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01. Jan. 2005

Die Revolution frisst ihre Kinder

Vorteil für den Iran: Amerikas Strategen in der Identitätskrise

Braut sich erneut ein Sturm zusammen, sobald der Winter zu Ende geht? In wenigen Tagen wird Präsident George W. Bush zum zweiten Mal in sein Amt eingeführt. Ein eingespieltes und verschworenes Team lenkt weiter die Staatsgeschäfte. Auf seiner Liste der Bedrohungen steht der Iran ganz oben. Amerika muss handeln. Doch dieses Mal ist nichts mehr so, wie es vor zwei Jahren war.

Um den Iran kreisen derzeit die Überlegungen fast aller außenpolitischen Denker in Washington. Das erinnert geradezu an die Besessenheit, die vor zwei Jahren die Schlussphase der Irak-Debatte kennzeichnete. Aber anders als damals lassen sich keine klaren intellektuellen Frontlinien ziehen. Die Meinungen sind vielfältiger, die Stellungnahmen uneindeutig, die Optionen begrenzt.

James Fallows hat für die Dezember-Ausgabe des Atlantic Monthly die militärischen Möglichkeiten erkundet, die den USA zu Gebote stehen. Er berichtet über ein „war game“, das Washingtoner Insider wie David Kay, Kenneth Pollack und Reuel Marc Gerecht unter realistischen Bedingungen durchgespielt haben. Der Konsens der Sicherheitsexperten beschränkt sich darauf, dass der Iran in drei Jahren die Schwelle zur Produktion von Nuklearwaffen überschreiten könnte. Unter rein militärischen Gesichtspunkten werden in den Szenarien drei Schritte erwogen: Luftangriffe gegen die iranischen Revolutionsgarden, Luftschläge gegen die vermuteten Stätten der Nuklearwaffenproduktion, schließlich die im „regime change“ gipfelnde Invasion. Die ersten beiden Varianten sind militärisch wenig riskant, die dritte ist gefährlicher. Allen drei ist jedoch gemeinsam, dass sie das Problem nicht dauerhaft lösen würden. Sichere Erkenntnisse, die die Ausschaltung aller Lokalitäten der Atomwaffenherstellung garantieren würden, stehen nicht zur Verfügung, ganz zu schweigen von gewaltigen zivilen Verlusten bei Angriffen auf die teilweise in dichtbevölkerten Gebieten angesiedelten Produktionsstätten. Selbst die „regime change“-Option könnte nicht dauerhaft sicherstellen, dass der entfesselte Nationalismus einer neuen Regierung auf nukleares Potenzial verzichtet.

Erwartbare Unsicherheiten sind dabei noch gar nicht einkalkuliert: Der Iran könnte die Lage im Irak zum Explodieren bringen, oder er könnte selbst präventiv auf amerikanische Kriegsvorbereitungen reagieren und im Verbund mit terroristischen Netzwerken zum globalen asymmetrischen Krieg übergehen. Die schlechteste Option wären israelische Luftschläge – bei ungewissem militärischem Erfolg wären katastrophale politische Folgen im Mittleren Osten garantiert.

Welche Möglichkeiten bleiben? Die an den Szenarien beteiligten Experten kommen zu dem Schluss: Eine Erfolg versprechende militärische Lösung gibt es nicht, die Diplomatie muss sich des Falles annehmen. Und wenn sich ein nuklearer Iran nicht verhindern lasse, dann sei eine die Region stabilisierende Atommacht wie Indien besser als ein verärgerter und auf die USA zielender Aggressor. Das Problem sei nur, dass der Iran davon keinen Wind bekommen sollte. Denn vor dem Hintergrund einer „Drohkulisse“ verhandelt es sich besser – „bluff and patience“ nennt sich das dieses Mal.

Fallows Bericht ist auch darum interessant, weil en passant Streiflichter auf die beschädigten Entscheidungsstrukturen an der Regierungsspitze geworfen werden. Den Insidern zufolge fehlt nach wie vor ein starker Sicherheitsberater, der die unterschiedlichen Optionen und Meinungen für den Präsidenten deutlich herausarbeitet. Analytische Memoranden, die verschiedene Möglichkeiten und ihre Konsequenzen gleichgewichtig darstellen, sind scheinbar außer Gebrauch gekommen.

Überhaupt scheinen die Lektionen aus dem Krieg im Irak noch nicht gelernt worden zu sein. Dass etwa die Eroberung eines Landes auch die langfristige Verantwortung für dieses Land mit sich bringt, soll sich im militärischen Denken immer noch nicht durchgesetzt haben, so Fallows. Ähnliches berichtet Selig Harrison in einem „Weapons of Mass Distraction“ betitelten Beitrag für Foreign Affairs (Januar/Februar 2005) zu Nordkorea. Wieder scheint sich ein Fehlschluss auf höchster Ebene abzuzeichnen, der zum Krieg führen könnte. Wieder wird unzureichenden Geheimdienstinformationen ein „worst case scenario“ entnommen und dann als unbestreitbare Wahrheit dargestellt. Dabei könnte Harrison zufolge alles nur ein Missverständnis sein. Nordkorea verfüge möglicherweise gar nicht über hochangereichertes waffenfähiges Uran, was 2002 den Abbruch bilateraler Gespräche ausgelöst hat. Verhandlungen sollten Klarheit verschaffen.

Einen ersten Vorschlag, wie solche Fehlurteile künftig zu vermeiden sind, macht Michael O’Hanlon in der Dezember-Ausgabe von Policy Review. Für ihn war alles ein Planungsfehler. Das sagt der einstige Kriegsbefürworter, der heute meint, die Planungskatastrophe im Irak sei schon vor Kriegsbeginn absehbar gewesen. Die Schuldigen sind für O’Hanlon jedoch nicht nur die üblichen Verdächtigen um Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, sondern auch die Führungsebene und die Planungsstäbe des Militärs. Nicht selten habe man wider besseres Wissen versäumt, den Ansichten der politischen Führung zu widersprechen. Darum fordert der Autor, grundsätzlich einzugestehen, dass sich die politische und militärische Sphäre nicht so klar trennen lassen, wie in der politischen Kultur Amerikas gerne behauptet wird. Die professionelle Verantwortung des Militärs sei es, sich für den Erfolg der Operationen und die Sicherheit der Soldaten einzusetzen. Wo das nicht mehr möglich sei, müsse die militärische Führung reagieren: indem sie, ohne Befehle zu verletzen, alternative Planungen anstellt (wie Wesley Clark oder Colin Powell es taten), die Presse informiert (ohnehin häufige Praxis) und sogar das Opfer des Rücktritts auf sich nimmt.

An der Debatte um die Iran-Politik lässt sich ablesen, welche Verunsicherung sich in der politischen Szene nach den Irak-Erfahrungen ausgebreitet hat. Die letzte Wendung: Neocons wollen nicht mehr Neocons heißen, wie Franklin Foer in der New Republic vom 20. Dezember herausgefunden hat. An der Uneinigkeit in Sachen Iran zeige sich die „Identitätskrise“ der Neocons. Die Bewegung des demokratischen Globalismus wird von ihren inneren Widersprüchen eingeholt. Man ist versucht zu sagen: Die Revolution frisst ihre Kinder. Auf der einen Seite stehen idealistisch von Demokratie und Menschenrechten beseelte Neocons wie Paul Wolfowitz den liberalen Interventionisten gar nicht so fern, während die mehr interessenorientierten Neokonservativen wie Charles Krauthammer auch gerne mit Diktaturen zusammenarbeiten und damit ihre demokratische Weltrevolution kompromittieren. Der Irak-Krieg habe die Spannungen beider Seiten nur kurzfristig überdeckt.

Damit ist den Neocons, wie Foer deutlich macht, ihr entscheidender strategischer Vorteil in der politischen Arena verloren gegangen: die Klarheit ihrer Rhetorik. An der Lage zerbricht die Eindeutigkeit. Der neokonservativen Idee ist die Demokratisierung die Lösung aller, auch sicherheitspolitischer Probleme. Welchen Sinn hat diese Doktrin, wenn selbst Neocons eingestehen müssen, dass auch ein demokratischer Iran noch lange kein atomwaffenfreier Iran wäre? Alle Hoffnungen der Neocons ruhen derzeit auf dem UN-Sicherheitsrat – treffender könnte der Befund ihrer Identitätskrise nicht belegt werden. Die amerikanische Macht stößt an Grenzen. Der Moment der Ernüchterung sei gekommen, meint Foer, und es könnte der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung sein.

Auf der liberalen Seite sieht es unterdessen nicht besser aus. „Identitätskrise“ wäre für Peter Beinart vermutlich noch ein Euphemismus. In der New Republic (Ausgaben vom 13. und 20. Dezember sowie vom 27. Dezember/10. Januar) hat sich an seinem Plädoyer für einen „neuen Liberalismus“ eine heftige Debatte unter den Führungsgestalten der Demokratischen Partei entzündet. Es geht dabei um die Zukunft der Partei, die wie keine andere verkörpert, was Amerika unter Liberalismus versteht.

Beinart versetzt seine Leser zurück in den Januar 1947, als sich die „Americans for Democratic Action“ (ADA) formierten – die einzige liberale Organisation, die Präsident Harry Truman 1947 darin unterstützte, Griechenland und der Türkei im Kampf gegen den Kommunismus zu Hilfe zu kommen. Arthur Schlesinger, einer der Vordenker der ADA, schrieb damals, der Liberalismus sei durch die sowjetische Bedrohung fundamental umgestaltet worden. Sein Zentrum sei nun die bedingungslose Ablehnung des Totalitarismus. Auf den Spuren Schlesingers wirft Beinart den heutigen Liberalen vor, allzu sehr auf innenpolitische Interessen fixiert zu sein.

Das Verhängnis des Liberalismus nach dem 11. September habe darin bestanden, dass nicht der von allen unterstützte Afghanistan-Krieg, sondern der umstrittene Irak-Krieg zum Inbegriff des „Krieges gegen den Terror“ geworden sei. Doch auch wer Bushs Manipulationen und Parteilichkeiten ablehne, müsse einsehen: Der Liberalismus könne nur überleben, wenn er aufhöre, die Bedrohung von „rechts“ für gefährlicher zu halten als die Bedrohung durch den globalisierten Terrorismus. Der Kampf gegen den neuen Totalitarismus sei auch ein Kampf für Freiheit und Bürgerrechte. Wer diese Lektion Schlesingers gelernt habe, werde auch wieder Wahlen gewinnen und die Fehler der Republikaner bekämpfen können. Die Liberalisierung der islamischen Welt durch mehr Nation-Building, ein neues Peace Corps, einen neuen Marshall-Plan – das könnten liberale Antworten auf die größte Gefahr unserer Zeit sein. Der Liberalismus müsse wieder kämpfen lernen.

Manche amerikanischen Stimmen werden dieser Tage auch ganz grundsätzlich. Robert D. Kaplan etwa, aus dessen Büchern und Reportagen Amerika die Welt kennt, zweifelt daran, dass es überhaupt noch auf die Politik ankommt. In Policy Review vom Dezember beschreibt er zunächst mit kaltem Blick die Ausbreitung einer neuen globalen Klasse kosmopolitischer Medienmenschen, eine Erscheinung der Globalisierung wie interkontinentale Flüchtlings- oder Geldströme. Doch bald schlägt Kaplans Ton um, wenn er die Medien als eigentliche Quelle der Macht entdeckt. Wie die Theologen des Mittelalters seien sie an unerfüllbaren, moralistischen Idealen ausgerichtet, mit denen sie jede Autorität in Frage stellen könnten. Doch anders als gewählte Politiker tragen die Massenmedien keinerlei formale Verantwortung für ihr Tun. Sie öffnen dem Terrorismus die Weltbühne, auf der er überhaupt erst sein schreckliches Schauspiel inszenieren kann, sie stürzen Politiker und decken Skandale auf. Aber stehen sie nicht in Gefahr, zu den Großinquisitoren der Gegenwart zu werden? Das ist Kaplans Befürchtung. So sei es zunehmend unmöglich geworden, Leistung und Autorität anzuerkennen. Es drohe die Tyrannei der Massen, befördert vom Geist der Massenmedien. Für Kaplan wird das am Umgang mit den amerikanischen Truppen deutlich. Unmöglich sei es geworden, das Heldentum der Krieger zu rühmen, weil das mit der Glorifizierung des Tötens verwechselt werde. Im Zweiten Weltkrieg hätten Berichterstatter und Soldaten auf einer Seite gestanden. Heute seien diese im Nationalstaat hängengeblieben, während jene längst im globalen Raum agierten. Die allein gelassenen Truppen symbolisieren Kaplans Grundproblem: Wenn die Medien zur Errichtung freierer Gesellschaften beitragen wollen, müssten sie sich fragen, wie sie mit Autorität umgehen. Die Kriterien dafür seien noch nicht gefunden.

In diesem Sprachgewirr könnte die kristallklare Stimme von Michael Walzer untergehen. Welcher Verlust daraus erwüchse, macht Garry Wills in der New York Review of Books vom 18. November deutlich. Denn der politische Theoretiker Walzer ist der einzige auf diesem Planeten, der überzeugende Kriterien dafür hat, wann ein Krieg gerecht ist. Vom Protest gegen den Vietnam-Krieg zum Engagement für Israels Überleben führte sein Denkweg, immer unbestechlich und kritisch gegen alle Seiten. In „Arguing About War“ unterzieht er den Irak-Krieg einer Prüfung. Wer erwartet hatte, dass Walzer, der den Krieg in Afghanistan gebilligt hatte, erneut seinen Segen geben würde, sah sich getäuscht. Noch vor Kriegsausbruch erklärte er das Handeln der USA als iniustum ad bellum, iniustum in bello und iniustum post bellum. Solange die Inspektoren im Land waren, konnte es kein ius ad bellum geben, und auch die nachträgliche Begründung des Krieges als humanitäre Intervention war nicht stichhaltig, weil sie Jahre zu spät kam.

Doch selbst ein gerechter Krieg lädt das Unrecht ein. Für Walzer ist es kein Grund zu feiern, wenn er einen Krieg unterstützt. Allerdings verlangt der gerechte Krieg die demokratische Legitimation des Volkes. Wird das im Zeitalter der Staatsgeheimnisse noch möglich sein?

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 116 - 119.

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