Gegen den Strich

28. Febr. 2014

Der Afrikanische Nationalkongress

Dichtung und Wahrheit über Südafrikas „ewige“ Regierungspartei

Seit 20 Jahren regiert der Afrikanische Nationalkongress (ANC) in Südafrika. Im Dezember ist Nelson Mandela, die Symbolfigur der Demokratisierung, gestorben, im Frühling stehen die nächsten allgemeinen Wahlen an. Kann die Partei an Mandelas Erbe anknüpfen? Kann sie ihren Anspruch, die Vertreterin der schwarzen Mehrheit zu sein, aufrechterhalten?

Der ANC ist die Partei von Nelson Mandela 

Ist sie das noch? Mit Sicherheit ist der Afrikanische Nationalkongress von heute nicht mehr jene älteste Befreiungsbewegung Afrikas, der Mandelas lebenslange Loyalität galt. Absolute Parteidisziplin war für Mandela von großer Bedeutung: Unter den politischen Gefangenen auf der Gefängnisinsel Robben Island war sie überlebenswichtig, für die Freiheitsaktivisten im Exil ebenso. So äußerte Mandela öffentlich nie Kritik am ANC und seiner Führung – selbst wenn deren Politik seinen eigenen Zielen widersprach. Mandela stand bis zuletzt für Versöhnung und Ausgleich mit den Gegnern, für Bescheidenheit und Aufrichtigkeit, für Verlässlichkeit und Kritikfähigkeit. Diese Tugenden sind der ANC-Führung längst abhanden gekommen. Die Partei hat in 20 Jahren an der Macht große Teile ihres über Jahrzehnte gepflegten Idealismus aufgegeben.

Charakteristisch für den ANC seien heute „Korruption, Flügelkämpfe und der Missbrauch der Politik als Mittel zur persönlichen Bereicherung“, schreiben die Politologen Prince Mashele und Mzukisi Qobo. Die Partei sei „ein riesiges Netzwerk des Klientelismus, in dem attraktive Belohnungen für jene verteilt werden, die dem richtigen Parteiflügel angehören.“

Eine Parteimitgliedschaft gilt als Mittel, um an Posten zu gelangen, die Zugriff auf staatliche Gelder erlauben. Im parteiinternen Jargon heißt das „Deployment“ – „Entsendung“. Parteikader werden von der Parteiführung „entsandt“, um Bürgermeister, Parlamentsabgeordneter, Polizeichef oder Manager in einem staatlichen Unternehmen zu werden. Solche Entsendungen können auch rückgängig gemacht werden – dadurch sind die einzelnen Kader stark vom Wohlwollen der ANC-Führung abhängig. Solange sie diese Zustimmung jedoch genießen, haben sie freie Hand. Besonders in den Kommunen sind unzählige Fälle schamlosester Bereicherung bekannt geworden, die nur selten bestraft wurden.

Präsident Jacob Zuma selbst macht da keine Ausnahme. Er konnte 2009 nur Präsident werden, weil eine Reihe von Anklagen wegen Korruption gegen ihn nach massivem politischem Druck zurückgezogen wurde. Das Wahlergebnis wurde dadurch kaum beeinträchtigt; womöglich waren diese Vorwürfe zu abstrakt für viele einfache Bürger. Doch seit 2012 bekannt wurde, dass Zuma seinen privaten Landsitz auf Staatskosten für 20 Millionen Euro ausbauen ließ, macht sich Empörung auch unter seinen Anhängern breit

Der ANC ist die einzig mögliche Regierungspartei

Nun ja. Die Wahlen im Frühling wird der ANC deutlich gewinnen. Aber langfristig sieht die Prognose eher wechselhaft aus, auch wenn Präsident Zuma schon im Zuge der allgemeinen Wahlen 2009 prophezeite, dass seine Partei regieren werde, „bis der Messias kommt“.

Zuversicht zu verbreiten gehört zum guten Ton in Zeiten des Wahlkampfs. Tatsächlich aber sind Zuma und seine Partei keineswegs in einer so komfortablen Lage, wie sie behaupten. Millionen von Zuschauern aus aller Welt wurde das bei der Trauerfeier für Nelson Mandela im Dezember 2013 vor Augen geführt. Mit höflichem Jubel wurden UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und sogar Simbabwes Diktator Robert Mugabe von Zehntausenden im Stadion bei Johannesburg begrüßt. Doch als Zuma auftauchte, ging der Beifall auf einem Teil der Tribüne in Buhrufe und Pfiffe über. „Austauschen!“, gestikulierten einige Zuschauer mit dem beim Fußball dafür üblichen Handzeichen. Die Bildregie des südafrikanischen Staatsfernsehens SABC schaltete nach wenigen ­Sekunden um – und verschwieg den Vorfall später. Weltweit hingegen machte er Schlagzeilen.

Nach der Blamage schäumte die ANC-Führung vor Wut. Dieses Benehmen sei „äußerst schockierend, widerlich und empörend“, meinte der dem ANC nahe stehende Gewerkschaftsdachverband COSATU (Kongress südafrikanischer Gewerkschaften) und rief zur Bestrafung der Schuldigen auf. Die Suche nach ihnen begann sofort, öffentlich identifiziert wurden sie allerdings nicht. Medien vermuten ANC-Mitglieder aus der Provinz Gauteng, die mit Johannesburg und der Hauptstadt Pretoria den mächtigsten Regionalverband innerhalb der Regierungspartei bildet. Hier hat Thabo Mbeki, Zumas Vorgänger im Amt des Staatspräsidenten, noch zahlreiche Anhänger. Um eine Wiederholung des peinlichen Vorfalls zu vermeiden, wurden alle öffentlichen ANC-Versammlungen der nächsten Wochen strengstens kontrolliert. „Wer die Rede des Präsidenten stört, wird von der Polizei verhaftet“, warnte der ANC seine Anhänger bei der Vorstellung seines Wahlprogramms in der Provinz Ostkap Ende Januar. „Unangemessenes Verhalten“ blieb tatsächlich aus.

Doch in der Bevölkerung wächst 20 Jahre nach der ersten freien Wahl in Südafrika der Unmut über die Regierenden. Die Arbeitslosigkeit bleibt mit einem Anteil von über 30 Prozent sehr hoch; die Lebensbedingungen in den Armutsgebieten sind oft mangelhaft; Flügelkämpfe im ANC und COSATU führen zu Unsicherheit; Korruption unter Politikern ist weit verbreitet. Eine repräsentative Umfrage durch das Institut Ipsos ergab Ende November 2013, dass die Unterstützung für den ANC auf 53 Prozent gesunken ist. Fünf Jahre zuvor, wenige Monate vor den Wahlen 2009, hatten sich noch 63 Prozent für die Regierungspartei ausgesprochen. 

Von der ANC-Schwäche profitiert die Demokratische Allianz (DA), größte Oppositionspartei und Nachfolgerin jener Parteien, die schon zu Apartheid-Zeiten aus wirtschaftsliberaler Perspektive die Rassentrennung kritisierten. Und auch wenn die DA nach wie vor als Partei der Weißen gilt, laut Ipsos-Umfrage kann sie auf eine Unterstützung von 18 Prozent der Stimmen und damit auf einen Rückhalt weit über die weiße Bevölkerung hinaus vertrauen. Als Regierungspartei in der Provinz Westkap hat die DA zudem bereits ihre Kompetenz unter Beweis stellen können.

Überraschend groß scheint auch der Anhang der Economic Freedom Fighters (EFF – Kämpfer für wirtschaftliche Freiheit) zu sein, einer erst Mitte 2013 gegründeten linken Abspaltung vom ANC. Deren Führer Julius Malema wurde als Chef der ANC-Jugendorganisation ANCYL (ANC Youth League) bekannt, hat aber offenbar nicht darunter gelitten, dass er vom ANC ausgeschlossen wurde. Mit seinen Forderungen nach Nationalisierung großer Konzerne und radikaler Umverteilung des Landbesitzes spricht der 32-Jährige Ipsos zufolge 4 Prozent der Wähler an. Andere Experten setzen die Stärke der EFF sogar noch höher an – auf der Grundlage vertraulicher Umfragen im Auftrag einzelner Parteien.

Der ANC ist von Kommunisten unterwandert

Stimmt – aber sind das echte Kommunisten? Innerhalb der so genannten „Dreiteiligen Allianz“ zwischen ANC, COSATU und der südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP) galten die Kommunisten jahrzehntelang als intellektuelle Elite, deren Mitglieder namentlich nicht bekannt waren, aber hinter den Kulissen die Fäden zogen. 

Selbst Nelson Mandela war einmal Mitglied des SACP-Zentralkomitees, wie die Partei nach seinem Tod verkündete. Allerdings hatte Mandela wiederholt betont, dass er „kein Marxist“ sei. Mandelas wirtschaftspolitische Ansichten können als sozialdemokratisch betrachtet werden; kommunistisch waren sie nie. Er pflegte enge Beziehungen zu Wirtschaftsführern, deren Macht er kaum einzuschränken versuchte. Genauso unentschlossen geht überzeugten Linken zufolge die gesamte SACP-Führung mit „den Wirtschaftsbossen“ um. 

In den Jahren des Exils, als die Apartheid-Regierung ihre blutige Unterdrückung der Schwarzen auch mit dem Kampf gegen den Kommunismus rechtfertigte, gab sich die Moskau-treue Partei ein Programm, das die Verwandlung Südafrikas in ein zentral gesteuertes sozialistisches Regime nach sowjetischem Vorbild vorsah. Kaum an der Macht, vertagte die SACP ihre sozialistischen Ziele stillschweigend auf unbestimmte Zeit. Acht Mitglieder des Zentralkomitees sind Minister oder stellvertretende Minister in Zumas Kabinett, darunter SACP-Generalsekretär Blade Nzimande als Bildungsminister. Sie tragen eine Politik mit, die in weiten Teilen marktliberal und konservativ ist.

Sogar Thabo Mbeki, Mandelas Nachfolger als Präsident, war Mitglied des SACP-Zentralkomitees. Doch er wurde von Zuma und dessen linken Anhängern 2008 gestürzt, weil er als zu freundlich gegenüber internationalen Kapitalmärkten und einheimischen Großkonzernen galt. Vor allem linke Kräfte innerhalb der Gewerkschaften brachten Zuma an die Macht – und sind heute von seiner Wirtschaftspolitik umso enttäuschter. Abspaltungen am linken Rand könnten der Regierungspartei gefährlicher werden als der wachsende Wähleranteil der DA. 

Unter Millionen armer Schwarzer findet Kritik am protzigen Lebensstil der ANC- und SACP-Spitzen ein Echo. Das gilt auch für Forderungen nach einer Verstaatlichung der Bergwerke oder der Enteignung weißer Großbauern. Am lautesten fordert das EFF-Führer Julius Malema, der mit populistischen Schimpftiraden gegen reiche Weiße, Bergbaukonzerne oder den ANC Tausende begeistert. Einige Beobachter beschreiben ihn als brandgefährlichen Populisten, gar als „linken Faschisten“. Jede Stimme für die EFF geht dem ANC direkt verloren.

Noch bedrohlicher für die Regierungspartei ist eine sich anbahnende Spaltung im Gewerkschaftsdachverband COSATU. Seit Monaten versuchen SACP-Kräfte innerhalb des Verbands den bisherigen Generalsekretär Zwelinzima Vavi zu stürzen, weil dieser Zuma zu scharf kritisiert hat. Inzwischen ist Vavi suspendiert; ihm werden sexuelle Übergriffe auf eine Mitarbeiterin vorgeworfen. Infolge dieser Spannungen hat die größte COSATU-Einzelgewerkschaft, die Metallgewerkschaft NUMSA (Nationale Gewerkschaft der Metallarbeiter Südafrikas), bei einem Sonderkongress im Dezember ihre Unterstützung für den ANC und die SACP aufgekündigt. NUMSA-Mitglieder wollen nun eine unabhängige Arbeiterpartei gründen, mehrere andere COSATU-Gewerkschaften wollen sich ihrer Initiative anschließen.

In den durch andauernde Streiks betroffenen Platinbergwerken westlich von Johannesburg hat sich derweil eine unabhängige neue Gewerkschaft gebildet, die AMCU (Vereinigung der Berg- und Bauarbeitergewerkschaft), die mit ihren Forderungen Tausende Mitglieder angelockt hat. An Einfluss verloren hat dabei die Nationale Bergarbeitergewerkschaft NUM, die zu COSATU gehört. Als Mitte 2012 bei einem AMCU-Streik 38 Arbeiter erschossen wurden, sollen nicht nur Polizisten, sondern auch NUM-Vertreter das Feuer eröffnet haben. Eine Untersuchungskommission zu dem Vorfall hat ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen.

Der ANC ist eine rassistische Partei

Nein – das ist weit übertrieben. Die Organisation hat sich jahrzehntelang für eine nichtrassistische Gesellschaft eingesetzt und stets Mitglieder aller Ethnien zugelassen. Allerdings bestimmen Fragen der Rasse und Ethnie nach wie vor das politische Verhalten fast aller Südafrikaner, inklusive des ANC, der etwa die liberale DA als „Dienstboten des weißen Kapitals“ verunglimpft.

Tatsächlich findet die DA vorwiegend unter Weißen und ethnisch gemischten Südafrikanern Anhänger. Das hat ihr zur Vorherrschaft in der Provinz Westkap verholfen, wo Schwarze noch in der Minderheit sind. Die Partei hofft, mit der Zeit auch in der wachsenden schwarzen Mittelklasse Wähler zu finden. Ethnisch definierte Parteien wie die Inkatha-Freiheitspartei von Zuluhäuptling Mangosuthu Buthelezi oder die Vereinigte Demokratische Bewegung des Xhosa-Führers Bantu Holomisa werden fast ausschließlich in ihren Heimatregionen gewählt.

Auch im ANC spielt ethnische Zugehörigkeit eine wichtige Rolle – wenngleich die Partei immer auf Ausgewogenheit bedacht war. Wer allerdings in Südafrika eine regionale politische Basis hat, hat automatisch auch eine ethnische Basis – das Land kennt elf offizielle Sprachen. So wurde der ANC zu Zeiten, als Nelson Mandela, Thabo Mbeki und der langjährige ANC-Präsident Oliver Tambo aus der Provinz Ostkap tonangebend waren, nicht selten als „Xhosa-Partei“ beschimpft. Das hat sich geändert, seit Jacob Zuma die Partei führt: Er beruft sich stolz auf seine Zulu-Tradition. Nun wird gern auf die „Zulufizierung“ der Partei hingewiesen, denn der Präsident hat im Laufe der Zeit Verbündete aus seiner Region an viele Schlüsselstellen des Machtapparats gesetzt.

In den vergangenen Monaten hat Thabo Mbeki immer wieder davor gewarnt, dass der „Tribalismus“ den inneren Frieden des ANC bedrohe – ohne dabei Zuma beim Namen zu nennen. Tatsächlich ist ein gewisses Unbehagen unter Vertretern anderer Regionen und Stämme zu spüren; ein Unbehagen, das die Flügelkämpfe in der Partei weiter schüren könnte.

Für die Jugend ist der ANC nicht mehr attraktiv

Stimmt. Und Südafrika hat eine junge Gesellschaft: 40 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Gerade unter Jugendlichen ist das Unruhepotenzial erheblich. Die Schulen sind auch nach 20-jährigen ANC-Bemühungen oft katastrophal schlecht, sodass Schüler kaum auf die Arbeitswelt vorbereitet werden. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen liegt bei rund 50 Prozent. Bei der nun anstehenden Wahl werden zum ersten Mal die so genannten „Born Frees“ wählen dürfen, jene Südafrikaner, die nach 1994 in Freiheit geboren wurden. Sie kennen die Apartheid nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und haben nie eine andere Regierungspartei als den ANC erlebt.

Allerdings zeigen Umfragen, dass das politische Interesse dieser jungen Generation eher gering ausgeprägt ist. Zwar haben sich Millionen junge Erwachsene als Wähler registriert, aber viele von ihnen sind der Ansicht, dass die etablierten Parteien und Politiker nicht wählbar sind. Sichtbaren Zulauf unter Jugendlichen hat vor allem Julius Malemas EFF-Partei. Mit frechen Sprüchen, roten T-Shirts und roten Baskenmützen geben sich die „Freiheitskämpfer“ besonders cool – selbst im Einkaufszentrum am Wochenende kann man Gruppen von uniformierten EFF-Jugendlichen beobachten. Unerheblich scheint dabei zu sein, dass gegen Malema selbst mehrere Verfahren wegen Steuerhinterziehung und Korruption laufen und er demonstrativ weiter einen luxuriösen Lebensstil pflegt.

Die ANC-Jugendorganisation ANCYL hingegen ist zusammengebrochen, seit Malema 2012 aus der Partei geworfen wurde. Er hinterließ der Jugendliga Schulden in Millionenhöhe, sodass sie Insolvenz anmelden musste. Insolvenzverwalter fanden gar keine Vermögenswerte bei der ANCYL. Wohin sie verschwunden waren, konnte nicht festgestellt werden. Sollte sich die Suche auf die Mutterpartei selbst ausdehnen, könnte das für den ANC peinlich werden.

Unter Jugendlichen spielt die Tradition des heldenhaften ANC-Kampfes gegen die weißen Unterdrücker keine allzu große Rolle. Sie könnten der Partei schnell den Rücken kehren. Für Millionen älterer Südafrikaner ist es trotz aller Skandale noch immer fast undenkbar, den ANC nicht zu wählen – das käme einem Verrat gleich. Allerdings fehlt jetzt der „Mandela-Faktor“: Mit dem Tod von Nelson Mandela ist eine Ära zu Ende gegangen. Eine Stimme gegen den Afrikanischen Nationalkongress ist nicht mehr eine Stimme gegen Mandela; das erleichtert auch traditionellen Anhängern der Partei den Wechsel. Südafrikas Parteienlandschaft kommt in Bewegung. Für den ANC ist das keine gute Nachricht.

Hans Brandt ist Redakteur des Tages-Anzeigers in Zürich.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2014, S.66 - 71

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