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01. Jan. 2010

Der Traum von der Regenbogennation

Konfliktbewältigung in Südafrika

Südafrika gilt als Musterbeispiel für einen ethnischen Konflikt, der ohne Blutvergießen bewältigt wurde. Doch ein Streifzug durch das Land am Kap der guten Hoffnung zeigt: Von Nelson Mandelas Vision einer Gesellschaft, „in der alle Südafrikaner, schwarze wie weiße, mit erhobenem Haupt leben können“, ist man noch weit entfernt.

Caster Semenya siegte souverän. Bei der Leichtathletikweltmeisterschaft in Berlin im August 2009 lief die 18-Jährige ihren Konkurrentinnen über 800 Meter davon. Südafrika stand Kopf vor Jubel. Bis Zweifel laut wurden. War diese Weltmeisterin wirklich eine Frau? Sie sah verdächtig männlich aus. Der Internationale Leichtathletikverband ordnete eine Untersuchung an, Südafrika reagierte empört. „Weiße Medien, die von Ausländern kontrolliert werden, haben Unwahrheiten über Caster Semenya geschrieben“, schimpfte Julius Malema, Jugendverbandschef des regierenden Afrikanischen Nationalkongresses (ANC). Dann sickerten Ergebnisse der Untersuchung an die Öffentlichkeit: Semenya ist intersexuell, ist von außen eine Frau, von innen ein Mann. Der südafrikanische Verband hatte davon gewusst. Man hatte sie heimlich untersuchen lassen, ohne ihr es zu sagen. Das sei zu ihrem eigenen Schutz geschehen, hieß es, deshalb habe man auch wochenlang alles bestritten. Eine Funktionärin gab dem Sportminister die Schuld: „Wir hatten den Auftrag, mit Medaillen nach Hause zu kommen.“

Caster Semenya wurde in einem abgelegenen Dorf im Norden des Landes geboren. Sie war gerade einmal drei Jahre alt, als Nelson Mandela 1994 erster schwarzer Präsident eines demokratischen Südafrika wurde. Das allumfassende System der Rassentrennung hat Semenya nicht persönlich erlebt. Aber sie ist ein Opfer der Apartheid, getrieben von geltungssüchtigen Sportfunktionären, die der Welt beweisen wollten, dass das schwarze Südafrika eine „Siegernation“ ist.

Die Siegernation ist weit entfernt von jener Regenbogennation, die sich Mandela bei seinem Amtsantritt zum Ziel gesetzt hatte: „Wir gehen die feierliche Verpflichtung ein, dass wir eine Gesellschaft aufbauen werden, in der alle Südafrikaner, schwarze wie weiße, mit erhobenem Haupt leben können – eine Regenbogennation, die mit sich selbst und der Welt in Frieden lebt.“ Für diese Politik des Ausgleichs hat Mandela, zusammen mit seinem weißen Vorgänger Frederik Willem de Klerk, 1993 den Friedensnobelpreis erhalten.

Von Versöhnung sprechen Politiker 15 Jahre nach der Demokratisierung Südafrikas zwar immer noch. Doch Vergangenheitsbewältigung und Dialog zwischen den Rassen spielen kaum noch eine Rolle. In den Vordergrund gerückt sind konkrete Maßnahmen, die soziale Ungerechtigkeit ausgleichen, Armut und Arbeitslosigkeit überwinden und die wirtschaftlichen Chancen von Schwarzen fördern sollen. Je schwieriger es jedoch wird, diese Ziele umzusetzen, desto schärfer wird der Ton. ANC-Vertreter beschimpfen politische Gegner regelmäßig als Klassenfeinde oder Rassisten, die eine gerechte Gesellschaft sabotieren wollen. Für schwarze Kritiker hat sich das Schimpfwort „Kokosnuss“ eingebürgert: außen schwarz, innen weiß. Geraten Funktionäre oder Politiker in Bedrängnis, hagelt es geradezu Rassismusvorwürfe – wie im Fall Caster Semenya.

Natürlich hatte niemand erwartet, dass der Rassismus nach Jahrhunderten der Kolonialherrschaft und der Unterdrückung von Schwarzen ganz aus der südafrikanischen Gesellschaft verschwinden würde. Auf mehr Zurückhaltung hatte man dennoch gehofft, nachdem Mandela 1996 die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (Truth and Reconciliation Commission, TRC) ins Leben gerufen hatte. Zwei Jahre lang untersuchte das Gremium unter Vorsitz des anglikanischen Erzbischofs Desmond Tutu die Gräueltaten des Apartheid-Regimes. Opfer konnten öffentlich ihr Schicksal erzählen und sollten entschädigt werden. Täter, die im Namen des Unrechtsystems gefoltert und gemordet hatten, sollten im Tausch für ein umfassendes Geständnis Straffreiheit erhalten. In 7000 Fällen wurde ein Amnestieantrag gestellt, in 850 Fällen Straffreiheit gewährt. Obwohl eine große Mehrheit der Weißen die Kommission ablehnte, zwang das Verfahren sie dennoch, sich der unbequemen Wahrheit zu stellen. Wenn ehemalige Sicherheitspolizisten Foltermethoden demonstrierten oder weiße Exminister Anschlagskomplotte erklärten, konnte kein Weißer mehr behaupten, es handele sich um Hirngespinste von ANC-Kommunisten.

Wahrheit statt Gerechtigkeit

Adriaan Vlok war von 1986 bis 1991 Polizeiminister der Apartheid-Regierung. Aufstände der Schwarzen prägten den Alltag, das Regime reagierte mit Polizeigewalt und Ausnahmezustand. Todesschwadronen der Sicherheitspolizei entführten und töteten Dutzende von Apartheid-Gegnern. Die Wahrheitskommission gewährte Vlok Amnestie für Bombenanschläge auf die Gebäude des Gewerkschaftsverbands COSATU und des südafrikanischen Kirchenrats SACC. 2006 bekannte er, dass er 1989 die Vergiftung des SACC-Generalsekretärs Frank Chikane angeordnet hatte. In einer christlichen Geste des Bedauerns wusch er Chikane die Füße. 2007 wurde Vlok zu einer Bewährungsstrafe von zehn Jahren für versuchten Mord verurteilt. Der Exminister, heute 72, lebt unbehelligt in Südafrika.

Dass Folterer aufgrund ihrer Aussagen Straffreiheit erhielten, war für die schwarze Mehrheit der Bevölkerung eine bittere Erfahrung. Doch das war der zentrale Kompromiss der Kommission: Wahrheit statt Gerechtigkeit. Um Fakten ans Licht zu befördern, wurde auf die Verfolgung geständiger Täter verzichtet. Selbst diese für die Opfer unbefriedigende Regelung war nur nach harten Verhandlungen zustandegekommen. Die weißen Exherrscher und einige ANC-Politiker hatten eine Generalamnestie für politisch motivierte Verbrechen gefordert, ohne Untersuchung der einzelnen Taten. Für die Familien von schwarzen Opfern war es andererseits wichtig, ernst genommen zu werden, ihren Schmerz und ihre Anklagen öffentlich machen zu können. 22 000 Opfer wandten sich an die Kommission. „Einer unserer Erfolge war es, dass wir Opfern, die früher verachtet wurden, die nichts galten, die Gelegenheit gaben, ihre Geschichte zu erzählen. Das Volk hat sie zur Kenntnis genommen“, sagte Tutu.

Diesen Prozess der „öffentlichen Therapie“, aus dem der Kirchenmann Tutu nicht selten eine fast religiöse Veranstaltung machte, lehnten einige Be-obachter als übertrieben, ja geradezu peinlich ab. Doch genau diese psychologische Komponente halten Experten heute für besonders wichtig. „Wir konnten uns der Geschichte stellen und dabei eine Art psychologisches Ventil bieten“, sagt Hugo van der Merwe vom Studienzentrum für Gewalt und Versöhnung in Kapstadt. „Wenn wir die Vergangenheit einfach hinter uns gelassen hätten, wäre ein ständiges Gefühl der Frustration, der unterschwelligen Verbitterung geblieben.“

1998 legte die Kommission einen 3500 Seiten umfassenden Bericht vor, in dem nicht nur die Verletzungen der Menschenrechte seitens des weißen Regimes, sondern auch Übergriffe der damaligen Freiheitsbewegung ANC angeprangert wurden. Der ANC, unterdessen zur Regierungspartei geworden, verurteilte das als „Schmierkampagne gegen unseren Kampf“, als „Kriminalisierung der Revolution“ und versuchte in letzter Minute, den TRC-Bericht vor Gericht zu verhindern – ohne Erfolg.

Es ist wohl auch dieses Misstrauen des ANC gegenüber der Kommission, das dazu geführt hat, dass die konkreten Ergebnisse der TRC eher dürftig sind. So hatte die Kommission über 1000 Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen zur Strafverfolgung empfohlen – solche Verfahren bildeten Teil der juristischen Grundlage der Kommission. Doch nur eine Handvoll Prozesse hat es gegeben, darunter jenen gegen Adriaan Vlok.

Die Kommission versprach den Familien von Opfern eine mehrjährige Rente als Entschädigung. Nach jahrelangen Kontroversen erklärte sich die Regierung bereit, eine einmalige Summe von etwa 3000 Euro zu zahlen. Thabo Mbeki, ab 1999 Nachfolger von Nelson Mandela als Präsident Südafrikas, meinte, dass Reparationszahlungen an wenige Tausend Opferfamilien nicht sinnvoll seien. Alle schwarzen Südafrikaner hätten unter der Apartheid gelitten, man könne nicht nur Auserwählte entschädigen. Zudem sei eine Wiedergutmachung nur durch umfassende soziale und gesellschaftliche Veränderungen zu erzielen. „Die TRC kümmerte sich nur um Dinge an der Oberfläche“, sagt dazu van der Merwe, „Der Umgang mit den tieferen strukturellen Unterschieden, mit der Kluft zwischen Arm und Reich, wird letztlich über Frieden und Stabilität entscheiden.“ Das war auch der Wahrheitskommission selbst bewusst. So erklärt Alex Boraine, stellvertretender Vorsitzender der Kommission: „Jedes Mal, wenn ein Licht angeschaltet wird, wo es früher keinen Strom gab, ist das ein Zeichen der Versöhnung.“

Präsidiale Projekte

Dorcas Mokoena (42) lebte 1996 in einer Slumsiedlung nördlich von Johannesburg. Ihre beiden Töchter (deren Väter längst verschwunden waren) musste sie bei Nachbarn lassen, während sie putzen ging. Selten hatte sie mehr als drei Tage in der Woche Arbeit. Mit dem ersten Wohnungsbauprogramm der neuen ANC-Regierung hatte sie Glück: Ihr wurde eines der neu gebauten Häuschen zugeteilt. 20 Quadratmeter, Strom und Wasser, auf einem 100-Quadratmeter-Grundstück an einer geteerten Straße gelegen – das alles gehört ihr. Bis 2009 wurde das Haus um ein Zimmer erweitert, es ist zum Ankerpunkt für eine Großfamilie geworden. Es leben dort bis zu zehn Menschen – Geschwister von Mokoena, ihr noch junger Sohn (dessen Vater längst verschwunden ist), Enkelkinder, Neffen und Nichten. Die Kinder gehen zur Schule. Mokoena hat fünf Tage in der Woche Arbeit.

Alle südafrikanischen Regierungen der vergangenen 15 Jahre haben großes Gewicht auf  die Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Apartheid gelegt. Soziale Netze wurden erweitert, der Wohnungsbau vorangetrieben, Schul- und Gesundheitssystem umgebaut. Ein Gesetz zur Förderung von Schwarzen im Wirtschaftsleben (Black Economic Empowerment, BEE) verpflichtet alle Unternehmen, „ehemals benachteiligte Personen“ (dazu gehören Schwarze, Mischlinge, Inder, Chinesen, Frauen und Behinderte) bevorzugt zu behandeln.

Zu Beginn seiner Amtszeit bildete für Mandela das Programm für Wiederaufbau und Entwicklung (Reconstruction and Development Programme, RDP) die Grundlage der Politik. Daraus wählte er einige „präsidiale Projekte“ mit höchster Priorität aus, etwa die kostenlose medizinische Versorgung von Kleinkindern. Später setzte Mandelas Regierung, und noch stärker die seines Nachfolgers Mbeki, auf das Programm für Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung (Growth, Employment and Redistribution Programme, GEAR). Es sah eine liberale Politik der Geldmarkt- und Inflationskontrolle und offener Märkte vor, die zu Wachstumsraten von vier Prozent im Jahr führen und Hunderttausende von Arbeitsplätzen schaffen sollte.

Die Aufbauleistungen der vergangenen 15 Jahre sind beeindruckend. 2,8 Millionen Wohnungen wurden gebaut – fast ausschließlich kleine Einfamilienhäuser an der Peripherie der Städte. Knapp sechs Millionen Haushalte haben seit 1994 Trinkwasser erhalten, fast fünf Millionen wurden ans Stromnetz angeschlossen. Südafrikas Handynetz hat viele Gebiete erschlossen, die früher von der Telekommunikation abgeschnitten waren. Kinder-, Renten- und Behindertengelder erreichen heute etwa 13 Millionen Empfänger in einer Bevölkerung von knapp 50 Millionen. Sie sichern für zahlreiche Familien die Existenz.

Auf der Suche nach der schwarzen Mittelschicht

Tokyo Sexwale wurde kurz nach Nelson Mandela 1990 von der Gefängnisinsel Robben Island entlassen. Er hatte 13 Jahre dort verbracht. Der in der Sowjet-union ausgebildete ANC-Kämpfer machte in der Partei schnell Karriere. Nach der ersten freien Wahl 1994 wurde er Premierminister der Provinz Gauteng rund um Johannesburg. Als Mandela 1999 an Mbeki übergab, ging Sexwale in die Privatwirtschaft. Innerhalb von zehn Jahren war er Milliardär. Sein Bergwerksunternehmen Mvelaphanda Resources steht weltweit an dritter Stelle bei der Diamantenproduktion. Seit Mai 2009 ist der 56-Jährige Minister für Menschliche Siedlungen in der Regierung von Jacob Zuma.

Ein zentrales Ziel der Regierungen Mandela und Mbeki war es, eine schwarze Mittelschicht zu bilden. So sollte die Kluft zwischen armen Schwarzen und reichen Weißen überbrückt werden – in kaum einem anderen Land der Welt ist der Reichtum derart ungleich verteilt. Zehntausende Schwarze ersetzten Weiße in der öffentlichen Verwaltung. In der Privatwirtschaft soll die BEE-Gesetz-gebung Schwarzen die Türen öffnen. Unternehmen errechnen ihren BEE-Status nach einem ausgeklügelten Punktesystem. Kleinbetriebe sind vom BEE-Zwang ausgenommen. Firmen mit gutem BEE-Profil werden vom Staat bevorzugt behandelt, etwa bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

Einfache Menschen haben von Dutzenden von BEE-Deals profitiert. Die Mvelaphanda Group von Tokyo Sexwale hat Bürgergruppen unter ihren Anteilseignern, die mehr als eine Million Schwarze vertreten. Eine der erfolgreichsten Investmentgruppen, Hosken Consolidated Investments, gehört zu 40 Prozent der Textilarbeitergewerkschaft SACTWU. Dennoch gilt fast immer, dass einzelne Anteilspakete auf sehr viele Menschen, andere Pakete jedoch an wenige Einzelpersonen verteilt werden. Die auffälligsten Profiteure der BEE-Geschäfte sind prominente Politiker. Staatssekretäre und Parteifunktionäre, Gewerkschaftsführer und Parlamentsabgeordnete, Botschafter und Generäle gründen Investmentgesellschaften. Sie erhalten günstige Kredite, um Aktien zu übernehmen, deren Erträge wiederum die Kredite bedienen. Oft sind die einzigen Aktiva, die sie einbringen, ihre politischen Beziehungen.

Doch die Bevölkerung murrt, dass Politiker es nur auf das schnelle Geld abgesehen haben. Die BEE-Profiteure stehen als Beispiel für eine Gesellschaft, in der praktisch jedes Mittel recht ist, um sich zu bereichern. Selbst Jacob Zuma, seit Mai 2009 Präsident Südafrikas, wurde der Korruption verdächtigt – er soll bei einem Rüstungsdeal Schmiergelder angenommen haben. Das Verfahren gegen ihn wurde nach monatelangem politischen Tauziehen eingestellt. Aber Zumas engster Finanzberater wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Gewalttätige Gesellschaft

Palesa Ramotswe war zwölf, als sie 1994 in der Nachbarschaft ihrer Slumhütte bei Johannesburg vergewaltigt wurde. Der Täter wurde nie gefasst. Das psychisch und körperlich schwer verletzte Kind wurde aufs Land zur Großmutter geschickt. Mit 16 kehrte sie zur Mutter in die Großstadt zurück. Ein Jahr später war sie schwanger. Der Vater ihres Kindes, er stammte aus einer Jugendgang, ließ sich nicht sehen. Das Kind war behindert. Zwei Jahre später hatte Palesa ein zweites Kind, dessen Vater ebenfalls untertauchte. 2006 verschwand Palesa. Die Familie suchte wochenlang nach ihr, die Polizei war keine Hilfe. Eine Tante entdeckte Palesa im Leichenhaus. Sie war ermordet worden. Der Fall wurde nie untersucht, ein Täter nie gefasst. Sie war 24, gearbeitet hatte sie nie.

Südafrikas Kriminalitätsstatistik ist erschreckend. Täglich werden 50 Menschen ermordet, 110 Frauen vergewaltigt, 41 Fahrzeuge unter Einsatz von Waffen geraubt. Überfälle auf Geldtransporter und Banken gehören zum Alltag. Wer es sich leisten kann, schützt sich durch hohe Mauern, Alarmanlagen und private Sicherheitsdienste. In den schwarzen Armutsvierteln jedoch sind die Menschen auf die Polizei angewiesen, die weitgehend versagt. Dass Südafrika eine derart gewalttätige Gesellschaft ist, ist auch eine Hinterlassenschaft der Apartheid. Die Rassentrennung riss Familien-, Dorf- und Stammesverbände auseinander. Millionen Menschen wurden zwangsumgesiedelt, willkürlich verhaftet, misshandelt. Die Polizei war Teil des Unterdrückungssystems. Trotz jahrelanger Bemühungen hat sich das Vertrauen in sie kaum verbessert. Kein Wunder, wenn sogar Expolizeichef Jackie Selebi wegen Korruption vor Gericht steht.

Der soziale Druck hat trotz aller Bemühungen der vergangenen 15 Jahre nicht nachgelassen. Die Arbeitslosigkeit wird offiziell mit 25 Prozent angegeben, unter Jugendlichen sind wohl 40 Prozent ohne Arbeit. Hinzu kommen die Folgen einer der höchsten Aids-Infektionsraten der Welt. Die Lebenserwartung liegt bei 51 Jahren. Von 1000 Kindern sterben 65, bevor sie fünf Jahre alt sind (Deutschland 5, Afghanistan 257). Das Gesundheitssystem macht kaum Fortschritte, ebenso hat sich das Schulsystem nicht verbessern können. Schüler in Südafrika schneiden im Vergleich schlechter ab als solche aus Kenia oder Botswana.

Die Apartheid hatte Millionen von Schwarzen in ländliche Armutsgebiete verbannt. Seit diese Schranken gefallen sind, platzen die Städte aus allen Nähten. Trotz aller Wohnungsbauprogramme entstehen immer neue Slums. In einem Akt der Verzweiflung wurde in der Provinz KwaZulu/Natal ein Gesetz verabschiedet, das die gewaltsame Räumung und Zerstörung von Slumsiedlungen vorsah. Das Gesetz galt anderen Provinzen als vorbildlich – obwohl es an die Apartheid-Zeit erinnerte, als die Behörden mit Planierraupen und Schlägertrupps ohne Rücksicht auf Menschenleben gegen wilde Siedlungen vorgingen. Erst eine Klage von Bürgerinitiativen aus Slumgebieten brachte das Gesetz vor dem Verfassungsgericht zu Fall.

Sbu Zikode (35) lebte seit 1995 in der Slumsiedlung Kennedy Road am Rande der Hafenstadt Durban. 2005 gründete er die Bürgerinitiative Abahlali base Mjondolo (Zulu für „Die Menschen aus den Slumhütten“, AbM) und organisierte zahlreiche Demonstrationen gegen die Stadtverwaltung. Zikode wurde mehrfach verhaftet. 2006 verlor er seinen Job als Tankstellenwart. Ende September 2009 wurde Kennedy Road nachts von Schlägern angegriffen, die gezielt gegen Führungsmitglieder von AbM vorgingen. Zwei Menschen wurden getötet, Tausende flüchteten. Die Polizei reagierte nicht auf Hilferufe. Zikode konnte sich mit Frau und vier Kindern in Sicherheit bringen, sein Haus wurde verwüstet. Wenige Tage nach dem Angriff begann der ANC, in Kennedy Road einen Ortsverband aufzubauen.

Korrupte Kommunen

Wohl auf keiner Verwaltungsebene haben Korruption und Inkompetenz in den vergangenen 15 Jahren derart um sich gegriffen wie in den Kommunen. Viele Stadtregierungen seien „funktionsunfähig“, sagte Jacob Zuma vor fast 300 Bürgermeistern im Oktober 2009. Politische Grabenkämpfe, mangelhafte finanzielle Kontrollen und Korruption lähmen die Städte, monierte der Präsident. Eine amtliche Untersuchung spricht von „Beamten, deren Priorität es ist, Reichtum auf Kosten der Armen anzuhäufen“.

Immer wieder protestieren Tausende gegen inkompetente Stadtverwaltungen, nicht selten kommt es dabei zu Brandstiftung und Plünderungen. Die brodelnde Unzufriedenheit unter den Ärmsten hat in den letzten Jahren zu schweren Spannungen innerhalb des ANC geführt. Der linke Flügel, angeführt vom Gewerkschaftsverband COSATU und der Kommunistischen Partei, warf der Mbeki-Regierung vor, durch ihre liberale Marktpolitik Ungleichheit und Armut noch verschärft zu haben. Tatsächlich wurde das GEAR-Programm zwar international gelobt, und die Wirtschaft wuchs von 2004 bis 2007 jährlich um etwa fünf Prozent. Doch nach wie vor müssen mehr als 49 Prozent der Menschen mit weniger als 50 Euro pro Monat auskommen, während die Reichen noch reicher geworden sind.

Die Spannungen im ANC gipfelten Ende 2007 in einem turbulenten Parteitag. Thabo Mbeki wurde als Parteichef abgesetzt, Jacob Zuma zu seinem Nachfolger gewählt. Neun Monate später zwang die Partei Mbeki, vom Amt des Staatspräsidenten zurückzutreten, was zu einer Abspaltung liberaler Politiker vom ANC führte. ANC-Vizepräsident Kgalema Motlanthe übernahm interimistisch – Zuma konnte die Nachfolge nicht sofort antreten, da das Korruptionsverfahren gegen ihn noch lief. Doch die allgemeinen Wahlen im April 2009 gewann Zuma mit großer Mehrheit. Er setzte auf Populismus, versprach Arbeitslosen und Armen, in seiner Amtszeit von fünf Jahren nachzuholen, was seine Vorgänger in 15 Jahren nicht geschafft hatten. In seiner Antrittsrede würdigte der neue Staats- und Regierungschef Mandelas Erbe der Versöhnung. „Mandela heilte unsere Wunden“, sagte Zuma. Dass der Traum von der Regenbogennation allerdings noch lange nicht Wirklichkeit ist, räumte Zuma ebenfalls ein. 15 Jahre nach Mandelas Antrittsrede wiederholte er dessen Aufruf: „Wir müssen den Kampf wieder aufnehmen für ein Land, das mit sich selbst und der Welt in Frieden lebt.“

HANS BRANDT ist Redakteur des Tages-Anzeigers in Zürich und war 15 Jahre lang Südafrika-Korrespondent, u.a. für die Frankfurter Rundschau.