Der selbstverliebte Hegemon
Die USA und der Traum von einer unipolaren Welt
Der von den Vereinigten Staaten, Großbritannien und anderen ohne Legitimierung durch das UN-System gegen Irak geführte Krieg hat auch die Grundfesten der bisher geltenden Völkerrechtsordnung erschüttert. Für den Berliner Völkerrechtler Christian Tomuschat manifestiert sich darin das Bestreben der USA, „aus dem internationalen Kooperationsverbund auszuscheiden und das außenpolitische Handeln nach eigenem Gutdünken zu gestalten“.
Der Krieg gegen Irak hat nicht nur die Überlegenheit der amerikanischen Militärtechnologie gezeigt, sondern auch die Grundfesten der bisher geltenden Völkerrechtsordnung erschüttert. In der Charta der Vereinten Nationen, der Verfassung der internationalen Gemeinschaft, heißt es sogleich in der wegweisenden Bestimmung des Art. 2 Abs. 1, dass die Weltorganisation auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder beruhe. Diese Grundnorm wird in derselben Bestimmung durch zwei weitere Regeln abgesichert. Alle internationalen Streitigkeiten sind friedlich beizulegen (Art. 2 Abs. 3), und folgerichtig statuiert die UN-Charta ein umfassendes Gewaltverbot (Art. 2 Abs.4), ohne das die Selbstbestimmungsmacht der kleinen Nationen nur eine substanzlose juristische Fiktion wäre. Plötzlich scheint dies alles nicht mehr zu gelten. Der Feldzug gegen Irak ist von den Vereinigten Staaten und Großbritannien ohne Legitimierung durch das UN-System geführt worden.
Für manche Beobachter ist damit ein neues Zeitalter angebrochen: das der amerikanischen Hegemonie. In seinem großen Werk „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“1 hat Wilhelm G. Grewe, Diplomat und Völkerrechtsjurist, die Neuzeit nach Abschnitten eingeteilt, in denen jeweils eine westliche Macht einen bestimmenden Einfluss ausübte. Ein „spanisches Zeitalter“ setzt er mit der Epoche von der Entdeckung Amerikas bis zum Westfälischen Frieden an (1492–1648), diesem lässt er ein ebenfalls rund anderthalb Jahrhunderte dauerndes „französisches Zeitalter“ folgen, das mit dem Wiener Kongress von 1815 enden soll, und eine Dominanz Großbritanniens erkennt er mit der Charakterisierung der Jahre von 1815 bis 1919 als „englisches Zeitalter“ an. Für das 20. Jahrhundert ab den Pariser Vorortverträgen tut sich Grewe schwerer mit einer Zuordnung.
Für die Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs spricht er von einem „bipolaren Weltsystem der Supermächte“ und stellt – in den achtziger Jahren – fest, dass aus jenem Krieg kein amerikanisches Jahrhundert hervorgegangen sei. Nach dem Niedergang der Sowjetunion kann heute nicht mehr von einer bipolaren Welt gesprochen werden. Faktisch gesehen sind die USA nun die Weltmacht Nummer eins und nicht mehr nur „second to none“ – obwohl diese Einschätzung keineswegs mit Unverwundbarkeit gleichzusetzen ist. Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 haben gezeigt, dass die USA auch auf eigenem Boden angegriffen werden können, und die hochgradige Abhängigkeit von Rohölzufuhren aus dem Ausland stellt die Vormachtposition unter einen strukturellen Vorbehalt.
Gewaltverbot
Vielleicht wäre die Schlussfolgerung, dass sich das neue Koordinatensystem der faktischen Machtverhältnisse auch in die rechtliche Dimension hinein verlängern werde, als voreilig zu bewerten, wenn sich die bewaffnete Intervention der anglo-amerikanischen Koalition in Irak in den Bahnen des geltenden Rechtes bewegt hätte. Gewaltverbot bedeutet ja nicht völlige Gewaltlosigkeit, sondern nur ein Verbot der illegitimen Gewalt. Jeder Staat hat nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen das Recht der Selbstverteidigung, und auch der Sicherheitsrat kann eine Ermächtigung zum Einsatz militärischer Zwangsgewalt erteilen; in der Kosovo-Krise ist es überdies angesichts von Völkermord und Massenvertreibung zu einer Wiederbelebung der nur durch eine Güterabwägung zu rechtfertigenden humanitären Intervention gekommen.
In der Tat haben sich die USA wie auch Großbritannien auf die beiden von der UN-Charta ausdrücklich geregelten Ausnahmetatbestände berufen. Freilich erscheint diesbezüglich Skepsis angebracht. Aufschlussreich ist allein schon die Tatsache, dass die beiden Verbündeten jetzt selbst in ihren offiziellen Stellungnahmen unterschiedliche Argumentationslinien verfolgen, ganz abgesehen von den argumentativen Wechselbädern, denen der Beobachter der amerikanischen Szenerie zuvor ausgesetzt war.
In ihrem Schreiben vom 21. März 2003 an den Präsidenten des Sicherheitsrats, mit dem offiziell der Beginn der Feindseligkeiten mitgeteilt wird, begründen die USA ihr Vorgehen u.a. mit der Notwendigkeit, angesichts der in Irak vorhandenen Massenvernichtungswaffen „die Vereinigten Staaten und die internationale Gemeinschaft gegen die vom Irak ausgehende Bedrohung zu verteidigen und den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in der Region wiederherzustellen“. Dies ist eine, wenn nicht ganz explizite, so doch erkennbare Berufung auf ein Recht der Selbstverteidigung.
Mit den anerkannten Regeln über den Inhalt des Rechtes der Selbstverteidigung hat dies alles jedoch nicht viel zu tun. Die UN-Charta macht den Waffeneinsatz zu Verteidigungszwecken bewusst davon abhängig, dass ein bewaffneter Angriff tatsächlich stattgefunden hat. Man darf zwar an diesem Wortlaut nicht sklavisch haften. In der völkerrechtlichen Literatur ist auf Grund der internationalen Praxis weithin unbestritten, dass es Extremsituationen geben kann, wo einem Staat angesichts der Aufrüstung eines Nachbarn für einen bewaffneten Überfall nicht länger zugemutet werden kann, still abzuwarten, bis der potenzielle Aggressor seinen Angriffsplan tatsächlich verwirklicht. Israel befand sich im Jahre 1967 vor dem Sechstagekrieg in einer solchen Situation. Demgemäß stellt auch die Aggressionsdefinition der Generalversammlung2 ausdrücklich fest (Art. 2), dass der erste Schuss lediglich einen Beweis des ersten Anscheins liefere.
Von einer solchen unmittelbar drohenden Gefahr konnte im Falle Iraks nicht die Rede sein. Ein vielköpfiges Inspektionsteam der UN befand sich im Lande. Alle in Betracht kommenden Einrichtungen konnten ohne Behinderung durchsucht werden. Irak war es gar nicht möglich, irgendwelche Vorbereitungen für einen Angriffskrieg zu treffen. Die Schlagkraft seiner Armee war seit der Niederlage im Jahr 1991 entscheidend geschwächt und hatte vor allem angesichts der durch die internationale Gemeinschaft verhängten Embargomaßnahmen nicht auf das frühere Niveau zurückgeführt werden können. Die Existenz von Massenvernichtungswaffen wurde lediglich vermutet; wenn Irak überhaupt einzelne Bestände solcher Waffen zu seiner Verfügung hatte, so waren sie, was sich nach dem Ende des Krieges mit guten Gründen vermuten lässt, jedenfalls nicht in einsatzfähiger Form vorhanden.
Wenn selbst der eher vage Verdacht, dass ein Land eines Tages zu einer konkreten Gefahr für den Weltfrieden werden könnte, eine Rechtfertigung für bewaffnetes Vorgehen zum Zwecke der „Selbstverteidigung“ liefern soll, findet sich der Weltfrieden ernsthaft bedroht. Kein Land wird sich noch darauf verlassen können, dass es vor Angriffen von außen jedenfalls im Rechtssinne dann geschützt ist, wenn es sich rechtstreu verhält. Im Kalten Krieg standen sich die USA und die Sowjetunion bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. In den Generalstäben beider Seiten wurden ständig Angriffsszenarien durchgespielt. Wie sie in ihrer neuen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vom 17. September 2002 ausdrücklich verlautbart haben, würden die USA heute in einer Situation, wo ihre militärische Überlegenheit ernsthaft bedroht erscheint, vor einem Präventivschlag nicht zurückschrecken. Offenbar bewusst vermeidet es jenes Dokument, auch nur mit einem Wort das System der Vereinten Nationen mit dem Sicherheitsrat zu erwähnen. Das Vorgehen gegen Irak darf also keineswegs als eine einmalige Erscheinung gewertet werden. Im Gegenteil stellt es die folgerichtige Umsetzung einer neuen Richtung der amerikanischen Politik dar.
Auch die von den USA an erster Stelle genannte und von Großbritannien ausschließlich verwendete Argumentation, eine Rechtfertigung lasse sich aus den bisher vom Sicherheitsrat erlassenen Resolutionen herauslesen, erweist sich bei genauerer Analyse als wenig tragfähig. Die berühmte Resolution 678 aus dem Jahre 1990, mit der die Ermächtigung erteilt wurde, „alle notwendigen Mittel“ zur Befreiung Kuwaits und zur Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit in der Region einzusetzen, ist im Hinblick auf den Adressatenkreis genau bestimmt: sie richtet sich an die um das Aggressionsopfer Kuwait gescharte Koalition.
Im Übrigen war sie durch die Waffenstillstandsresolution 687 von 1991 überholt, die vom Sicherheitsrat nie widerrufen worden ist. Es trifft zu, dass Irak ganz offensichtlich seine Abrüstungsverpflichtungen nicht in der gebotenen Weise erfüllt hatte. Dies hat der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1441 vom 8. November 2002 zu Recht ausdrücklich festgestellt. Aber gerade diese Resolution, die nach langen und schwierigen Verhandlungen zustande gekommen ist, enthält in ihrem Text keine Ermächtigung zur Gewaltanwendung. Irak wird in Absatz 2 eine „letzte Chance“ eingeräumt, seinen Verpflichtungen nachzukommen, und in Absatz 13 ist von „ernsthaften Konsequenzen“ die Rede, falls das Land weiterhin diese Verpflichtungen verletzt. Aber gerade über diese „ernsthaften Konsequenzen“ hätte der Sicherheitsrat in einer neuen Resolution Beschluss fassen müssen. Ihm ist die Hauptverantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufgetragen, und diese Verantwortung muss er schon aus Gründen der Rechtsklarheit deutlich und unmissverständlich wahrnehmen.
Bei Anwendung lauterer Interpretationsmethoden kann nichts in die Resolution 1441 hineingelesen werden, was sie gerade nicht sagt. Bekannt ist aus der Entstehungsgeschichte, dass die USA über Wochen hinweg versuchten, Konsens für eine Klausel zu erreichen, derzufolge jedes der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder befugt gewesen wäre, im Falle weiterer irakischer Pflichtverletzungen einseitig Gewalt anzuwenden. Dies gelang ihnen indes nicht – verständlicherweise, da ja nach der Gesamtanlage der UN-Charta der Sicherheitsrat – und nicht einzelne seiner Mitglieder – über Fragen von Krieg und Frieden zu entscheiden hat. Auch haben im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Resolution 1441 China, Frankreich und Russland, also die drei „unwilligen“ ständigen Mitglieder des Rates, in einer Note erklärt, dass in dem verabschiedeten Text eine Ermächtigung zur Gewaltanwendung nicht gesehen werden dürfe.
Völkerrecht und Krieg
An der Völkerrechtswidrigkeit des von der westlichen Allianz unter Führung der USA geführten Feldzugs gegen Irak lässt sich also wenig deuteln. Die angemaßte Befugnis zur einseitigen Entscheidung über Krieg und Frieden fügt sich in eine ganze Reihe weiterer Entscheidungen namentlich der Regierung von George W. Bush ein, aus dem internationalen Kooperationsverbund auszuscheiden und das außenpolitische Handeln nach eigenem Gutdünken zu gestalten.
Am meisten Aufsehen hat in der Öffentlichkeit die Weigerung erregt, das am 1. Juli 2002 in Kraft getretene Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs mitzutragen. Nicht nur hat die Bush-Regierung die von Präsident Bill Clinton am letzten Tag seiner Amtszeit geleistete – noch unverbindliche – Unterschrift im Mai 2002 wieder zurückgezogen, sondern sich geradezu in einen Rausch des Kampfes gegen diese Institution hineingesteigert: der Kongress verabschiedete auf ihr Drängen das Gesetz zum Schutz amerikanischer Streitkräfte,3 das den Vertragsparteien des Statuts Sanktionen androht und wegen seiner den amerikanischen Streitkräften erteilten Ermächtigung, zur Befreiung angeklagter amerikanischer Staatsangehöriger gegebenenfalls auch Gewalt anzuwenden, sarkastisch als „Hague Invasion Act“ bezeichnet worden ist. Gegenwärtig verhandeln die USA mit einer Vielzahl von Staaten über den Abschluss bilateraler Abkommen, mit denen die gegenseitige Verpflichtung begründet werden soll, niemanden dem Strafgerichtshof zu überstellen. Im Sicherheitsrat haben sie mit der Drohung, die Genehmigung neuer Blauhelmeinsätze zu blockieren, im Juli 2002 einen förmlichen Beschluss durchsetzen können, der alle Angehörigen einer UN-Operation aus Nichtmitgliedstaaten des Statuts jedenfalls für die Dauer eines Jahres von der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs ausnimmt.4 Allgemein bekannt ist ferner die Weigerung, sich dem Kyoto-Protokoll zur Reduzierung der Treibhausgase aus dem Jahr 1997 anzuschließen oder das Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen5 zu akzeptieren.
Vielleicht noch beängstigender sind die Defizite und Rechtsverstöße auf dem Gebiet der Menschenrechte. Die USA haben zwar nach langem Zögern 1992 den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert, aber sogleich festgelegt, dass dieser innerstaatlich nicht zur Anwendung kommt. Kein Bürger der USA kann sich also in einem innerstaatlichen Verfahren auf den Pakt berufen. Dies beeinträchtigt zwar nicht die völkerrechtliche Bindung, bedeutet aber in der Praxis eine Marginalisierung fast bis zur Bedeutungslosigkeit. Dies haben nicht zuletzt die auf dem amerikanischen Militärstützpunkt Guantánamo gefangen gehaltenen Taliban-Kämpfer zu spüren bekommen, denen unter Missachtung der Gewährleistungen des Paktes wie auch der Dritten Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen6 jeglicher gerichtliche Rechtsschutz vorenthalten wird.
Auf einer ähnlichen Linie liegt es, wenn die USA in den Vereinten Nationen gegen die Annahme eines Zusatzprotokolls zur Antifolterkonvention aus dem Jahr 1984 kämpfen. Dieses Protokoll sieht die Einführung eines Kontrollsystems vor, wonach von einem besonderen Expertenausschuss jegliche Institution besichtigt werden darf, wo Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden. Bei der Schlussabstimmung in der Generalversammlung am 18. Dezember 2002 befanden die USA sich schließlich mit ihrem Nein allein in der Gesellschaft Nigerias, der Marshall-Inseln und Palaus.
Erinnert werden darf auch an die Vorgänge im Fall LaGrand. Die beiden Brüder, Karl und Walter LaGrand, in den USA aufgewachsene deutsche Staatsangehörige, waren dort wegen einer Reihe schwerwiegender Verbrechen zum Tode verurteilt worden. Der Verfahrensmangel bestand darin, dass die deutschen Konsularbehörden entgegen dem Wiener Konsularübereinkommen nicht rechtzeitig benachrichtigt worden waren und demzufolge keine Rechtshilfe leisten konnten. Eine einstweilige Anordnung, die der Internationale Gerichtshof (IGH) in letzter Minute am 3. März 1999 erließ, wurde von der Gouverneurin des Staates Arizona, Jane Hull, in einer Mischung aus Ignoranz und Arroganz missachtet; aber auch der Supreme Court, der mit der Sache befasst war, zeigte für das Argument der völkerrechtlichen Verpflichtung der USA wenig Verständnis. In seinem späteren Urteil zur Hauptsache vom 27. Juni 2001 bezeichnete der IGH die dennoch erfolgte Hinrichtung als einen Bruch des Völkerrechts. Durch dieses Urteil ermutigt, hat jetzt Mexiko zahlreiche ähnliche Fälle vor den IGH gebracht.
Vielleicht ist es zu früh, die vielfältigen Einzelphänomene zu der allgemeinen Aussage zu verdichten, dass die USA zwar einerseits zu ihren Gunsten die Vorteile der Bindungen des Völkerrechts für sich in Anspruch nähmen, ihrerseits aber jegliche rechtliche Bindung unter einen Vorbehalt der politischen Zweckmäßigkeit stellten – wie sie es seit langem mit ihren Beitragszahlungen an die Vereinten Nationen getan haben. Eine rechtliche Ordnung kann aus solcher Disparität jedenfalls nicht erwachsen. Kein Land ist in der Lage, durch einseitiges Handeln die von ihm gewünschten Ergebnisse in Rechtspositionen umzuformen. Das völkerrechtliche Gewaltverbot fällt nicht allein deswegen schon, weil es durch den Krieg gegen Irak und auch schon bei früheren Gelegenheiten (insbesondere: Invasion von Panama zur Festnahme des De-facto-Staatschefs Manuel Noriega) verletzt worden ist. So kommt die dahingehende These des amerikanischen Völkerrechtsprofessors Michael J. Glennon7 als verfrühte Todesanzeige daher. Wie das Werk von Grewe belegt, hat das Völkerrecht zwar in der Tat fast durchgängig unter dem Einfluss führender Mächte gestanden, ist aber immer auf den Konsens der übrigen Mitglieder der internationalen Gemeinschaft angewiesen gewesen. Es bildet ein System gegenseitiger Anerkennung von Rechten und Pflichten und nicht einseitiger Machtansprüche. Dadurch gewinnt es seine Verlässlichkeit und seinen Nutzen für die internationale Gemeinschaft als Werkzeug für die Gestaltung der internationalen Beziehungen. Ergebnisse bloßer Machtpolitik hingegen werden aufgekündigt, sobald sich die Machtlage verschiebt.
Neue Regeln?
Mit der bloßen Feststellung eines negativen Befunds kann es freilich nicht sein Bewenden haben. Die Frage ist zu stellen, ob es nicht angesichts der angeblich „neuen“ Gefahren auch neuer, besserer Regeln bedarf. Neu sind nicht die durch die Art der Waffen gegebenen Bedrohungen. Chemische Waffen wurden – von deutscher Seite zuerst – schon im Ersten Weltkrieg eingesetzt, und das Chemiewaffen-Übereinkommen von 1993 mit seinem Verbot der Herstellung, Lagerung und des Einsatzes von Chemiewaffen hat nach wie vor zahlreiche Lücken im Kreis der Vertragstaaten. Unter dem Schatten eines Atompilzes lebt die Welt seit dem Jahr 1945, und dem Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen von 1972 fehlt ein effektives Inspektionssystem. Nicht zuletzt die USA und Russland stehen in dem Verdacht, nach wie vor Programme zur Erforschung biologischer Kampfstoffe voranzutreiben. Neu ist lediglich die nach dem 11. September 2001 zum Allgemeingut gewordene Einsicht, dass solche Waffen auch in die Hände terroristischer Gruppen geraten können, die auf dem Boden von „Schurkenstaaten“ oder von „gescheiterten oder scheiternden Staaten“ eine Planungszentrale und Operationsbasis gefunden haben. Es steht außer Zweifel, dass gerade zerfallende oder gescheiterte Staaten sich als ideales Rückzugsgebiet für solche Gruppen eignen. 1945 gab man sich der nicht unbegründeten Hoffnung hin, dass nach dem Ende des Kolonialregimes der gesamte Erdball von souveränen Staaten besetzt sein würde, die jeweils innerhalb ihres eigenen Gebiets für die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und öffentlicher Ordnung sorgen würden. Diese Hoffnung ist zerstoben. Man weiß spätestens jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass mit der Niederringung des Dritten Reiches das Böse in der Welt nicht endgültig besiegt worden ist.
Der von der Regierung Bush verfochtenen These von der Notwendigkeit einseitigen Handelns zur Bekämpfung solcher Gefahrenlagen steht die in der UN-Charta zu Rechtsnormen verdichtete These gegenüber, dass dies Aufgabe des Sicherheitsrats sei. Die Charta versucht, das Recht der Selbstverteidigung zurückzudrängen, indem sie grundsätzlich den einzelnen Staat anhält, seine militärischen Verteidigungsmittel erst dann einzusetzen, wenn er tatsächlich das Opfer bewaffneter Gewalt geworden ist. Dem Sicherheitsrat hat die Charta hingegen eine präventive Funktion zugedacht. Ihm obliegt es nach Art.39, auch schon bloßen Bedrohungen des Friedens entgegenzutreten.
Die vorbeugende Bekämpfung von Gefahren soll Sache der gesamten internationalen Gemeinschaft sein, für die der Sicherheitsrat als das berufene Organ handelt. Es fehlt also nicht an einem geeigneten Verfahren, und es lässt sich auch keineswegs behaupten, dass es den Verfassern der UN-Charta an vorausschauender Vorstellungskraft gemangelt hätte. Wenn also Defizite behauptet werden, so muss in erster Linie der Blick auf den Sicherheitsrat gerichtet werden. Seit dem großen Umbruch des Jahres 1990 hat der Rat an Statur gewonnen. Vor allem nach dem Überfall Iraks auf Kuwait hat er seine Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Fast blitzartig ist es ihm auch gelungen, nach dem Ende der NATO-Angriffe gegen Jugoslawien eine Statusregelung für Kosovo zu schaffen.8 Dennoch muss die Frage gestellt werden, ob seine Zusammensetzung und sein Verfahren noch den Anforderungen der Gegenwart entsprechen.
Reformdebatte
Die Debatte über die Reform des Sicherheitsrats läuft in den Vereinten Nationen schon seit vielen Jahren. Kenner halten sie für festgefahren und aussichtslos. Bisher hat man stets über eine Ausweitung der Mitgliederzahl gesprochen, um nach dem zahlenmäßigen Anwachsen der Entwicklungsländer eine bessere Repräsentativität zu erreichen und damit den Resolutionen eine bessere Akzeptanz zu verschaffen. Nach den Schwierigkeiten, eine Irak-Resolution zustande zu bringen, dürfte einstweilen eine Erhöhung der Mitgliederzahl jedenfalls bei dem ständigen Mitglied USA, ohne dessen Zustimmung eine Reform nicht beschlossen werden kann, jedweden Rückhalt verloren haben. Die Vereinigten Staaten werden nach ihren Erfahrungen mit dem nichtständigen Mitglied Deutschland im Sicherheitsrat auch nicht mehr bereit sein, Deutschland einen ständigen Sitz einzuräumen. Die entscheidende Frage mag sich genau in die umgekehrte Richtung entwickeln, ob nämlich im Interesse der Handlungsfähigkeit des Rates die Zahl der Mitglieder zu verkleinern ist. Zu den jetzigen fünf ständigen Mitgliedern könnten etwa Sprecher aus den anderen Weltregionen hinzutreten.
Es liegt auf der Hand, dass auch eine solche Option schwer – oder möglicherweise überhaupt nicht – zu verwirklichen wäre. Erworbene Besitzstände werden niemals ohne Not aufgegeben. Das entscheidende Hindernis für eine bessere Handlungsfähigkeit des Rates ist vielleicht auch nicht so sehr die Zahl seiner Mitglieder als vielmehr das Vetorecht der ständigen Fünf. Wie aber sollte oder könnte eine Neuordnung aussehen? Lange war von der Umwandlung der Sitze Frankreichs und Großbritanniens in einen Sitz der Europäischen Union die Rede. Der Weg dahin – immer nur ein theoretisches Konstrukt – ist jetzt auf unabsehbare Zeit versperrt. China und Russland andererseits sind Mächte, deren Vetorecht politisch gesehen als unverrückbar gelten muss. Unter keinen Umständen würden die beiden Länder die von ihnen gehaltene Rechtsstellung aufgeben. Rechtspolitisch betrachtet wäre es auch wenig sinnvoll, ihnen ein Vetorecht zu versagen, da sie beide nach wie vor Machtblöcke in der Weltpolitik darstellen, an denen nicht vorbeizukommen ist. Entscheidungen des Sicherheitsrats müssen Entscheidungen der internationalen Gemeinschaft sein, da sie nur so über die notwendige Legitimität verfügen und damit auch die Eignung gewinnen, ohne Gewaltanwendung befolgt zu werden.
Es ist verständlich, dass die USA Einwände und Widersprüche der anderen ständigen Mitglieder als störend und hinderlich empfinden. Aber es stellt ein grundlegendes Missverständnis dar, wenn etwa Präsident Bush mehrfach äußerte, der Sicherheitsrat müsse die ihm vorliegenden amerikanischen Vorschläge annehmen, falls er sich nicht selbst „irrelevant“ machen wolle. Jeder kollektiven Entscheidung geht ein komplexer Willensbildungsprozess voraus, und alle Parteien müssen bereit sein, den Argumenten der Gegenseite zumindest Gehör zu schenken und gegebenenfalls auch Abstriche von der eigenen Position zu machen. So sollten die Erfahrungen der vergangenen Monate allgemein zu der Einsicht führen, dass die Mitgliedschaft im Rat mit einer institutionellen Verantwortlichkeit gegenüber der internationalen Gemeinschaft einhergeht. Jedes Mitglied im Rat, sowohl die ständigen wie die nichtständigen Mitglieder, muss sich offen halten für Einsichten und Erkenntnisse, die in dem Verhandlungsprozess über eine Krisenlage schrittweise gewonnen werden. Ultimaten und Vorfestlegungen sind grundsätzlich mit jener institutionellen Verantwortlichkeit unvereinbar.
Nach dem Wunschbild der unipolaren Welt, wie es von den USA verfolgt wird, würden jedenfalls in Sachen Krieg und Frieden die einzigen von Rechts wegen bestehenden Kontrollen die internen demokratischen Verfahren des Staatswesens USA bilden. Es liegt auf der Hand, dass sich die internationale Gemeinschaft damit nicht zufrieden geben kann. So eindrucksvoll die Bilanz der USA teilweise auch auf außenpolitischem Gebiet aussehen mag – die Befreiung Europas von der Nazidiktatur wird niemals vergessen –, so düster sind doch andererseits auch die Schatten, die die Zeit des Kalten Krieges auf das Renommee der Weltmacht geworfen hat. Um den befürchteten Vormarsch des Kommunismus aufzuhalten, wurde vor allem in Lateinamerika bedenkenlos jede militärische Gewaltherrschaft unterstützt. Als Sendboten und Verfechter der Demokratie werden die USA deswegen kaum irgendwo in der Welt akzeptiert. So wird es keine neue hegemoniale Weltordnung geben, allenfalls einen hegemonialen Machtzustand.
Die USA sollten sich der Tatsache bewusst werden, dass sie letztlich sehr viel effektiver im Rahmen und im Einklang mit den Verfahren der internationalen Gemeinschaft zu handeln vermögen als im Alleingang. Über den Sicherheitsrat können sie in der gegenwärtigen Weltlage fast alles erreichen, was ihnen an legitimen politischen Zielen vorschwebt. „Soft power“ ist wirkungsvoller als „hard power“. Der Rückfall in die Verhaltensmuster des Unilateralismus erscheint eher als Reaktion einer alternden Großmacht, die ihre Stellung in der Welt bedroht sieht und dabei übersieht, welche Kräfte mit den Verfahren des Multilateralismus aktiviert werden können. Auf der anderen Seite braucht auch die internationale Gemeinschaft die aktive Mitarbeit der USA. Beide sind aufeinander angewiesen. Die Politik der Europäer sollte gezielt darauf hinarbeiten, dass diese elementare Einsicht von beiden Seiten verstanden wird.
Anmerkungen
1 Vgl. Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1988.
2 Vgl. Resolution 3314 (XXIX) des UN-Sicherheitsrats, 14.12.1974.
3 American Servicemembers’ Protection Act 2002, H.R. 4775, vom 30.9.2002, über: <http://thomas.loc.gov/>.
4 Vgl. Resolution 1422 des UN-Sicherheitsrats, 12.7.2002.
5 Vgl. Bundesgesetzblatt, 4.12.1997, BGBl. 1998 II, S. 778.
6 Vgl. Bundesgesetzblatt, 12.8.1949, BGBl. 1954 II, S. 838.
7 Vgl. Michael J. Glennon, The rule of law is breaking down, in: International Herald Tribune, 22.11.2002.
8 Vgl. Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats, 10.6.1999.
Internationale Politik 5, Mai 2003, S. 39 - 47