Die Neuvermessung der Welt
Entscheidend für die künftigen Weltstrukturen wird die Verteilung von Ressourcen, Gewinnen und Macht sein
Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ erzählt von einer besonderen Begegnung: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß trafen sich 1828 anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses in Berlin. Dort widmeten sich der Naturforscher und der Mathematiker der „Vermessung der Welt“. 180 Jahre später wird sie neu vermessen: Der Schwerpunkt der Welt hat sich von Nord-West nach Ost-Süd bewegt.
Zum Wachstum der Weltwirtschaft, das seit dem Jahr 2004 bei etwa fünf Prozent lag, trugen China zwei Fünftel und die Schwellenländer insgesamt etwa vier Fünftel bei, der OECD-Raum nur 20 Prozentpunkte. Sie verantworteten im selben Zeitraum auch 90 Prozent des weltweiten Verbrauchswachstums von Öl und Getreide. Nirgendwo besser als bei den Staatsfonds kristallisiert sich der neue Schwerpunkt der Welt. Sie und die Multis aus den Schwellenländern sind es, die derzeit im OECD-Raum Finanzierungslücken schließen.
Die realen Wachstumsraten von zehn Prozent der beiden asiatischen Giganten, China und Indien, lassen sich jedoch nicht linear fortschreiben:
- Das Theorem der konditionellen Konvergenz lässt vermuten, dass sich das Wachstum im Laufe des Aufholprozesses verlangsamt;
- die extrem hohen Investitionsquoten signalisieren dynamische Ineffizienz in China, also eine zu hohe Sparleistung zugunsten zukünftiger Generationen, und damit sinkende Kapitalrenditen;
- der Aufholprozess impliziert auch eine reale Trendaufwertung der asiatischen Währungen, und der Übergang von einem exportlastigen zu einem binnen-orientierten Wachstum hat bereits Deutschland und Japan Probleme bereitet;
- die Verteilungsprobleme in China und Indien verschärfen sich und bremsen über kurz oder lang das Wachstum aus;
- der Wachstumseffekt aus der Abwanderung aus der Landwirtschaft in den produktiveren urbanen Sektor wird aus demografischen Gründen schon bald in China dünner;
- im Dunst der Städte und in den Kloaken warnt die Umwelt, dass das Motto „Wachse zuerst. Putze zuletzt“ nicht mehr trägt.
Dennoch werden drei Aspekte die Neuvermessung der Welt prägen: 1. die Verteilung der planetaren Ressourcen; 2. die Verteilung der Globalisierungs- und Wachstumsdividenden, und 3. die Verteilung der politischen und militärischen Macht in einer zusammengewachsenen Welt ohne Weltregierung.
- Die Verteilung der planetaren Ressourcen wird in diesen Tagen in der Preisinflation bei Nahrungsmitteln und Energie akut sichtbar; Hungerrevolten sind auf dem Vormarsch. Solange sich die vermehrte Nachfrage der asiatischen Giganten in der ersten Bau- und Industrialisierungsphase auf Industriemetalle wie Eisenerz und Kupfer konzentrierte, waren die Preiseffekte per Saldo entwicklungs-, inflations- und verbraucherfreundlich. Nun bewirkt der Protein- und Energiekonsum der Neureichen genau das Gegenteil. Dabei ist zu bedenken, dass China durch sein Engagement in Afrika und anderswo auch zu einer Angebotsausweitung der Rohstoffe beiträgt, anstatt seinen Rohstoffhunger an den Kassamärkten zu befriedigen. Andererseits tragen China und Indien (wie auch die USA) zur Verknappung bei, etwa durch die nur geringe Anpassung der internen Energiepreise an das Weltmarktniveau.
- Die Verteilung der Globalisierungsdividenden ist praktisch überall auf der Welt ungleich ausgefallen: Talent und Anlagen wurden kräftig entlohnt. Aus Sicht der ungelernten Arbeiter war bislang unklar: Verschärfter Lohnwettbewerb oder die Vergrößerung der Märkte, welcher Effekt überwiegt in der Lohntüte? Der Lohndruck wurde bislang durch niedrigere Verbraucherpreise im Supermarkt kompensiert; doch seit der durch die Nachfrage der Schwellenländer mitverursachten Preisexplosion bei Energie und Nahrungsmitteln neigt sich die Waage. Die ewigen Hinweise auf den Wettbewerbsdruck offener Märkte, wenn es gilt höhere Löhne, Steuern, Sozialausgaben oder Regulierungsdichte (beispielsweise des Finanzwesens) abzuweisen, wirken zunehmend abgegriffen angesichts der negativen Verteilungseffekte. Der freie Welthandel kommt in Gefahr.
- Die Verantwortung für die globale Umwelt, Sicherheit und Armutsverringerung wird unklarer; sie impliziert Konflikte der aufsteigenden mit den etablierten Mächten um die Neuverteilung von Macht, Einfluss und Anpassungslasten. Der neue Schwerpunkt der Welt bringt eine immense Kaufkraftverlagerung weg von westlichen Demokratien hin zu Ländern, deren Regierungen mit weniger demokratischer Legitimation ausgestattet sind. Institutionen, die im Konsensprinzip arbeiten, werden wohl nur wenige Reformen erzielen können.
Die multilateralen Institutionen werden aber erst dann von den aufstrebenden Giganten voll akzeptiert werden, wenn die Machtverteilung die neuen Verhältnisse bei der Willensbildung und Fahrtrichtung dieser Institutionen reflektiert. Die kleinen Länder in Nord und Süd laufen dabei Gefahr, völlig übersehen zu werden; sie werden Gruppen (wie im Währungsfonds) bilden oder auf dem Prinzip der doppelten Mehrheit insistieren. Es ist sehr fraglich, ob dieser Prozess mit graduellen Trippelschritten und unter Führung der G-8 -erfolgen kann.
Prof. Dr. HELMUT REISEN, geb. 1950, ist Head of Research am Entwicklungszentrum der OECD in Paris und Titularprofessor an der Universität Basel. Er publiziert vor allem zu Fragen der Entwicklungs- und Währungspolitik sowie zur Globalisierung.
Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 94 - 95