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01. Juli 2007

Bockwürste in einer Schlange

Kultur

Wie wir die Kunst unter dem Vorwand der Verehrung zum Event machen

Nicht ohne Melancholie hört man von dem Erfolg, den die Berliner Ausstellung französischer Impressionisten aus den Beständen des New Yorker Metropolitan Museum of Art hat. Was haben die Bilder, nachdem sie nach Berlin transportiert wurden, das sie in ihrem Heimatmuseum nicht hatten, wo man sie täglich sehen konnte? Steigerte sich ihre Sehenswürdigkeit durch das bloße Faktum der Atlantikquerung?

So ist es augenscheinlich. Zu dem Kunstcharakter der Gemälde ist der Eventcharakter hinzugetreten: der neue Ort, die Befristung dieses Ortes, die gesellige Aufregung, die sich nicht einstellen würde, wenn ein Besucher nur die am Ort immer offenstehende Gemäldegalerie besichtigen würde. Es gibt darum Leute, die eine Kunstvermittlung an breite Massen nur mehr durch Events für möglich halten. Kunst allein tut es nicht mehr, ihr muss etwas hinzugefügt werden, und dieses Etwas ist offenbar ein Außerkünstlerisches, Gesellschaftliches.

Die Frage ist allerdings, ob es Zutat bleibt. Event und Kunst lassen sich nicht so bruchlos zusammenfügen, wie der Publikumserfolg auch der Biennale in Venedig oder der Kasseler Documenta nahezulegen scheint. Das Problem zeigt sich schon darin, dass sich ein Event wesentlich leichter definieren lässt als Kunst. Ein Event entsteht, wenn Fahrkarten gekauft, Hotelzimmer gebucht oder Bockwürste in einer Schlange verzehrt werden, die sich trotz Regens mehrere Blocks um die Kunsthalle herumringelt. Aber was ist Kunst? Wenn man eine ähnlich äußerliche, auf bloßer Beobachtung beruhende Definition wagen wollte, dann wäre Kunst das, was unter den Bockwürsten leidet und unter dem sozialen Geräusch, das mit dem geselligen Verzehr einhergeht, also zum Beispiel die Aufmerksamkeit, die schwindet, wenn die soziale Begegnung die individuelle Empfänglichkeit für das Andere der Kunst erstickt.

Goethe nannte dieses Andere das „Inkommensurable“ der Kunst. Gemeint ist damit, zeitgenössisch ausgedrückt, dass Kunst sich nicht an andere Diskurse anschließen lässt, nicht an den Diskurs der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Gesellschaft im engeren Sinne. Kunst ist auch nicht notwendig der Widerspruch dazu, ebensowenig die Erklärung, sie steht nicht höher oder tiefer, sie ist eine Form des Umgangs, die man sich am besten als eine Art Missbrauch zu höheren Zwecken vorstellt.

Man denke sich einen Setzkasten. Normalerweise werden darin die Lettern einer Schrift nach dem Alphabet geordnet. Ein Künstler würde sie vielleicht, darin einem Kind verwandt, nach Größe sortieren. Oder er würde Worte entstehen lassen, oder ein seltsames graphisches Muster erzeugen. Er würde jedenfalls die allgemeingültigen Regeln des Setzerhandwerks durch die selbstgewählten Regeln seines Kunstwerks ersetzen. Man könnte sich auch ein Schachspiel vorstellen. Wir alle wissen, wie man Schach spielt. Ein Künstler würde aber mit den Schachfiguren etwas ganz anderes machen, vielleicht eine Geschichte erzählen oder sie zu einer erschreckenden Allegorie von Macht und Tücke fügen. Oder noch ein anderes Beispiel, nun schon näher an der Wirklichkeit der Kunst: Wir alle haben Vorstellungen von der Liebe, es gibt ein dichtes Netz sozialer Konventionen, die den Inhalt von Liebeswahrnehmungen betreffen. Was wir zu fühlen meinen, ist oft gar nicht so individuell, sondern von der Gesellschaft schon vorab definiert. Aber ein Dichter beispielsweise würde die bekannten Elemente von Eifersucht und Begehren, Treue und Verrat vielleicht ganz anders zusammensetzen, so dass am Ende auch der Begriff von Liebe ein ganz anderer würde. Kurzum: Die Regeln der Kunst sind nicht die Regeln der Gesellschaft, und die Wahrheit der Kunst ist nicht die Wahrheit der Gesellschaft – sonst wäre die Kunst ja auch überflüssig. Die Kunst versucht, in den engen Mauern gesellschaftlicher Vorstellungen ein Fenster zur Freiheit, zu neuen Wahrheiten oder auch nur zu einem neuen Spiel zu öffnen. So hat das Schiller gesehen. Aber die Gesellschaft, in der sich jeder Einzelne nach der Freiheit sehnt, will diese Freiheit andererseits ungern dulden. Sie versucht die Kunst, unter dem Vorwand, sie zu verehren, wieder einzufangen und sich gefügig zu machen. Das ist der Prozess, der sich abspielt, wenn aus einer Ausstellung ein Event gemacht wird. Die Kunst wird eingefangen. Deswegen finden sich für die eventmäßige Darbietung von Kunst auch so leicht Sponsoren; denn sie spüren, dass sie damit für ihre Geschäfte etwas Gutes tun, wenn sie die Kunst domestizieren und irgendwelche abweichenden Wahrheiten schnell wieder in das Netz allgemein akzeptierter Vorurteile einwickeln können.

Event ist das Gesellschaftliche an der Kunst. Damit ist es aber noch nicht das Gegenteil der Kunst. Wenn es so wäre, könnte man sich leicht darauf verständigen, die Freiheit der Kunst gegen ihre eventmäßige Inszenierung zu verteidigen. In gewisser Hinsicht aber ist das Event unvermeidbar, denn an irgendeiner Stelle muss die Kunst ja mit der Gesellschaft zusammenstoßen. Das geschieht auch seit alters, jede Premiere und jede Vernissage legt davon Zeugnis ab. Ein Problem entsteht aber, wenn das Event ein Übergewicht über die Kunst gewinnt oder sich an ihre Stelle zu setzen beginnt oder die Kunst sogar ganz verschwinden lässt, so dass von einer Ausstellung nur ein Cocktail übrig bleibt, eine gesellige Steherei, bei der die Kunst nur noch die Stichworte zu einer amüsierten oder verärgerten Konversation liefert.

JENS JESSEN, geb. 1955, war Feuilletonredakteur der FAZ, Feuilletonchef der Berliner Zeitung und ist seit dem Jahr 2000 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 166 - 167.

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