Vergangenheit, die nicht vergeht
Mehr als 60 Jahre nach dem Judenmord: Deutschland bleibt eine auf Dauer und vor aller Welt gezeichnete Nation
Nichts ist schneller verflogen als der schöne Rausch der Fußballweltmeisterschaft, da man glaubte, aus den Schatten der Vergangenheit in ein neues Land unbeschwerten Nationalgefühls gelangt zu sein. Kaum erlosch das Flutlicht in den Stadien, traten die Schatten in neuer Schwärze hervor. Günter Grass, diese Lichtgestalt der Linken, bekannte sein langes Schweigen über den Dienst in der Waffen-SS. In Berlin entbrannte um die Rückgabe eines Kirchner-Gemäldes an seine jüdischen Eigentümer ein hässlicher Streit. Das Gedenkkonzert für die Opfer von Buchenwald wurde durch die verfehlte Rede eines Ministerialdirektors gestört. Die Vertriebenenverbände erreichten, wovon der hartgesottenste Funktionär nicht zu träumen wagte: eine ernste Verstimmung im deutsch-polnischen Verhältnis. Auch wenn in allen diesen Fällen Ursache und Wirkung, Schuld und Unschuld höchst unsicher verteilt sind, lässt sich doch zusammenfassend sagen: Deutschland ist noch lange nicht mit sich im Reinen. Wahrscheinlich gerät es sogar umso leichter ins Unreine, je mehr es mit sich ins Reine zu kommen versucht. Ein Beispiel dafür ist die seit längerem betriebene Hinwendung zu den deutschen Opfern des Weltkriegs. Ei freilich – es hat sie gegeben. Aber mit jeder Betonung des eigenen Leidens sinkt die Empathie für die Leiden der anderen. Es lässt sich zumindest nicht verhindern, dass es von diesen anderen so empfunden wird. Kurz gesagt: Der Narzissmus wehleidiger Nabelschau ist keine glückliche Alternative zu der Demut, die uns die Vergangenheit bisher nahe gelegt hat.
Es gibt eine einfache historische Überlegung, die der frühere Leipziger Oberbürgermeister und Widerstandskämpfer Carl Goerdeler 1945 im Gefängnis von Plötzensee angestellt hat, wenige Wochen vor seiner Hinrichtung. An die Christenverfolgung unter Diokletian werde seit 2000 Jahren noch immer erinnert; also müsse man für die Erinnerung an den deutschen Judenmord, der doch um vieles schlimmer sei, auch mindestens mit 2000 Jahren rechnen. Der schlagende Gedanke gewinnt zusätzliche Bitterkeit, wenn man bedenkt, dass Goerdeler mit ungefähr hunderttausend ermordeten Juden rechnete. Sechs Millionen hätten selbst die tapfere Vorstellungskraft dieses Mannes übertroffen. Goerdeler hatte übrigens bei diesem Notat keinen moralischen Appell im Sinn. Über die Schändlichkeit des Regimes musste er sich nicht und wollte er auch niemand anderen mehr belehren. Die Rechnung war vielmehr der sachliche Versuch, sich eine realistische Vorstellung von dem Schaden zu machen, den die Nationalsozialisten eben auch für Deutschland angerichtet haben. Die Pointe lautet: Auch ohne jede moralische Anklage ist dieses Land auf immer gezeichnet.
Es ist vielleicht nützlich, sich diese Überlegung vor Augen zu führen, wenn unsere Zeitgenossen klagen, es müsse doch nun mit der Zerknirschung ein Ende haben, es lebe ja kaum einer von den Tätern noch, und Schuld ließe sich wohl kaum vererben. Nein, Schuld lässt sich nicht vererben. Auch Zerknirschung muss keine dauerhaft sinnvolle Praxis, kann sogar eine große Peinlichkeit sein, wenn sie auf der bloßen Prätention einer kollektiven Genealogie beruht. Allein – es geht gar nicht um Zerknirschung. Es geht um die sachliche Anerkenntnis des Faktums, dass Deutschland eine auf Dauer und vor aller Augen der Welt mit dem Makel des Judenmords gezeichnete Nation ist.
Das heißt, im Umgang mit der Vergangenheit sind keine larmoyanten Ausflüchte noch Selbstmitleid, sondern Nüchternheit, Demut und Tapferkeit gefragt. Und das bringt uns auf den großen Toten dieses Jahres, den Journalisten und Historiker Joachim Fest. Wenn es etwas gibt, dass seine Bücher über das Hitler-Reich noch vor ihrer Intelligenz und stilistischen Qualität auszeichnet, dann ist es dies: die nüchterne Anerkenntnis des niemals wieder aus der Welt zu schaffenden schändlichen Faktums. Bei Fest gibt es niemals viel Beweinung, moralisches Klagen, ausgestelltes Entsetzen. Man hat ihm das mitunter vorgeworfen, aber das war dumm. Denn bei Fest gibt es umgekehrt auch das andere nicht: das Rechtfertigen, das Werben um Verständnis, das Beklagen der von Schicksalen gebeutelten Nation. Bei ihm gibt es nur das Faktum und den Versuch seiner Erklärung. Gerade weil sein Umgang mit dem Faktum so unweinerlich ist, verfolgt seine Erklärung niemals apologetische Bedürfnisse.
Deswegen gab es bei Fest auch keine Zuflucht zu den Ideologien, die anderen Historikern Trost versprachen. Das hat ihm einen Vorsprung vor seinen Zeitgenossen gesichert, den wir vielleicht erst jetzt deutlicher sehen. Vielleicht mussten zwei Jahrzehnte vergehen, um den dubiosen Entlastungscharakter der ideologischen Großerklärungen zu durchschauen, der marxistischen Faschismustheorie ebenso wie der systemisch argumentierenden Totalitarismustheorie. Die Marxisten verschoben alle Schuld vom kleinen Mann auf das Kapital, und die Theoretiker des Totalitären ließen alle politische Entscheidung in den Zwängen des Systems verdampfen. Selbst bei Hannah Arendt, der Fest so viel verdankt, entbindet das totalitäre Regime, wenn es einmal angelaufen ist, den Einzelnen von jeder Handlungsmöglichkeit. Man muss weit zurückgehen, um eine ähnlich unideologische, kalte Betrachtung des Faschismus zu finden wie bei Fest. Man findet sie bei dem spanischen Sozialphilosophen José Ortega y Gasset, der den Faschismus noch vor seiner politischen Entfaltung in der entfremdeten Welt der Angestellten heraufziehen sah. Aber das ist ein anderes Thema.
JENS JESSEN, geb. 1955, war Feuilletonredakteur der FAZ, Feuilletonchef der Berliner Zeitung und ist seit dem Jahr 2000 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg.
Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 96-97