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01. Juli 2017

Deutschlands neue Nachbarn

Die Bundesregierung weitet ihren Blick auf den Krisenbogen um die EU

Russland, Syrien, Afrika: Deutsche Politik entdeckt die „Nachbarschaft“ neu. Kreiste das Nachkriegsdenken lange um die Aussöhnung mit den angrenzenden Ländern, hat sich dies seit 2015 radikal geändert. Mit „Nachbarschaft“, so Bundeskanzlerin Merkel, seien in der EU heute eben nicht mehr Frankreich oder Österreich gemeint.

Mai 2017, Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zu Besuch in der Berliner Kurt-T­ucholsky-Oberschule. Die Schüler präsentieren der Kanzlerin zwar beeindruckende Europaprojekte. Aber im Gespräch stellt sich schnell heraus, dass Europa als Lerninhalt in der Schule erst sehr spät auftaucht. „Es wird also gar nicht gelehrt, was die Außengrenzen des Schengen-Raums sind und wo eigentlich die Passkon­trollen einsetzen?“, fragt sie die Schüler. Dabei, so Europas mächtigste Frau, müsste genau das flächendeckend gelernt werden, damit die Europäer endlich ein Bewusstsein für die EU entwickeln. Ganz offensichtlich verstärkt auch diese Begegnung bei Merkel das Gefühl, dass die Sicht der Deutschen und Europäer auf sich und ihre Nachbarschaft völlig unzureichend ist.

Die für Merkel eher ungewohnte Eindringlichkeit hat ihren Grund. Denn die Kanzlerin hat 2015 selbst erfahren, was dieses fehlende Bewusstsein auslösen kann. Bis dahin hatte sie ebenfalls nicht viel Nachdenken auf den Schutz der EU-Außengrenzen verwendet. Aber der massive Zuzug von Flüchtlingen und Migranten löste plötzlich eine Debatte aus, welche Grenze für die Europäer eigentlich die entscheidende sein sollte.

In der hart geführten Auseinandersetzung über eine Begrenzung des Zuzugs prallten in der Union, Bayern, Deutschland und der EU unterschiedliche Konzepte aufeinander. Die CSU, deutsche Sicherheitsbehörden, aber auch einige EU-Regierungen wollten die Grenzübertritte an den jeweiligen nationalen Grenzen unterbinden – mit Hinweis auf die nicht funktionierende Kontrolle der Außengrenze des Schengen-Raums, vor allem in Griechenland. Merkel dagegen argumentierte, dass die entscheidende Grenze in der EU die Schengen-Außengrenzen seien und jeder Rückfall zu nationalen Lösungen den Kern der EU infrage stelle.

Abgesehen von den bitteren Debatten in der deutschen Innenpolitik löste dies in Berlin und bei Merkel selbst ein neues Nachdenken über Außenpolitik aus – das sich Schritt für Schritt in eine neue Politik umsetzte. Denn definierte man den Schengen-Raum als entscheidende Grenze, muss zwangsläufig auch die Stabilisierung der umliegenden Länder mehr Aufmerksamkeit sowohl in der EU-Politik als auch in Deutschland erhalten. Merkel stieß deshalb schon im Herbst 2015 ein EU-­Türkei-Migrationsabkommen an. „Ich sage ausdrücklich: Auch der Schutz der Außengrenzen wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir in unserer Nachbarschaft etwas zur Bewältigung der vielen Krisen tun, die sozusagen vor unserer Haustür stattfinden“, mahnte sie beispielsweise am 7. Oktober 2015.1 Im Februar 2016 versuchte Deutschland zusammen mit Großbritannien, die Finanzierung der syrischen Flüchtlingslager in der Nahost-Region sicherzustellen. Aber während dies noch reines Krisenmanagement betraf, reifte in Berlin die Erkenntnis heran, dass man grundsätzlicher handeln müsse.

Einmal um Europa herum

Am 8. April 2016 beschrieb Merkel erstmals, was sie danach in Reden zig­fach wiederholen sollte: „Ich habe mir eine Landkarte erstellen lassen, in der der Schengen-Raum in einer Farbe und die Nachbarländer in einer anderen Farbe dargestellt sind. Sie sehen, dass Europa mit vielen Nachbarn gesegnet ist – von Grönland über Russland, die Ukraine und Georgien bis zur Türkei und interessanterweise – das ist mir persönlich gar nicht so klar gewesen – dazu, dass ein Nachbar von Zypern, das ja auch zum Schengen-System gehört, Syrien ist. Das heißt, Syrien ist direktes Nachbarschaftsland des Schengen-Raums. Von da an wird es dann sozusagen noch interessanter – mit dem Libanon, mit Israel, mit Ägypten, mit Libyen, mit Tunesien, mit Algerien und mit Marokko. Dann sind wir ungefähr einmal um Europa herum. Dann kommt ein Stück Atlantik. Mit Blick auf die Kanarischen Inseln können Sie die Westsahara noch hinzuzählen. Das ist die Nachbarschaft Europas.“2

Ausdrücklich betonte sie, wie unvergleichbar diese Aufgabe aufgrund der regionalen Lage der EU ist: „Wenn Sie sich die Fluchtrouten dieser Erde – auch von Bangladesch, Pakistan und durch ganz Afrika – und die Stabilität der politischen Regionen einmal anschauen, dann sehen Sie, dass wir mit unserem Schengen-Gebiet in einer Nachbarschaft liegen, die – sagen wir einmal – vielfältiger ist als zum Beispiel die der Vereinigten Staaten von Amerika“, betonte sie am 28. April 2016.3 Wenige Monate später bekräftigte sie, dass auch die NATO ein Interesse an einer stabilen Nachbarschaft haben müsse.4

Letztlich sorgte also vor allem die Migrationsbewegung dafür, den gedanklichen Rahmen deutscher Politik immer mehr auszuweiten. Landkarten zeigten den Verantwortlichen, wie komplex die Aufgabe ist, ein passfreies Europa wirklich zu schützen. In Nordafrika verhinderte insbesondere der zusammengebrochene Staat Libyen, effektiv gegen Schlepperbanden vorgehen zu können; fast alle Boote mit Flüchtlingen und Migranten stießen und stoßen aus dem von Milizen beherrschten Ostteil des Landes ins Meer. Also nahmen Deutschland, Italien und Frankreich in Absprache mit der EU-Kommission gemeinsam den nächsten Ring von Transit- und Herkunftsländern ins Visier, nämlich Mauretanien, Mali, Niger, Tschad bis nach Äthiopien. Deutschland stellte mit Martin Kobler den US-Sonderbeauftragten für Libyen.

Uneigennützig war dies keineswegs: „Wenn ich als deutsche Bundeskanzlerin dafür sorgen will, dass es uns Deutschen gut geht, dass die Europäische Union zusammenhält, muss ich mich auch darum kümmern, dass es in Europas Nachbarschaft so zugeht, dass Menschen dort Heimat auch als Heimat empfinden können“, betonte Merkel am 5. Oktober 2016. In früheren Epochen des Kolonialismus habe der Westen Afrikas Entwicklungschancen geraubt. „Konkret heißt das in unserer Zeit, dass wir uns in neuer Weise mit Afrika befassen müssen. So ist das 21. Jahrhundert.“5

Im Oktober 2016 reiste Merkel als erste deutsche Kanzlerin nach Mali und Niger; Anfang 2017 folgten die nordafrikanischen Länder. Die Bundeswehr stockt ihre Hilfe in Mali auf, vor allem um die Franzosen zu entlasten. Die (Wieder)Entdeckung Afrikas für die deutsche Politik mit fast zwei Dutzend Ministerbesuchen ist eines der auffallendsten Neuentwicklungen der vergangenen Legislaturperiode – auch wenn dies in der innenpolitisch dominierten Berichterstattung deutscher Medien kaum Erwähnung findet.6 Dabei spielt in dieser Afrika-­Offensive das halbe Kabinett eine Rolle, keineswegs nur Entwicklungsminister Gerd Müller. Finanzminister Wolfgang Schäuble, Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries, Außenminister Sigmar Gabriel, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Gesundheitsminister Hermann Gröhe kümmerten sich alle um bestimmte Aspekte. Afrika wurde zudem einer der Schwerpunkte der deutschen G20-Präsidentschaft.

Strittig ist das neue Nachbarschaftsdenken in der Bundesregierung nicht wirklich, auch wenn es vor allem von Merkel so deutlich thematisiert wurde. Dies liegt wohl auch daran, dass ein Großteil der Arbeit sich auf den zivilen Sektor und nicht auf das Militär erstreckt – obgleich im Rahmen der Ertüchtigungsinitiative Länder wie Jordanien Militärhilfe aus Deutschland erhalten. Am 8. Juni 2017 flog Außenminister Gabriel nach Libyen, um sich über die Möglichkeit einer Einigung der Konfliktparteien zu informieren.

Ganz neu ist der Versuch der Stabilisierung der EU-Nachbarschaft übrigens nicht. Die EU hatte schon 2004 eine Nachbarschaftspolitik definiert, deren Ziel es war, einen Ring stabiler Staaten um die EU herum zu bilden. Allerdings wirkte dieser Ansatz jahrelang wie ein Trostpreis für Staaten wie die Ukraine oder Georgien, die die EU nicht aufnehmen wollte. Hinzu kamen die Bemühungen der EU-Kommis­sion, mit afrikanischen Staaten Migrationsabkommen auszuhandeln: Würden sie illegale Migration unterbinden, dann wären als Gegenleistung auch legale Einreisen sowie Wirtschaftshilfen vorgesehen. Dies fand sein Ende mit dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi 2011. Aber großes Interesse gab es in Berlin für diese Entwicklungen nicht. Auch die vom damaligen französischen Staats­präsidenten Nicolas Sarkozy angestoßene Mittelmeer­union sah Merkel eher skeptisch. Deutschland fuhr als neues Schengen- und ­NATO-„Binnenland“ seit der EU-­Osterweiterung wie schon bei der Verkleinerung der Bundeswehr seine „Friedensdividende“ ein und dachte bis 2015 nicht daran, einen Beitrag zum Schutz der EU-Außengrenzen zu leisten.

Neues deutsches Engagement

Die „Ausweitung der Verhandlungszone“ endet nicht in der direkten Nachbarschaft. Denn in den vergangenen Monaten zeigte sich, dass die deutsche Diplomatie ihren Aktionsradius über diesen Krisenbogen um die EU herum ausweitet. Dies hängt ebenfalls mit der Flüchtlingskrise zusammen, aber auch mit den befürchteten isolationistischen Tendenzen des neuen US-Präsidenten, Donald Trump. Denn der starke Zuzug von Flüchtlingen und Migranten etwa aus Afghanistan hat den Verantwortlichen gezeigt, dass der Schutz der Schengen-Außengrenzen eben auch am Hindukusch verteidigt werden muss – um einen Spruch des früheren Verteidigungsministers Peter Struck leicht abzuwandeln.

Über die Rolle der Bundesregierung in der Ukraine-Russland-Krise seit 2014 wurde bereits ausführlich berichtet. Aber schon unter US-Präsident ­Barack Obama drängte die Bundesregierung Washington, das Engagement in Afghanistan nicht weiter zurückzufahren.

In den vergangenen Wochen häuften sich zudem die Hinweise, dass sich die Bundesregierung mit Konflikten beschäftigen will, aus denen man sich früher angesichts der Selbstwahrnehmung als EU-konzentrierte Mittelmacht bewusst herausgehalten hatte. So bot Merkel am 2. Mai 2017 eine deutsche Vermittlungsrolle im Jemen an. Beim Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten, Li Keqiang, Anfang Juni betonte die Kanzlerin, dass die Bundesregierung, falls gewünscht, für die Vermittlung im Nordkorea-Konflikt bereitstehe. Das Thema spielte schon beim Besuch von Außenminister Gabriel in China eine wichtige Rolle. Und nach Jahren der Passivität ging die Bundesregierung gegen die Devisenbeschaffung der nordkoreanischen Regierung in Berlin vor.

Zum Bewusstsein, dass Deutschland eine aktivere Rolle in der Welt spielen muss, trägt auch die deutsche G20-Präsidentschaft in diesem Jahr bei. Denn das Format zwingt – wie der deutsche G7-Vorsitz 2015 – Kanzlerin, Außen- und Finanzminister zu jährlichen Abstimmungen mit Partnern und deren Perspektiven. Um den internationalen Dialog auszuweiten, drang die Bundesregierung darauf, dass sich erstmals auch die G20-Gesundheits- und Digital­minister trafen.

Seitdem Donald Trump amerikanischer Präsident ist, kommt noch ein weiteres Motiv hinzu: Wenn Merkel kritisiert, dass man sich „ein Stück weit“ nicht mehr auf bisherige Partner verlassen könne, bedeutet dies, dass die Europäer insgesamt eine aktivere Rolle einnehmen müssen. In unterschiedlichen Tonlagen betonen sowohl Merkel als auch Gabriel, dass man sich in einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Multilateralismus und Konzepten wie „America First“ befinde.

Internationale Partner fordern ausdrücklich eine stärkere Rolle des für Kooperation stehenden Deutschlands, das als größter EU-Staat eine besondere Verantwortung trage. Zumindest bei Merkel kommt beim Thema Klima noch eine persönliche Komponente hinzu: Denn seit ihrem Amtsantritt als Umweltministerin im Kabinett Kohl 1994 hatte sie für ein internationales Klimaschutzabkommen gearbeitet. Das erklärt die vehemente Verteidigung des Pariser Abkommens nach dem von Trump verkündeten Austritt der Vereinigten Staaten.

Politische Mitsprache gewünscht

Der neue Ton zeigte sich auch in der Krise zwischen Saudi-Arabien und Katar im Juni. Innerhalb weniger Tage empfing Außenminister Gabriel die Außenminister beider Staaten in Deutschland. Und Merkel formulierte von Mexiko-Stadt aus auf einer G20-Reise einen eindeutig neuen Anspruch der Mitsprache: „Deutschland hat in diesem Zusammenhang keine Vermittlerrolle inne. Aber wir werden aus unserem deutschen Interesse heraus darauf achten, dass in der Region die Balancen vernünftig gehalten werden“, sagte sie am 9. Juni.

Die Bundeskanzlerin lieferte den Grund für diesen selbstbewussteren Auftritt auch gegenüber anderslautenden Positionen der amerikanischen Regierung gleich mit – denn die EU-Staaten sind die Leidtragenden von Fehlentwicklungen etwa im Nahen und Mittleren Osten. „Wir müssen sehen, dass die politische Lösung von Konflikten, die auch im ureigenen europäischen Interesse liegt – zum Beispiel, was die Situation in Syrien angeht, die Situation in Libyen angeht oder aber auch die Situation im Irak angeht –, nicht gelingen wird, wenn bestimmte Akteure überhaupt nicht mehr ins Gespräch einbezogen werden. Dazu gehört Katar, dazu gehört die Türkei und dazu gehört der Iran“, betonte Merkel und widersprach damit dem auch von Trump forcierten Versuch, den Iran zu isolieren. „Es wird nur dann politische Lösungen geben, wenn alle miteinander in Kontakt sind. Darauf drängen wir, dafür setzen wir uns ein.“7 In Regierungskreisen wird allerdings gleichzeitig betont, dass der Wunsch der politischen Mitsprache nichts an der überragenden militärischen Rolle der USA in der Region ändere.

Übrigens hilft bei all diesen Aktivitäten ein bisher wenig beach­teter Faktor: Das Arsenal der deutschen Diplomatie wird um die Kategorie der „Ehemaligen“ erweitert. So wurde der frühere Bundespräsident Horst Köhler zum UN-Sonderbeauftragten für den Westsahara-Konflikt ernannt, was auch in den Kontext des deutschen und europäischen Engagements im nördlichen Afrika passt. Sein Nachfolger Christian Wulff wiederum genießt einen guten Ruf in der Türkei sowie in der islamischen Welt und ist dort als Gesprächspartner gefragt – so wie Altkanzler Gerhard Schröder in Russland. Dazu entwickeln bayerische Politiker wie Ministerpräsident Horst Seehofer und dessen Vorgänger Edmund Stoiber diplomatische Aktivitäten in Russland, durchaus in Abstimmung mit Berlin. Und mit dem früheren Außenminister Frank-Walter Steinmeier sitzt nun im Schloss Bellevue ein Bundespräsident, der über umfangreiche diplomatische Erfahrung verfügt.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

  • 1Rede vor dem Europäischen Parlament, 7.10.2015.
  • 2Bundeskanzlerin Merkel bei einem Treffen mit Vertretern von Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen, die sich mit der Flüchtlingsaufnahme beschäftigen, Berlin, 8.4.2016.
  • 3Rede vor der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Berlin, 28.4.2016.
  • 4Rede beim Jahresempfang des Diplopmatischen Corps, 11.7.2016.
  • 5Bundeskanzlerin Angela Merkel im ZEIT-Interview, 5.10.2016.
  • 6Andreas Rinke: Migration, Sicherheit, Wirtschaft. Afrika wird zu einer Priorität der deutschen und europäischen Politik, IP, 6/2016, S. 8–16.
  • 7Bundeskanzlerin Merkel bei der Pressekonferenz mit dem mexikanischen Staatspräsidenten, Enrique Pena, am 9. Juni 2017 in Mexiko-Stadt.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2017, S. 42 - 48

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