmalige Situation verändern, in allen vier Schlüsselstaaten für eine Ost-West-Annäherung Verständigungsbefürworter an den Schaltstellen der Regierungsarbeit zu haben.
Ein zweites Risiko liegt in Frankreich. Mehr als einmal hat die französische Diplomatie in den vergangenen Jahren aus ihrem Anspruch, als Großmacht agieren zu wollen, die Spannungen nach Osten verschärft statt beigelegt. Ein Beispiel dafür war die Tonlage bei Ausbruch des Irak-Krieges, als der gemeinsame Widerstand mit Deutschland und Russland gegen den Krieg ideologisch überhöht wurde. Sofort wurde in Washington, London, aber auch Warschau die Sorge vor einer „Gegenachse“ wach – Jacques Chiracs verbales Wüten gegen die kleinen osteuropäischen EU-Partner tat ein Übriges. Sarkozy sollte sich also jetzt angesichts der französischen G-20-Präsidentschaft zurücknehmen.
Das größte Risiko lauert derzeit aber ohne Zweifel sowohl aus Sicht der Russen und der meisten Europäer in den USA. Denn der US-Kongress hatte bis zur Drucklegung dieses Artikels das ausgehandelte Abrüstungsabkommen für strategische Atomwaffen (New START) immer noch nicht ratifiziert. Nun droht es in den Strudel der innenpolitischen Machtverschiebungen nach den amerikanischen Kongresswahlen am 2. November 2010 zu geraten. Dabei hatte die russische Führung mehr als einmal klar gemacht, dass es die Ratifizierung des „New START“-Vertrags als Testfall dafür ansieht, wie ernst der Westen und vor allem die US-Regierung die Zusammenarbeit überhaupt nehmen. Eine „Reset“-Politik hat keinen Wert, wenn es bei Worten bleibt. Der nächste Schritt, nämlich Gespräche über die taktischen Atomwaffen, ist nur möglich, wenn der START-Vertrag in Kraft treten und die gegenseitigen Kontrollbesuche der Streitkräfte und Atomlager fortgesetzt werden können.
Im bilateralen Verhältnis gibt es hierzu eine wichtige Vorgeschichte: So erinnerte Putin die Russland-Experten des Waldai-Diskussionsklubs im Jahr 2009 vehement an seine Enttäuschung über den Kyoto-Vertrag. Damals sei Putin als Präsident Russlands von US-Präsident Bill Clinton und Kanzler Gerhard Schröder massiv zu einer Ratifizierung gedrängt worden, die er gegen starken innenpolitischen Widerstand auch durchgesetzt habe.
Als die amerikanische Ratifizierung dann aber im US-Kongress scheiterte, fühlten sich die Russen hintergangen. Dementsprechend skeptisch äußerte sich Putin anfangs auch über Obama, der erst beweisen müsse, ob er auch einlösen könne, was er verspricht. Dieser Zeitpunkt ist nun gekommen. Und Washington muss bedenken: Die Ratifizierung oder ihr Scheitern wird für den Rest der Amtszeit Obamas das Bild prägen, das Moskau von ihm hat. Eine positive oder negative Reaktion dürfte sich bereits auf dem NATO-Gipfel in Lissabon und an der russischen Beteiligung ablesen lassen.
Zudem ist der Entspannungsprozess zwischen den großen EU-Staaten (mit Ausnahme Großbritanniens) und Russland mittlerweile so weit gediehen, dass die Neigung selbst in Polen gering sein dürfte, diese „nur“ wegen der amerikanischen Unfähigkeit zur Umsetzung des strategischen Abrüstungsvertrags wieder aufs Spiel zu setzen. Auch auf dem ASEM-Treffen in Brüssel wurde betont, dass die Abstimmung zwischen dem größten Wirtschaftsraum der Welt und Asien nicht mehr unbedingt über oder mit Washington laufen muss.
Die Folge wäre für die US-Regierung paradox: 2008 fürchtete man im westlichen Bündnis noch, ein Eingehen auf die russische Idee der europäischen Sicherheitsarchitektur könnte eine Spaltung der transatlantischen Bande bedeuten. 2010 ist die Gefahr wesentlich größer, dass die USA ihre Beziehungen im westlichen Bündnis schwächen, wenn sie sich aus innenpolitischen Gründen von der Annäherung mit Russland abkoppeln.
Das andere große Risiko liegt allerdings auf russischer Seite: Denn im heraufziehenden Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2012 steigt die Nervosität über den künftigen Kurs des Landes – und der Eindruck wächst, dass Putin ein Comeback planen könnte. Die Irritationen über einen solchen Schritt in den westlichen Regierungen sind leicht auszurechnen, weil er das Scheitern des offiziellen russischen Kurses signalisieren würde, die Macht in Russland auf mehr Schultern zu verteilen und damit die rechtsstaatlichen Reformen und den wirtschaftlichen Modernisierungskurs voranzutreiben.
Dazu kommt die Ungewissheit, ob Russland in der Lage und willens ist, wie gefordert an der Lösung der verbliebenen „frozen conflicts“ in Europa mitzuarbeiten. Aus der Art und Weise, wie sich Moskau etwa in Transnistrien in den kommenden Wochen engagieren wird, ziehen westliche Regierungen ihre Schlüsse über die Ernsthaftigkeit der russischen Avancen.
Wenn die Staats- und Regierungschefs der genannten vier Staaten begreifen, welche Verantwortung sie in den kommenden Wochen haben, wird es nicht nur in der deutschen Innenpolitik zu einem „Herbst der Entscheidungen“ kommen. In der Zeit bis Weihnachten könnte auch ein neues Fundament für die sicherheitspolitische Einbindung Russlands im Westen entstehen.
Dr. ANDREAS RINKE ist Senior Political Correspondent bei Reuters.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 90-96