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01. Febr. 2008

Boshafte Sieger

Aufmüpfige Jugend? Der Generationenkonflikt wurde längst von den Alten entschieden. Doch eine Gesellschaft, die ihre Kinder verstößt, hat keine Zukunft

Es ist seltsam, wie wenig die großen Inszenierungen von Schillers „Wallenstein“, die im letzten Jahr das deutschsprachige Theater beherrschten, den Bezug zu gegenwärtigem Kriegsgeschehen gesucht haben. Warum wurden sie überhaupt aufgeführt? Weder in Berlin noch in Wien wurde von der gewaltigen Desillusionierungsmaschinerie, als die Schiller den Krieg schildert, auch nur der geringste Schluss auf das Debakel des Irak-Krieges oder anderer Interventionen gezogen. Dabei hätte sich dem „Wallenstein“ mühelos abnehmen lassen, wie es kommt, dass von einer humanitären Absicht schon im Laufe des Einsatzes nichts und weniger als nichts übrig bleibt. Dass die Logik des Krieges sich gegen jede moralische Logik, am Ende überhaupt gegen alle konkurrierende Logik, auch die von Politik und Macht, durchsetzt und nur noch Überleben oder Sterben kennt, das hat niemand so übersichtlich vorgeführt wie Schiller.

Er wäre nicht der große Pathetiker, der er ist, wenn er nicht zum erschütternden Beispiel die Liebe zweier junger Menschen gewählt hätte: Auch von der glühenden Leidenschaft Theklas und Maxens bleibt, nachdem der Krieg durch sie gegangen ist, nichts übrig. Für einen Idealisten wie Schiller bedeutete diese Pointe die äußerst denkbare Ernüchterung. Doch müsste die Nachricht auch unsere, am erbaulichen Fernsehkitsch trainierte Gegenwart schwer verdrießen, dass selbst die Jugend und die Liebe nicht gegen den Krieg bestehen können. Oder etwa nicht? Die Vorsicht, mit der sich die „Wallenstein“-Inszenierungen von Peter Stein und Thomas Langhoff jeder nahe liegenden Aktualisierung enthielten, gibt auch in diesem Punkt zu denken. Vielleicht setzen sie die Desillusionierung über jeden Krieg schon voraus. Vielleicht aber erwarten sie auch von der Liebe und der Jugend nicht viel, jedenfalls nicht mehr als ein Liebeserlebnis, das nun einmal auch schlecht ausgehen kann.

Damit wäre freilich nicht nur der Zugang zu Schiller, sondern zu einem bedeutenden Teil jenes Lebensgefühls verschüttet, aus dem für lange Zeit Literatur geschöpft wurde. Von Goethes „Werther“ bis Hebbels „Maria Magdalena“ und noch weit darüber hinaus in unsere jüngere Kinovergangenheit ist es stets das junge Liebespaar, an dessen Schicksal sich die Güte oder eben Bosheit der Gesellschaft erweist. Wo Jugend keinen Platz hat, wo sie behindert, erstickt oder vernichtet wird, kann keine Zukunft sein, und wo sich die Welt nicht mehr zur Zukunft öffnet, bleibt nur noch der Tod.

Dies war der große, vielleicht romantische Konsens von gut und gerne 200 bis 300 Jahren Literatur. Und heute? Wenn wir nicht unterstellen, dass unterdes Krieg und Sterben aufgewertet wurden, dann bleibt zur Erklärung der Gleichgültigkeit des deutschen Theaters gegenüber Thekla und Max nur: dass Liebe, vor allem aber Jugend nicht mehr viel bedeuten. Dass sich im „Wallenstein“ überall und gegen alles die Macht der Alten durchsetzt und schließlich dem Tod zum Sieg verhilft, scheint die schreckliche Pointe nicht mehr zu sein, die noch Turgenjew an Schillers Stück so entsetzte.

Und tatsächlich spricht manches dafür, dass der alternden Gesellschaft in Deutschland die Sorge um die Jugend verloren gegangen ist, jedenfalls die Sorge um Glück und Zukunft der Jugend. Anders verhält es sich mit der Sorge um ihr Störpotenzial: Es gibt wohl keinen Moment bei Tag und Nacht, in der die Öffentlichkeit nicht verzweifelt über Unbildung, Faulheit, Chancenlosigkeit und Gewalttätigkeit der Jugend nachdenkt und obendrein darüber, dass diese Jugend auch noch die Frechheit hat, zu schwinden. Sie ist sozusagen nicht nur in Schule und am Ausbildungsplatz ein Ärgernis, sondern auch in der Bevölkerungsstatistik.

Es bedarf wenig Fantasie, um vorauszusehen, dass eine Gesellschaft, die sich vor ihrer eigenen Jugend fürchtet, dem Tode anheim gegeben, jedenfalls schwer krank ist. Und doch wundert sich niemand darüber, ruft keiner nach Schutz und Aufmunterung des verabscheuten Nachwuchses. Überall ist die Jugend nur als Problem für die Alten präsent; nirgends wird von dem Problem gesprochen, das die Alten, und zwar selbst in ihrer nettesten, tolerantesten Variante, für die Jugend darstellen: nämlich durch ihre Definitionsmacht über die Welt, durch die Regeln, die von ihnen aufgestellt wurden und von ihnen kontrolliert werden; aber auch durch ihren impliziten Pessimismus, der gar nicht anders kann als die Zukunft abzulehnen, weil es nicht ihre, die Zukunft der Alten, sein wird.

Es sollte uns nicht wundern, dass es keinen Generationenkonflikt mehr gibt, dass die Jugend bestenfalls ungezogen, aber niemals unangepasst ist. Es sollte uns erschrecken, denn der Generationenkonflikt bleibt nur deshalb aus, weil er längst entschieden ist, nämlich zugunsten der Alten. Es sind aber keine gnädigen, wohlwollenden Sieger. Warum müssen sie so viel schimpfen? Weil die Jugend in all ihrer Nichtsnutzigkeit und Randständigkeit es doch mitunter wagt, leichtfertig und lebenslustig, laut und lebendig zu sein, am Ende sogar der Liebe zu folgen. Und vielleicht ist in der Perspektive des westlichen Rentners das Anstößigste der islamischen Gesellschaften nicht der tatsächlich bedrohliche Radikalismus, sondern der Kinderreichtum, die laut und brutal verschwendete Jugend. Vielleicht lässt sich das für unsere Senioren wahrhaft Bedrohliche des Irak-Krieges nicht mit dem „Wallenstein“ fassen: Es ist die Inflationierung des Todes, der damit jenen pathetischen Wert verliert, auf den der Alternde seine Existenz baut.

JENS JESSEN, geb. 1955, war Feuilletonredakteur der FAZ, Feuilletonchef der Berliner Zeitung und ist seit dem Jahr 2000 Feuilletonchef der ZEIT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 114 - 115

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