Das Wachsen der Anderen: Staatliche Anreize sind ausgeschöpft
Um Wachstum zu generieren, will Südafrika neue Märkte erschließen
Fast 20 Jahre nach dem Ende des Apartheid-Systems der Rassendiskriminierung bleibt Südafrika geprägt von krassen Einkommensunterschieden zwischen einer kleinen, meist weißen Oberschicht und einer großen, fast ausschließlich schwarzen Unterschicht. Um die über Jahrhunderte benachteiligte schwarze Mehrheit zu fördern und eine gerechtere Einkommensverteilung zu erzielen, setzt der regierende Afrikanische Nationalkongress (ANC) auf umfangreiche staatliche Interventionen und möglichst schnelles Wirtschaftswachstum. „Um die Zahl der Arbeitsplätze dauerhaft zu erhöhen, ist eine schneller wachsende Wirtschaft notwendig“, heißt es dazu im Nationalen Entwicklungsplan (NDP) der Regierung von 2012.
Nelson Mandela, der erste Präsident nach dem Ende der Apartheid 1994, und dessen Nachfolger Thabo Mbeki hatten sich noch ein Wachstum von 6 Prozent zum Ziel gesetzt; heute peilt die Regierung von Präsident Jacob Zuma 5 Prozent an. Keine dieser Vorgaben konnte bisher erreicht werden. Von 1994 bis 2008 war die Wirtschaft durchschnittlich mit 3,2 Prozent jährlich gewachsen. Die weltweite Finanzkrise 2008 drückte Südafrika in eine Rezession: Zum ersten Mal seit 17 Jahren ging die Wirtschaftsleistung 2009 zurück. Doch schon 2010 konnte man wieder ein positives Wachstum vermelden; es lag 2012 bei 2,5 Prozent. Die stärkste Volkswirtschaft in Afrika hat die globale Finanzkrise bisher ohne schwere Schäden bewältigen können – zum Teil profitierte sie sogar davon.
Drei Faktoren spielten eine wichtige Rolle: Unterstützt durch eine äußerst erfolgreiche Steigerung des Steueraufkommens konnte die ANC-Regierung massiv in Infrastruktur- und Sozialprojekte investieren; Südafrikas Zentralbank, die South African Reserve Bank (SARB), senkte schrittweise die Zinsen; und die niedrigen Zinsen für Staatsanleihen in Industrieländern lenkten große Summen in die Schwellenländer, in denen Obligationen noch deutlich höhere Erträge versprachen – ein Geldstrom, der auch Südafrika erreichte.
„Auf einer soliden Grundlage fiskalischer Zurückhaltung konnte Südafrika auf die Finanzkrise 2008 mit einer aggressiven antizyklischen Politik reagieren“, heißt es in einem Südafrika-Bericht der Weltbank. Die Regierung schüttete Milliarden aus für Sozialversicherungen, Straßen-, Strom- und Wasserleitungsbau, Schulen und Krankenhäuser. Heute geht es Millionen von Südafrikanern deutlich besser als vor 20 Jahren; ganze Familien, vor allem in ländlichen Regionen, leben von einer Kombination aus staatlicher Altersrente und Kindergeld, die ein Mindesteinkommen garantiert.
Dennoch ist die Unzufriedenheit in der Bevölkerung in letzter Zeit gewachsen. Man nimmt Politiker wieder verstärkt als korrupte Kaste wahr, die nur nach Bereicherung strebt. Das Einkommensgefälle gehört immer noch zu den steilsten der Welt: Eine große Mehrheit der Menschen mag zwar über das Existenzminimum verfügen, lebt aber nach wie vor in bitterer Armut. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 25 Prozent, tatsächlich aber vor allem unter Jugendlichen viel höher.
„Eine Million junge Leute verlassen jedes Jahr vor ihrem Abschluss unsere Schulen“, sagte Finanzminister Pravin Gordhan im Februar bei der Präsentation des Haushalts im Parlament. „Wir müssen ihre Ausbildung und ihre Arbeitsmöglichkeiten verbessern.“ Staatliche finanzielle Anreize sollen Unternehmen dazu bringen, mehr junge Leute einzustellen. Gleichzeitig fordert Gordhan zusätzliche Investitionen im Privatsektor, um Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings sind Südafrikas Firmen traditionell stark abhängig vom europäischen Markt, auf dem die Nachfrage zuletzt nachgelassen hat.
Südafrika reagiert mit dem Versuch, neue Märkte zu erschließen, vor allem in Afrika, dessen Wirtschaft trotz der Krise überdurchschnittlich gewachsen ist. „2007 gingen 38 Prozent unserer Exporte von Fertigwaren nach Europa, 25 Prozent nach Afrika“, führte SARB-Präsidentin Gill Marcus im März aus. „2012 hatte sich das Bild umgekehrt: 25 gehen nach Europa, 38 Prozent nach Afrika.“
Neue Impulse erwartet das Land auch von einer engen Kooperation mit den BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China, zu deren Verbund sich Südafrika als afrikanischer Vertreter gesellt hat. Dort hofft Südafrika einen verlässlichen Markt für seine Rohstoffe zu finden, die den Export noch immer dominieren – besonders wichtig sind Platin und Gold. Allerdings hat eine Serie von militanten Bergarbeiterstreiks 2012 und 2013 zu einiger Verunsicherung geführt. Dabei sind neue Gewerkschaften aufgetreten, die nicht zur traditionellen Allianz mit dem regierenden ANC gehören, also weniger berechenbar sind.
Auch andere Warnsignale deuten darauf hin, dass die kommenden Jahre für Südafrika schwieriger werden könnten. Steigerungen im Steuereinkommen sind nur noch zu erwarten, wenn die Wirtschaft wächst, nicht mehr, indem neue Steuerzahler erfasst oder Schlupflöcher geschlossen werden. Und die Schuldenquote soll nicht über 40 Prozent des BIP steigen. „Der Spielraum für weitere staatliche Anreize ist ausgeschöpft“, meint Gill Marcus.
Das gilt auch für die Zinspolitik der Zentralbank. Der Leitzins von derzeit 5 Prozent kann bei einer Inflationsrate von knapp 6 Prozent kaum noch gesenkt werden. Auf der Jagd nach Wachstum will Finanzminister Gordhan sich daher durch noch effizientere Ausgabenkontrolle, gezieltere Fördermaßnahmen und den Kampf gegen Korruption Luft verschaffen. Trotz aller Engpässe soll das soziale Netz weiter ausgebaut werden. Eine Sparpolitik, wie sie in südeuropäischen Ländern praktiziert wird, schließt er aus. „Wir sind nicht dazu bereit, den Südafrikanern eine Sparpolitik zuzumuten“, sagte Gordhan in einem Interview. „Wer sich auf der Welt umsieht, erkennt, dass Sparen für den sozialen Zusammenhalt ein Desaster war und wirtschaftlich nicht das erhoffte Wachstum und die erhoffte Erleichterung gebracht hat.“
Wachstumsrate: 3,0 %
BIP pro Kopf: 7580 $
Inflationsrate: 4,2 %
Arbeitslosenquote: 25 %
Haushaltsbilanz (% BIP): -5,0
Heinz Brandt ist Redakteur des Tages-Anzeigers in Zürich.
Internationale Politik 4, Juli/Auguste 2013, S. 34-36