Abendlanddämmerung
Wie das Reich der Mitte zunehmend die globalen Spielregeln bestimmt
Dank seines wirtschaftlichen Aufstiegs wächst Pekings Rolle im internationalen Machtgefüge dramatisch. Anstatt China penetrant zu belehren, sollte der Westen sich von der Illusion verabschieden, weiterhin als unbestrittener Hegemon die Geschicke der Welt zu lenken. Auch „Exportweltmeister“ Deutschland muss sein Verhältnis zu China überdenken.
Wie haben sich die Engländer gefühlt, als jenseits des Kanals die Lichter angingen? Spätestens ab 1900 wurden sie von der damaligen „New Economy“ Deutschlands herausgefordert, als die Nation noch grün hinter den Ohren war. Die Deutschen waren aus englischer Weltmachtssicht romantische Spinner, heillos untereinander zerstritten und wirtschaftlich hoffnungslos rückständig. Ihre ersten Dampfloks mussten sie bei den Briten kaufen, sie konnten sie nicht einmal selbst bedienen. Schon 30 Jahre später stellte das Billiglohnland Deutschland die Loks billiger und besser her als England und exportierte sie sogar. Zwischen 1850 und 1870 verzehnfachte sich die Kraft der Dampfmaschinen und damit die industrielle Kapazität. Zur Jahrhundertwende schließlich hatte Deutschland bereits eigene Hightechprodukte wie nahtlose Röhren, Aspirin, synthetische Farben und rostfreien Stahl. Die Weltmacht England fiel zurück und kann Deutschland bis heute trotz zweier gewonnener Kriege weder wirtschaftlich noch politisch Paroli bieten.
So wie die Engländer fühlen sich die Deutschen, die führende Wirtschaftsmacht Europas, seit Beginn des 21. Jahrhunderts, aber auch ihre Nachbarn und mehr noch die Amerikaner, die amtierende Weltmacht. Auch sie wollen den Wandel der Welt nicht wahrhaben, obwohl sie Protagonisten eines gewöhnlichen Vorgangs der Geschichte sind. Gewöhnlich ist allerdings nur die Tatsache, dass die jeweiligen Eliten nicht immer oben bleiben können; außergewöhnlich hingegen ist die Dimension dieses epochalen Wandels. Die weltumspannende Ausdehnung und die Anzahl der beteiligten Menschen sind historisch ohne Beispiel.
Was den Engländern als Nation widerfuhr, vollzieht sich nun auf globaler Ebene. Die Veränderung wird also heftiger und einschneidender sein. Deswegen ist es schwierig für uns, die Folgen zu beurteilen. Wird uns der Abstieg deshalb härter treffen? Zum ersten Mal, seit westliche Seefahrer alle Herren Länder erobert haben, kann der Westen die Spielregeln der Welt nicht mehr bestimmen – und das, obwohl die NATO immer noch der mächtigste Kriegsherr ist.
Spätestens seit Beginn dieses Jahrzehnts wird deutlich: Jeden Tag verschiebt das Reich der Mitte die Weltwirtschaft ein wenig zu seinen Gunsten, bisher unaufhaltsam und für unser Zeitgefühl überraschend schnell. Im Gefolge ist Asien, und inzwischen selbst Afrika. China führt den globalen Wandel mit großem Abstand an. Es hat seit Beginn dieses Jahrzehnts genauso viel zum Wachstum der Weltwirtschaft beigetragen wie Indien, Russland und Brasilien zusammen.
China ist als einziges unter diesen vier Ländern bereits so mächtig, dass selbst die führenden Wirtschaftsmächte der Welt nicht mehr die Kraft haben, seinem Aufstieg etwas entgegenzusetzen. Sie können inzwischen weder die Geschwindigkeit, noch den Verlauf, noch die Entwicklung des boomenden Reiches entscheidend beeinflussen. Umgekehrt hat China mit Abstand den größten Einfluss auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Welt. Das liegt stärker an den günstigen Rahmenbedingungen als am Geschick der chinesischen Führung. Die westliche Welt braucht immer mehr billige chinesische Produkte, weil sie über ihre Verhältnisse gelebt hat und sich die teuren, in der Heimat hergestellten Produkte nicht mehr leisten kann.
Die westlichen Unternehmen wiederum brauchen den großen, unentwickelten, aber logistisch funktionierenden und politisch steuerbaren Markt, um weiter wachsen zu können. An dieser für uns ungünstigen Verflechtung wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Wer jedoch hätte gedacht, dass sich die Devisenreserven von 400 Milliarden Dollar seit Anfang 2004 auf 1,5 Billionen Dollar Anfang 2008 fast vervierfachen würden? Wer hätte gedacht, dass die Chinesen 2007 einen Handelsüberschuss von über 300 Milliarden Dollar erreichen würden, eine Steigerung zum Vorjahr um etwa 50 Prozent, obwohl sie als Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) ihre Märkte für den Westen öffnen mussten und in den Jahren zuvor schon Rekordzuwächse hatten? Zudem haben sie ihre Währung seit Mitte 2005 um über acht Prozent gegenüber dem Dollar aufgewertet. Die chinesischen Produkte sind also in den USA teurer geworden. Dafür sind sie in Europa billiger geworden, weil der Euro gestiegen ist. Auch deshalb kaufen die Europäer viel mehr in China als die Chinesen in Europa. Wer hätte gedacht, dass 2007 PetroChina im bisher größten weltweiten Börsengang das größte Unternehmen der Welt werden würde, mit gut 500 Milliarden Dollar Abstand zum zweitplatzierten Exxon Mobil? Es ist fast dreimal so groß wie Microsoft und zehnmal so groß wie der größte deutsche Konzern.
Die Wahrscheinlichkeit, dass chinesische Unternehmen noch einmal dauerhaft aus diesen Positionen verdrängt werden, ist nicht sehr hoch. Erstaunlich ist, dass diese Börsengänge nicht an der New Yorker Wallstreet passieren, sondern in Hongkong und Schanghai. Das wäre noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen. Obwohl die Chinesen viel zu Hause listen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie noch in diesem Jahrzehnt der größte ausländische Investor an der Nasdaq werden. Weniger überraschend war, dass die Pekinger Regierung einen staatlichen Investmentfonds von 200 Milliarden Dollar aufgelegt hat, um mehr mit ihren Devisenreserven zu verdienen und international an Einfluss zu gewinnen. Interessanterweise ist die chinesische Regierung mit drei Milliarden Dollar für einen gut Neun-Prozent-Anteil bei dem amerikanischen Finanzinvestor Blackstone, einem der größten Beteiligungsfonds der Welt, eingestiegen. Blackstone ist der größte Anteilseigner der Deutschen Telekom nach der Bundesregierung und besitzt unter anderem 31 000 Wohnungen in Deutschland.Wer hätte gedacht, dass die Industrial & Commercial Bank of China (ICBC), am Börsenwert gemessen, die größte Bank der Welt werden würde? Wer hätte gedacht, dass Platz zwei die China Construction Bank einnehmen und dass auch Platz drei einer chinesischen Bank gehören würde, der Bank of China? Wer hätte gedacht, dass auf Platz vier die britisch-asiatische Hongkong & Shanghai Bank of China und erst auf Position fünf die Bank of America erscheinen würde – mit 140 Milliarden Dollar Abstand zur bestplatzierten Bank?1 Gemessen an den Unternehmensbilanzen führen allerdings westliche Unternehmen. Doch wie lange noch?
Die Blase platzt nicht
Obwohl es sich um einen Epochenwandel handelt, der in einer Generation nicht abgeschlossen sein wird, sind die Veränderungen im deutschen Alltag bereits zu spüren. Vor drei Jahren hätte noch niemand gewagt, in Deutschland die Milchpreise mit der Begründung zu erhöhen, die Chinesen tränken zu viel Milch.
China als die Führungsmacht Asiens setzt Deutschland unter Druck. Wenn Schüler dieser Welt sich in 50 Jahren die Eckdaten dieses Umbruchs merken müssen, wird das Jahr 2008 womöglich eine Rolle spielen, nicht nur wegen der Olympischen Spiele. Im Jahr 2008 wird China Deutschland, die führende Wirtschaftsnation Europas, gleich zwei Mal überholen. Damit büßt ganz Europa an Bedeutung ein. Die Deutschen sind nicht mehr Exportweltmeister, und auch die Position als drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt müssen wir abgeben. Nun ist kein europäisches Land mehr unter den Top drei – sowohl der Wirtschaftsnationen als auch der Exportnationen der Welt. Gewiss, Deutschland ist auch ohne die Spitzenposition noch eine beeindruckende Wirtschaftsmacht, und auch Europa verschwindet nicht. Aber es wurden psychologisch wichtige Widerstände durchbrochen, wie die Börsenanalysten bei Aktienkursen sagen würden, Widerstände auf dem Weg der schleichenden Relativierung Deutschlands, Europas und der westlichen Welt.
China nimmt Deutschland dreifach in die Zange: erstens durch chinesische Produkte, die im weltweiten Preiskampf in der Regel alle Konkurrenten unterbieten. Zweitens durch chinesische Konsumenten, die weltweit die Preise von knappen Bodenschätzen mitbestimmen – Öl, Gas, Kohle, Kupfer und Gold werden teurer; das Fass Öl durchschlug Ende 2007 erstmals die Hundert-Dollar-Marke. Drittens als Währungstaktiker: Sie flüchten sich in den Euro, weil sie schon so viele Dollar haben, und treiben ihn damit in die Höhe. Dadurch werden unsere Produkte teurer und weniger wettbewerbsfähig sowie deutsche Unternehmer gezwungen, ihre Betriebe nach China umzusiedeln. Derzeit ist nicht abzusehen, wann sich diese Trends abschwächen. China hat jetzt nur noch Japan und die USA vor sich auf dem Weg, die größte Wirtschaft der Welt zu werden. Wahrscheinlich wird das bevölkerungsreichste Land der Welt Ende des nächsten Jahrzehnts auch diese beiden Nationen hinter sich lassen.
Seit Jahren stellen Ökonomen die Frage, wann diese Blase platzt. Doch es sieht immer weniger danach aus. Die Inflation hat mit über sechs Prozent zwar ein Ausmaß angenommen, dass man sich mit dem Thema beschäftigen muss, was die Regierung auch tut. Alarmierend für die Stabilität Chinas ist die Lage noch nicht. Denn alle drei möglichen Szenarien eines Zusammenbruchs der Wirtschaft nach einer dramatischen Überhitzung greifen im Falle Chinas nicht. Die erste Variante kennen wir von den Internetunternehmen. In Erwartung einer prosperierenden Zukunft werden große Summen auf dem Aktienmarkt für Unternehmen gezahlt, die noch nicht einmal Gewinne machen. Das ist in China nicht der Fall, sowohl die Volkswirtschaft als auch die wichtigsten Unternehmen sind sehr profitabel.
Die zweite Variante: Von vielen Produkten wird mehr hergestellt als verkauft werden kann. Weil diese Produkte niemand haben will, müssen sie unter Wert auf den Markt geschleudert werden. Die Kunden warten, weil sie hoffen, dass die Produkte noch billiger werden. Eine Abwärtsspirale entsteht. Die Unternehmen gehen darüber Bankrott. Auch diese Konstellation trifft auf China nicht zu. Das Land produziert in den meisten Branchen weniger, als der internationale und binnenchinesische Markt abnehmen kann. Die dritte Blase schließlich ist eine Kreditblase. Man leiht sich immer mehr Geld, um es mit dem Versprechen immer höherer Zinsen zurückzuzahlen, bis man Pleite geht, weil einem zuletzt keiner mehr Geld leiht und alle Gläubiger dann, sobald sie das herausbekommen, plötzlich ihren Einsatz zurückverlangen. Das passierte in Thailand, Indonesien und Südkorea während der Asien-Krise Ende der neunziger Jahre. China jedoch leiht sich kein Geld, im Gegenteil: China verleiht es. Die Bank of America ist gewissermaßen China, denn China hat die höchsten Devisenreserven der Welt, während die USA die höchsten Schulden der Welt haben.
Auch China wird an seine Wachstumsgrenzen kommen. Allerdings können bis dahin, zumindest an Hand der Faktoren, die wir heute kennen, noch Jahrzehnte vergehen. Im Extremfall müssen wir uns auf 150 Jahre Wachstum einstellen. Das hatten auch die Amerikaner. Die mehreren hundert Millionen Chinesen, die den Anteil der armen Bevölkerung ausmachen, sind dabei sowohl eine Chance als auch eine Belastung. Einerseits liegen sie dem Sozialstaat auf der Tasche, andererseits sind sie die Garantie dafür, dass China auf Jahrzehnte günstige Waren für die Weltwirtschaft produzieren kann, obwohl der Wohlstand der Menschen im Land rapide ansteigt. Die sozialen Probleme sind deshalb in den letzten Jahren nicht größer, sondern eher geringer geworden. Es wurde viel demonstriert, aber die Massenunruhen sind ausgeblieben. Das Land ist stabil. Daran wird sich wenig ändern, solange China so stark wächst. Niemals in der Geschichte ging es so vielen Chinesen so gut wie heute.
Auch die Tatsache, dass noch immer Menschen ohne faire Gerichtsverfahren ins Gefängnis gesteckt werden, weil sie abweichende Ansichten vertreten, sollte den Blick für die -Gesamtentwicklung nicht verzerren. Diese erschreckenden Fälle, die aufgedeckt und angeprangert gehören, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Umgang mit Andersdenkenden in der chinesischen Geschichte noch nie so entspannt war wie heute. Nur wirtschaftliche Laien schließen aus den Menschenrechtsverletzungen, dass China bald zusammenbrechen wird. So einfach, wie sich das mancher wünscht, werden auch in China Sünden nicht bestraft.
Ideologische Maßregelung
2006 führte das Allensbach-Institut eine Umfrage durch, nach der 66 Prozent der Führungskräfte überzeugt sind, man müsse in den nächsten zehn Jahren mit China als wirtschaftlichem Hauptkonkurrenten rechnen; Osteuropa mit 26 und die USA mit nur fünf Prozent rangieren als Konkurrenten dagegen weit abgeschlagen.2 In einer anderen Allensbach-Umfrage sieht mehr als die Hälfte der Deutschen im hohen Wirtschaftswachstum Chinas eine Gefahr für Deutschland und nur 22 Prozent eine Chance.3
Deutschland hat eine lange Geschichte als schlechter Verlierer. Es werden Schuldige gesucht und gefunden. Diesmal sind es die Chinesen. Die deutsche Politik nutzt den Stimmungswandel bereits politisch. Die Bundeskanzlerin hat sich schon darauf eingestellt. Sie profiliert sich innenpolitisch, indem sie China maßregelt. Bei einem Treffen mit dem äthiopischen Präsidenten Meles Zenawi beispielsweise kritisierte sie die afrikanisch-chinesischen Beziehungen. Die afrikanischen Völker sollten „auch wirklich den Gewinn aus der Kooperation ziehen können“. Den Vorwurf, China betreibe in Afrika eine neue Art des Kolonialismus, wies Zenawi zurück und fügte hinzu, dass es zwar einige Defizite gebe, insgesamt sei die Zusammenarbeit aber gut. Merkel ließ nicht locker. Mit Peking und Afrika müsse über „gleiche Spielregeln“ geredet werden. Das wunderte die Afrikaner und die Chinesen auch. „Der Wolf warnt das Lamm vor dem Löwen“, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Warum müssen wir mit Europa über die Spielregeln sprechen, wenn wir untereinander Geschäfte machen, fragen sich die Afrikaner. Im Übrigen ist es immer der Schwächere, der gemeinsame Spielregeln fordert. Früher waren das die Afrikaner. Heute sind es die Europäer. Je schwächer man ist, aber auch je enger man miteinander verbunden ist, desto mehr muss man auf Kooperation setzen, desto mehr muss man überzeugen, statt zu fordern oder gar bloßzustellen.
Der Empfang des Dalai Lama durch die Kanzlerin sagt viel über ihr Verhältnis zu China aus. Ein Verhältnis, das nicht mehr zeitgemäß ist. Stellt man einen Freund und Geschäftspartner, dessen moralische Verfehlungen man als störend empfindet, in großer Runde bloß, um ihn zur Einsicht zu bringen? Ist das eine kluge Handlung? Wird man den Einfluss der eigenen Werte damit vergrößern? Selbst US-Präsident George W. Bush, der nicht für seinen Feinsinn auf dem internationalen Parkett bekannt ist, hat – anders als Merkel – den Chinesen zumindest vorher Bescheid gesagt und ihnen versprochen, dass er den Medienmönch nicht ins Oval Office lässt.4
Die Zeiten, in denen sich deutsche, ja selbst amerikanische Politiker wie die Erziehungsberechtigten chinesischer Diktatoren fühlen konnten, gehen langsam dem Ende entgegen. Wandel durch Annäherung, das alte, von Egon Bahr erfundene Motto Willy Brandts gegenüber den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs, gewinnt an Bedeutung. Die politische Durchsetzungsfähigkeit derjenigen, die das zuletzt merken, wird sich erheblich vermindern. Wenn moralische Positionen mal so und mal anders vertreten werden, ist der Glaubwürdigkeitsverlust in den Augen der Aufsteiger besonders dramatisch.
Die Bundeskanzlerin zum Beispiel neigt dazu, China und Indien mit zweierlei Maß zu messen, wenn es um die Frage der Menschrechtslage geht. „Ich glaube, dies ist auch der richtige Ort, immer wieder über das Thema der Menschenrechte zu sprechen“, belehrte Merkel bei ihrer China-Reise im August 2007 ihre Gastgeber: „Das Thema der Menschenrechte ist für uns von entscheidender Bedeutung, weil es im Grunde mit der Frage zu tun hat, ob jeder Mensch in jedem Land unveräußerliche Rechte genießt.“5 Als sie wenige Wochen später nach Indien reiste, fand sie einen anderen Ton: „Wir haben sehr, sehr viele Gemeinsamkeiten, die auf einem ähnlichen Verständnis von Werten und von demokratischen Strukturen basieren.“ Und sie findet Lob statt Belehrung: „Sie haben es geschafft, im Rahmen der Demokratie, im Rahmen demokratischer Werte ein Zusammenleben zwischen Religionen, zwischen unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung, zwischen Nord und Süd und ganz unterschiedlichen Traditionen, harmonisch zu organisieren.“6
Indien hat über 40 Prozent Analphabeten, China unter zehn Prozent. Während in Indien 390 Millionen Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, sind es in China bei einer um hundert Millionen Menschen höheren Bevölkerungszahl nur 40 Millionen. Wenn man schon unbedingt kritisieren will, welches System hat mehr Kritik verdient? Die Demokratie, der es nicht gelingt, einem Großteil der Bevölkerung aus der absoluten Armut herauszuhelfen und den meisten Menschen Lesen und Schreiben beizubringen? Oder die Diktatur, der genau das gelingt, die jedoch die politische Grundfreiheit willkürlich einschränkt und nur die eigene Partei zulässt?
Wenn Meinungsfreiheit wichtiger ist als Lesen- und Schreibenkönnen, wenn demokratische Werte wichtiger sind als das tägliche Essen, dann könnte sich bei den Aufsteigern der Verdacht aufdrängen, dass es mehr um die Ideologie geht als um die leidenden Menschen; dass es um die eigene Bedeutung in der Welt geht und um die Angst, diese Bedeutung zu verlieren. In dem Maße, in dem sich die Amerikaner militärisch überheblich verhalten, in dem Maße verhält sich die deutsche Bundeskanzlerin moralisch ungeschickt. Sie hat unsere moralische Position so übersteigert, dass nun für jeden sichtbar wird, dass unser Einfluss schwindet.
Betrachtet man den Wandel mit ein wenig Besonnenheit, wird deutlich, dass er sich allmählich vollzieht – ohne totalen Zusammenbruch, wahrscheinlich ohne einen großen Krieg. Das wäre ein großer Fortschritt. Der Aufstieg Chinas bedeutet gleichzeitig, dass die Welt multipolarer wird, man kann auch sagen demokratischer. Noch nie hatten so viele Menschen die Möglichkeit, die Entwicklung der Welt mitzugestalten wie heute. Noch nie wurden so schnell so viele Menschen aus der Armut befreit. Woher nimmt der Westen sich das Recht, den Chinesen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben? Wegen der sozialen Gerechtigkeit? Weil wir weiter entwickelt sind? Weil China eine Diktatur ist? Weil wir davon ausgehen, dass sich in der Welt unsere Werte durchsetzen werden? Die Antwort auf solche Fragen fällt uns immer schwerer.
Der erste Schritt für Deutschland, um wieder auf den Boden der Realität zurückzufinden, bestünde darin, sich von liebgewonnenen Illusionen zu verabschieden, der Illusion beispielsweise, dass die Stärke des Euro im Erfolg Europas begründet ist. Der Euro ist vielmehr ein Spielball der Weltwirtschaft geworden. Es ist mehr das schwindende Vertrauen in die USA als das wachsende Vertrauen in Europa, das den Euro steigen lässt. Das bringt der deutschen Wirtschaft Probleme, denn unsere Produkte werden für alle außereuropäischen Länder teurer. Das bedeutet wiederum, der Abstieg Europas wird sich verstärken. So wie die USA in der Schuldenfalle festsitzen, steckt Europa in der chinesischen Eurofalle.
Mit einem anderen Selbstbetrug mussten erst die Chinesen aufräumen. Freiwillig hätte sich Deutschland nicht von dem Titel „Exportweltmeister“ verabschiedet. Im Grunde stimmte er aus drei Gründen schon lange nicht mehr. Erstens gehen über 40 Prozent unserer Exporte nach Europa, das ist ein Raum mit gleicher Währung, ohne Handelsbarrieren und mit einer weitgehend gemeinsamen Politik. Mit einer gewissen Berechtigung könnte China seine Exporte von der Provinz Guangdong in die Provinz Hebei ebenfalls über die Exportstatistik laufen lassen, und die Amerikaner ihre Exporte von Wisconsin nach Florida auch. Dann wären alle europäischen Exportnationen von China bereits auf die hinteren Plätze verwiesen worden. Wenn man zweitens nicht nur den Handel mit materiellen Gütern rechnen würde, sondern auch den Handel mit nicht-materiellen Gütern wie Kundendiensten, Software-Lizenzen und Finanzberatung, die in der globalen Entwicklung eine immer größere Rolle spielen, dann sind die USA bereits seit 2004 Exportweltmeister und können nur noch von einem Land verdrängt werden: von China. Drittens sind schon heute 40 Prozent der Teile unserer Exportprodukte im Ausland hergestellt worden.
Die Deutschen sollten, ohne dabei in Sorge zu geraten, nüchtern feststellen: Just in dem historischen Moment, als Deutschland nach der Wiedervereinigung die Chance gehabt hätte, sich zu neuer Größe zu entfalten, wird das Land im relativen Vergleich zu China und Asien schwächer; zunächst wirtschaftlich, aber auch zunehmend politisch und kulturell. Möglicherweise vollzieht sich dies langsamer, als wir befürchten, aber darauf wetten sollte man nicht.
FRANK SIEREN, geb. 1967, lebt seit 1994 in Peking und schreibt unter anderem für die FAZ und die ZEIT. Der vorliegende Text ist ein stark gekürzter Auszug aus seinem neuen Buch „Der China Schock“ (Econ Verlag 2008).
Internationale Politik 3, März 2008, S. 74 - 81