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02. März 2018

Neue deutsche Verantwortlichkeit

Der Koalitionsvertrag zeugt von außen- und europapolitischem Aufbruchwillen

Das 177 Seiten lange Koalitionspapier zwischen CDU, CSU und SPD dokumentiert, wie sehr sich das Denken über Europa und die Welt hierzulande verändert hat. „Mehr Engagement“ lautet die Devise – allerdings immer noch nach klassischen deutschen Denkmustern. So verfolgt Berlin weiterhin einen „breiten Ansatz“ und will alles zugleich erreichen.

Als die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD liefen, konnte man den Eindruck gewinnen, dass Außenpolitik hierzulande keinerlei Rolle mehr spielt. In dem 28-seitigen Sondierungspapier, das die drei Parteien im Januar vereinbarten, tauchte die Außen-, Sicherheits- und ­Entwicklungspolitik nur auf einer einzigen Seite auf – mit einer seltsamen Mischung von Festlegungen zur Bundeswehr, Türkei, Fluchtursachenbekämpfung und Rüstungsexporten. Immerhin wurde das Europa-Kapitel gleich an den Beginn der Vereinbarung gestellt. Klares Ziel des Sondierungspapiers war damals, keine kontroversen Punkte aufzunehmen, die eine Zustimmung des SPD-Parteitags zu Koalitionsverhandlungen gefährdet hätten. Das hat sich im Koalitionsvertrag geändert.

Als diese IP-Ausgabe in Druck ging, stand immer noch nicht fest, ob der SPD-Mitgliederentscheid die Bildung einer neuen Großen Koalition mehrere Monate nach der Bundestagswahl ermöglichen würde oder nicht. Aber die 177-seitige, am 8. Februar beschlossene Vereinbarung für ein gemeinsames Regierungsprogramm erlaubt zumindest die Analyse, wo die Spitzen von CDU, CSU und SPD gedanklich bei der Europa- und Außenpolitik stehen. Sie dokumentiert, dass die Führungen der Volksparteien in Deutschland in den vergangenen Jahren stärker umgedacht haben, als dies im Wahlkampf deutlich wurde – obwohl dies sprachlich teilweise bewusst verkleistert wird.

Auch wenn der Begriff selbst nur einmal im Zusammenhang mit der EU auftaucht – Deutschland ist laut Koalitionsvertrag auf dem Weg, „Gestaltungskraft“ zu werden. Deutlicher als in jedem Koalitionsvertrag zuvor wird durchdekliniert, wohin Deutschland seine wirtschaftliche und politische Kraft lenken will, ohne dass daraus ein neuer, nationaler „dritter Weg“ entstehen soll. Die Eingebundenheit jeder nach außen gerichteten Politik in ­internationale, multilaterale Strukturen wird an allen Ecken und Enden betont. Markant ist dabei nicht nur, was erwähnt wird – sondern auch, was an zentralen Stellen nicht genannt wird: „Deutsche Außenpolitik ist dem Frieden verpflichtet und fest in den Vereinten Nationen und der Europäischen Union verankert“, lautet gleich der erste Satz des Kapitels über die Außenbeziehungen – die NATO als zentraler verteidigungspolitischer Pfeiler fehlt bei der Aufzählung. Dies ist zwar keine Absage an das westliche Verteidigungsbündnis per se, das später dann erwähnt wird. Aber der Satz bedeutet eine klare Priorisierung der multilateralen Einbindung, in der die rein europäische Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik stärker als früher betont wird.

Gleichzeitig wird angesichts der unsicheren Statik in der Welt eine neue Haltung beschrieben: „In dieser Lage verfolgt Deutschland zwei zentrale Ziele: Europa muss international eigenständiger und handlungsfähiger werden. Gleichzeitig wollen wir die Bindung an die USA festigen. Wir wollen transatlantisch bleiben und europäischer werden.“ Überraschend deutlich bekennen sich CDU, CSU und SPD dazu, mehr Geld für die UN, die EU und übrigens auch zur Erreichung der NATO-Ziele bereitzustellen. Dabei hilft ohne Zweifel die sehr gute finanzielle Lage des Bundes: Die üblicherweise nötigen Verteilungskämpfe über Ausgaben fand diesmal nur eingeschränkt statt.

Am markantesten wird die Bereitschaft zu agieren im Europa-Kapitel, sprachlich mit dem Wort „Aufbruch“ gekennzeichnet. Der entscheidende Ansatz des von den drei Parteivorsitzenden selbst verfassten Europa-Teils ist es, ein klares proeuropäisches Bekenntnis abzugeben und Türen für anstehende Reformen zu öffnen – ohne sich mit Blick auf die anstehenden Debatten der EU-27 bereits festzulegen. Dennoch werden Positionen bezogen. Die sich formende Bundesregierung wollte sich erkennbar verhandlungsfähig für Europa machen: So wird die Notwendigkeit betont, über Fragen wie Mindestlöhne, den Kampf gegen Steuerflucht sowie eine enger verknüpfte Verteidigungs- und Migrationspolitik zu reden. Ausdrücklich werden eine stärkere gemeinsame EU-Präsenz und -Politik in der Welt sowie mehr Investitionen in Europa gefordert. Es gibt ein klares Bekenntnis für die EU-Aufnahme der Westbalkan-Staaten.

Indirekte Kampfansage

Bei den Passagen über die Euro-Zone kann man den Text aber auch als indirekte Kampfansage an Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron lesen. Es wird deutlich gemacht, dass proeuropäisch nicht bedeuten muss, sich automatisch hinter Macrons Ideen zu stellen: So betonen die drei Parteien zwar immer wieder die nötige und gewünschte enge Abstimmung mit Frankreich. Sie befürworten zudem gesonderte Haushaltsmittel für die wirtschaftliche Stabilisierung, Strukturreformen und eine stärker „soziale Konvergenz“ in den ­Euro-Staaten. Allerdings soll das Geld im EU-Haushalt für alle 27 EU-Mitglieder angesiedelt werden und nicht in einem von Macron vorgeschlagenen großen eigenen Eurozonen-Budget. Hier heißt es lediglich, dass diese Finanzlinie „Ausgangspunkt für ­einen künftigen Investivhaushalt für die Euro-Zone“ sein könnte. Damit schlagen sich CDU, CSU und SPD in der Reformdebatte eher auf die Seite von EU-Kommissionspräsident Jean-­Claude Juncker.

Die Gesamtbotschaft des Textes an die europäischen Partner lautet: Deutschland ist zurück als proeuropäischer Motor, wird aber die kommende EU-Debatte entlang eigener Vorstellungen führen. Dazu gehören drei Grundpfeiler: Erstens will Berlin auch künftig einen möglichst engen Zusammenhalt aller nach dem Brexit verbleibenden 27 EU-Staaten und eben nicht die von Paris favorisierte Abkoppelung der Euro-Zone oder einer anders gearteten „Avantgarde“. Diese bleibt nur die zweitbeste Lösung, wenn in einem Politikbereich ansonsten kein Fortschritt in Sachen engere Zusammenarbeit zu erreichen ist. Zweitens bleibt es bei dem Prinzip, dass Risiko und Haftungsverantwortung für Berlin weiter in einer Hand bleiben müssen. Das setzt den Rahmen sowohl für die nächsten Schritte zur Vollendung der Bankenunion als auch für eine engere Zusammenarbeit in der Euro-Zone. Und drittens soll die Rolle der nationalen Parlamente etwa bei der Kreditvergabe auch unter dem angestrebten Europäischen Währungsfonds nicht angetastet werden.

Während die SPD das Europa-­Kapitel vor allem wegen der Betonung von Investitionen und angedeuteten neuen Integrationsschritten feiert, bildet der Koalitionsvertrag auch für Kanzlerin Merkel eine Zäsur. Denn in den vergangenen Jahren war sie vor allem als „Mrs. Fix-it“ in Europa unterwegs: Ihre bisherige Amtszeit war gekennzeichnet von der erschreckten Erkenntnis der Europäer, wie krisenanfällig Konstruktionen wie die Währungszone und der Schengen-Raum in Wahrheit sind. Die Jahre 2008 bis 2017 wurden deshalb von schmerzhaften Reparaturarbeiten im Haus Europa dominiert. Nun wird aber im Koalitionsvertrag deutlicher als zuvor betont, dass die EU wieder voranschreiten muss.

Die Emanzipierung geht weiter

In der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik markiert der Koalitionsvertrag die nächste Etappe auf dem Weg der Normalisierung nach 1945. Vom Kosovo-Einsatz über Afghanistan bis zur Ausrüstung kurdischer Milizen im Nordirak wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine Selbstbeschränkung nach der anderen beseitigt. Die Finanzkrise 2008 hat diese Entwicklung noch beschleunigt, auch wenn es dabei in erster Linie um die Verantwortung für den Zusammenhalt der Euro-Zone ging. Aber Deutschland wurde als größter EU-Staat immer deutlicher ermahnt, sich nicht mehr hinter anderen Ländern zu verstecken.

Eigenständig war ­Deutschland davor eigentlich nur in seinen Nein-Entscheidungen: 2003 verweigerte Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA die Gefolgschaft bei dem militärischen Eingreifen im Irak. 2011 sagte Merkel Nein zur französisch-­britisch-amerikanischen Intervention in Li­byen. Aber eigene, gestaltende Ideen waren eher selten.

Der Koalitionsvertrag ist deshalb auch eine Lehre aus den Erfahrungen der vergangenen Legislaturperiode. Spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 gibt es eine Debatte über eine größere deutsche Verantwortung in der Welt. Die Bewährungsprobe kam mit der Eskalation der Ukraine-Krise schneller als gedacht. 2015 folgte die Flüchtlingskrise und der sich nach Afrika ausweitende Blick der Bundesregierung. 2016 brachte dann das Brexit-Referendum und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten – was die Kanzlerin Ende Mai 2017 zur öffentlichen Schlussfolgerung bewegte: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.“

Der Koalitionsvertrag beschreibt letztlich die Konsequenzen dieser Erkenntnis. Denn trotz der aufgeheizten 2-Prozent-Debatte bei den Verteidigungsausgaben im Wahlkampf bekennen sich CDU, CSU und SPD erstaunlich deutlich zu den internationalen Verpflichtungen. Dies betrifft nicht nur die Bundeswehr: Erstmals wird in einem Koalitionsvertrag geregelt, dass Geld für Entwicklungshilfe und Verteidigungsausgaben im Verhältnis eins zu eins stehen sollen. Und Deutschland will mehr für die Vereinten Nationen zahlen – ein deutliches Signal in einer Zeit, in der die USA unter Präsident Trump ihre Beiträge kürzen. „Wir sind bereit, unsere freiwilligen UN-Beiträge strategischer auszurichten und zu erhöhen“, heißt es unmissverständlich. Im Gegenzug wird nicht nur die Kandidatur für einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat für 2019/20 erwähnt, sondern auch die klare Absicht, „mehr Verantwortung für Frieden und Sicherheit (zu) übernehmen, auch mit Übernahme eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat“.

Dabei waren Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitiker nach dem Sondierungsergebnis noch entsetzt gewesen. Denn der zusätzliche finanzielle Spielraum von 46 Milliarden Euro bis 2021 wurde bis auf die Summe von zwei Milliarden allein für innenpolitische Projekte verplant. Aber Merkel betonte Anfang Februar, dass die Regierung wegen der guten konjunkturellen Entwicklung mit erheblich mehr Steuereinnahmen rechnen könne – und die zu erwartenden weiteren Überschüsse dann prioritär für Digitalisierung, Äußeres und Entwicklung verwendet werden sollten. Diese Festlegung findet sich auch im Koalitionsvertrag. Gleichzeitig wird die mittelfristige Finanzplanung festgeschrieben: De facto bedeutet dies, dass eine Große Koalition damit zumindest auch die dort vorgesehenen zusätzlichen rund neun Milliarden für die Bundeswehr bis 2021 akzeptiert. Dazu käme dann weiteres Geld, wenn die Steuereinnahmen stärker steigen sollten.

Bezeichnend für den ­unverändert „typisch deutschen“ Ansatz ist die Breite der nach außen gerichteten Aktivitäten: Neben den Verteidigungsausgaben sollen zugleich die Mittel für Krisenprävention, humanitäre Hilfe, auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit erhöht werden. Denn die drei Parteien wollen die deutsche Soft Power ausbauen. Dazu gehört u.a. der Ausbau der Deutschen Welle als staatlicher deutscher Auslandssender zum Instrument für die Vermittlung demokratischer Werte. Zudem findet sich im Koalitionsvertrag ein Bekenntnis zum weiteren Ausbau des weltweiten Netzes deutscher Schulen und Kultureinrichtungen. Dieser „breite Ansatz“ soll auch die deutsche und europäische Politik in Afrika bestimmen.

Künftig soll zudem die außenpolitische Expertise in zehn namentlich genannten Think Tanks erhöht werden. Auch dies ist ein Hinweis auf die angestrebte aktivere Rolle. Denn eine Regierung, die sich außenpolitisch stärker engagieren will, braucht dafür gedankliche Vorarbeit und Beratung.

Streitpunkte aus dem Wahlkampf wie der Umgang mit der Türkei sind realpolitisch gelöst worden. Statt des vom früheren Parteichef Martin Schulz geforderten und von Merkel in der Folge zumindest erwogenen Abbruchs der EU-Beitrittsverhandlungen wird nun nur noch betont, dass wegen der politischen Differenzen derzeit keine weiteren Verhandlungskapitel mehr geöffnet werden. Und von der Kluft in der Russland-Politik zwischen SPD und Union ist in dem Papier nicht viel zu spüren.

In Sachen China bietet der Koalitionsvertrag eine interessante Neuerung. So wird die gewünschte Zusammenarbeit mit der aufstrebenden Supermacht betont, die für Deutschland von großer Bedeutung sei. Gleichzeitig aber wird auf „Chancen und Risiken“ der chinesischen Seidenstraßen-Initiative hingewiesen. Obwohl Deutschland zu den engsten wirtschaftlichen Partnern Chinas gehört, wird erstmals ein strategisches Gegenkonzept angestrebt. „Wir wollen hierzu eine europäische Antwort entwickeln, um unsere Interessen zu wahren und deutsche und europäische Finanzinstrumente besser auszustatten und zu bündeln“, heißt es da.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chef-korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 78 - 82

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