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01. Juli 2003

Zwischen Reform und Abriss

Sind Europas Sozialstaatsmodelle noch zu retten?

Die sozialpolitische Lage in Europa ist geprägt von Unsicherheit und Unmut; die großen kollektiven Sozialsysteme stecken in einer Krise und Europas Sozialstaatsmodelle sind nicht zukunftsfähig. Für den Chefvolkswirt der Deutschen Bank ist die „sozialpolitische Wende“ überfällig und wird letztlich nicht aufzuhalten sein. Norbert Walter plädiert für eine „entschlossene Reduzierung“ des übergroßen Staatssektors und eine nachhaltige Stärkung der privaten Vorsorge.

Im Frühsommer 2003 prägen Unsicherheit und Unmut die sozialpolitische Lage in Europa. Massive Streiks des öffentlichen Dienstes gegen geplante Rentenreformen in Frankreich, Arbeitsniederlegungen aus demselben Grund auch in Österreich, hitzige Debatten über die Neuordnung des Gesundheitswesens in Deutschland. Vielerorts tun sich Nutznießer und Verfechter des traditionellen Sozialstaats offenkundig schwer, eine neue Realität zu akzeptieren, die aus der anhaltenden Wirtschaftsflaute, leeren öffentliche Kassen, der Globalisierung und ungünstigen demographischen Perspektiven resultiert. Die Zeit wohlfeiler staatlicher Sozialleistungen geht mühsam und unter Protest zu Ende. Aber die sozialpolitische Wende ist überfällig, und sie wird letztlich nicht aufzuhalten sein.

Die großen kollektiven Sozialsysteme befinden sich in der Klemme, und zwar nicht nur vorübergehend. Auf der einen Seite brechen mangels wirtschaftlicher Dynamik die Einnahmen der Sozialkassen weg. Auf der anderen Seite laufen vor allem infolge hoher Arbeitslosigkeit und der meist frühen Verrentung der Beschäftigten die Sozialausgaben aus dem Ruder. Nachhaltige Besserung der Finanzlage ist nicht in Sicht; dafür sind die Steuern und Sozialbeiträge zu hoch.

Noch machen viele die anhaltende Schwächephase der Weltwirtschaft für die finanziellen Schwierigkeiten der Sozialsysteme verantwortlich. Diese Diagnose geht jedoch fehl. In den großen Ländern auf dem europäischen Kontinent haben die weltwirtschaftlichen Einflüsse nur eine seit langem latente Wachstumsschwäche akzentuiert. Es ist kein Zufall, dass gerade Deutschland, Frankreich und Italien mit ihren hohen Staatsausgaben von nahezu 50 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit vielen Jahren beim Wirtschaftswachstum und bei der Beschäftigungsentwicklung im internationalen Vergleich deutlich zurück bleiben; und dies nicht allein gegenüber den USA, sondern auch gegenüber dem Gros der Industrieländer und dem EU-Durchschnitt. Deutschland bildet in der EU sogar seit Jahren das Schlusslicht bei Arbeitsplätzen und beim Wachstum.

Es gibt einen unübersehbaren, negativen Zusammenhang zwischen der Höhe der Staatsquote, wohlfeilen Sozialleistungen und überregulierten Märkten einerseits und der Entwicklung der (offiziellen) Wirtschaftsleistung andererseits. Der Interventions- und Sozialstaat lässt sich nur noch durch hohe, im Trend steigende Steuern und Sozialabgaben finanzieren. Die überhöhten Abgaben aber demotivieren die Arbeitskräfte und machen die Freizeit sowie die Betätigung in der Schattenwirtschaft attraktiv. Dabei empfinden viele Bürger nur einen geringen Unterschied zwischen den Einkommensteuern und den Beiträgen für die durch ausgedehnte Umverteilung und häufige politische Eingriffe geprägten Sozialsysteme. Großzügige staatliche Transfers bei Arbeitslosigkeit und im Fall des Vorruhestands, wie sie vor allem in Deutschland üblich sind, verstärken die Fehlanreize. Aus Sicht der Unternehmen treiben die Abgaben die Produktionskosten in die Höhe. Im Zeitalter der Globalisierung kann das nicht ohne negative Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit bleiben. Deshalb müssen die Betriebe reagieren und teure Arbeitskräfte durch Kapital ersetzen und Produktion ins Ausland verlagern, wenn sie am Markt überleben wollen. Dieser Sachverhalt verweist auf das Kernproblem: Die überdehnten Institutionen des Sozialstaates sägen längst an dem Ast, auf dem sie sitzen.

Allein die staatlichen Ausgaben für die Alterssicherung und die Gesundheit betragen in den Ländern auf dem europäischen Festland derzeit in der Regel zwischen 17 und 20 Prozent des BIP. Dies reflektiert die Dominanz überdimensionierter Einrichtungen des Sozialstaats gegenüber der privaten Eigenvorsorge. Sie zeigt sich vor allem bei der Alterssicherung: In Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien stammen jeweils mehr als drei Viertel der Alterseinkommen aus staatlichen oder halbstaatlichen Rentenversicherungen. In den USA, aber auch in den Niederlanden und der Schweiz sind es hingegen weniger als die Hälfte. Die Dominanz der staatlichen Renten hat nicht nur zu einem Schattendasein der Eigenvorsorge mittels kapitalgedeckter betrieblicher und individueller Rentenpläne geführt. Den großzügigen staatlichen Renten selbst bei vorzeitigem Ruhestand ist es zuzuschreiben, dass in Deutschland und Italien heute nur noch rund 30 Prozent und in Frankreich sogar nur 16 Prozent der 60- bis 65-jährigen erwerbstätig sind.

Aber auch im Gesundheitswesen mischt der Staat vielerorts so kräftig mit, dass für Wettbewerb, Effizienz und Menschlichkeit kaum noch Platz bleibt. Die staatlichen Gesundheitsausgaben sind (gemessen am BIP) in keinem anderen OECD-Land höher als in Deutschland (8%) und Frankreich (7,2%). Dies manifestiert sich aber nicht in einer entsprechenden Qualität der Leistungen. Bei diesem Kriterium liegen die beiden Länder zwar über dem OECD-Durchschnitt, aber keineswegs an der Spitze.

Die hohen Sozialausgaben sind um so problematischer, als die kritische Phase der demographischen Belastung erst noch bevorsteht. Europas Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten altern und zahlenmäßig schrumpfen. Während heute rund 380 Millionen Menschen in der Gemeinschaft der 15 leben, werden es 2050 nur noch 340 Millionen sein. Parallel zum Schrumpfungsprozess wird das Medianalter der Bevölkerung von derzeit 38 Jahren kräftig auf fast 50 Jahre zunehmen. Die Vereinten Nationen erwarten, dass 2050 in Spanien die Hälfte der Bevölkerung sogar älter als 55 Jahre sein wird. An diesen Trends ändert die im kommenden Jahr anstehende Osterweiterung der EU nichts. In den Beitrittsländern ist die Geburtenrate ebenfalls sehr gering; auch dort mangelt es an Nachwuchs, ergraut die Bevölkerung.

Im Grunde sind die demographischen Trends seit langem bekannt, und sie dringen allmählich auch in das Bewusstsein der Bevölkerung und der Politiker vor. Gleichwohl wird die Brisanz vielerorts noch immer unterschätzt; der Alterungsprozess erfolgt zunächst nämlich nur langsam, erst ab 2020 mit rasantem Tempo. Das gilt vor allem für die ökonomischen und sozialpolitischen Implikationen, wie den drohenden Arbeitskräftemangel und den Anstieg der Zahl der Rentner sowie der Zahl der Hochbetagten, die in vielen Fällen auf besondere Unterstützung (Pflege) angewiesen sind.

Für diese Herausforderungen wird in den über Umlagen auf die Einkommen der Aktiven, das heißt über Steuern und Sozialabgaben, finanzierten Sozialsystemen nicht vorgesorgt. Kapitalansammlung findet nicht statt. Die Lawine steigender Kosten der Alterssicherung und im Gesundheitswesen, die angesichts einer wachsenden Zahl älterer Menschen zu erwarten ist, trifft die umlagefinanzierten Sicherungssysteme mit voller Wucht. Etwa zur gleichen Zeit droht wegen des demographischen Umbruchs eine Erosion der Beitragsbasis, die Zahl der Aktiven, also der potenziellen Beitrags- und Steuerzahler, schrumpft. Auf diese Weise geraten die Umlagesysteme in eine Zange zwischen kräftig expandierenden Ausgaben und bestenfalls noch geringfügig zunehmenden Einnahmen.

Programmierter Zusammenbruch

Ohne einschneidende Korrekturen ist der Zusammenbruch der staatlichen Sozialsysteme programmiert. Diese Prognose mag überzogen klingen und im Widerspruch zu offiziellen Projektionen stehen. So geht etwa die Europäische Kommission davon aus, dass die Sozialausgaben im EU-Durchschnitt gemessen am BIP der einzelnen Länder bis 2040 um rund 5,5 Prozentpunkte oder etwa ein Drittel steigen werden. Ein solcher Anstieg scheint auf den ersten Blick wenig dramatisch zu sein. In Deutschland ist der Sozialaufwand gemessen am BIP in den vergangenen vier Jahrzehnten noch stärker in die Höhe geschnellt. Aber gerade die deutsche Erfahrung sollte eine Warnung sein. Der lange Weg in den Sozialstaat führte hier zu Lande immer weiter weg von dem kräftigen Wirtschaftswachstum der späten fünfziger und sechziger Jahre. Damals nahm die Wirtschaftsleistung im Durchschnitt um 4,5 Prozent pro Jahr zu. Inzwischen stagniert die deutsche Wirtschaft seit drei Jahren.

Eine Rückkehr auf den Wachstumspfad ist bei einer weiteren Expansion der Sozialquote und entsprechend steigenden Finanzierungslasten weder in Deutschland noch in den anderen betroffenen EU-Ländern zu erwarten. Alle amtlichen Projektionen gehen jedoch von der Annahme aus, dass die europäischen Volkswirtschaften ungeachtet steigender Soziallasten auch künftig noch mehr oder minder stark wachsen werden.

In Deutschland, aber auch in Frankreich, Italien und einigen anderen Ländern gibt es indes eine fatale Kombination aus hohem Sozialaufwand und einer im Trend zu geringen Kapitalbildung. Angesichts einer verfehlten Fokussierung auf ein Übermaß an Umverteilung, Sozialschutz und strukturkonservierenden Subventionen haben diese Länder über viele Jahre hinweg Investitionen in Sachkapital und – vor allem in Deutschland – in Humankapital, d.h. Erziehung sowie Bildung und Ausbildung, vernachlässigt. Nicht zuletzt mangelt es auf dem alten Kontinent vielerorts auch an der Bereitschaft zur Gründung von Unternehmen, ohne die wirtschaftliche Erstarrung droht.

Dies sind alarmierende Signale für einen Kontinent, dessen Arbeitskräfte knapp werden und altern. Nach dem Motto: „Sozial ist, was Wohlstand für alle schafft“ sollte sich die Politik in Europa verstärkt der Förderung der Wachstumskräfte zuwenden. Es geht darum, die weithin viel zu hohe Arbeitslosigkeit rasch und nachhaltig zu senken und alle verfügbaren Arbeitskräfte in den Erwerbsprozess zu integrieren. Das impliziert auch einen Kurswechsel der Sozialpolitik. Soziale Sicherheit darf nicht länger mit aufgeblähter Staatstätigkeit verwechselt werden. Im Gegenteil: der Staat muss seinen überzogenen Anspruch an das Sozialprodukt deutlich vermindern. Er kann nicht länger zu hohen Kosten Daseinsvorsorge für alles und jeden bieten.

Das heißt nicht, den sozialen Gedanken aufzugeben. Vielmehr gilt es, bessere, langfristig tragfähige Lösungen zu etablieren – gerade mit Blick auf die demographische Entwicklung. Erforderlich ist eine neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. Wenn es gelänge, einen Teil der Verantwortung für die soziale Sicherheit zurück zu den Bürgern zu verlagern, könnte der Teufelskreis immer höherer Abgaben und weiter steigender Arbeitslosigkeit durchbrochen werden. Dann bliebe auch mehr Raum für die Unterstützung der wirklich nicht leistungsfähigen Menschen, die derzeit mitunter zu kurz kommen. Das Gros der Bürger aber ist heute durchaus in der Lage, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen.

Lebensarbeitszeit

Vorrangig ist eine neue Architektur der Alterssicherung und im Gesundheitswesen. Die Dominanz der staatlichen Institutionen bei der Absicherung dieser Lebensrisiken muss gebrochen werden. Nur so kann Spielraum für mehr Eigenvorsorge entstehen und eine Überforderung der künftigen Steuer- und Beitragszahler vermieden werden. Um die staatlichen Alterssicherungssysteme abzuspecken, müssen zunächst die Fehlentwicklungen der Vergangenheit korrigiert werden. Vor allem gilt es, dem Trend zu immer kürzeren Lebensarbeitszeiten entgegenzuwirken. In Deutschland befinden wir uns schon heute in der Situation, dass die Phase der Erwerbstätigkeit kaum noch länger ist als die in Abhängigkeit verbrachte Zeit. Ein Bundesbürger tritt heute im Durchschnitt erst mit deutlich über 20 Jahren voll ins Erwerbsleben ein, zahlt rund 38 Jahre Rentenversicherungsbeiträge und scheidet im Alter von 60 Lebensjahren aus dem Beruf. Danach bezieht er noch 17 Jahre eine gesetzliche Rente. Bei Akademikern mit späterem Berufseintritt ergibt sich eine noch problematischere Relation.

Wir brauchen gerade in den alternden Ländern Europas wieder eine höhere Erwerbsbeteiligung von Jüngeren, von Frauen und von Älteren. Die vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich, viel zu lange Dauer der Erstausbildung muss gekürzt werden – zumal auch Weiterbildung während des Berufslebens immer wichtiger wird. Außerdem gilt es, die Erwerbstätigkeit von Frauen zu fördern. In Deutschland und Frankreich sind heute nur rund 60% der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig; in Italien und Spanien beträgt die Quote sogar nur rund 50%. Solche geringen Erwerbsquoten können sich die alternden Länder angesichts des drohenden Arbeitskräftemangels nicht länger leisten.

Besonders dringlich ist eine Abkehr von der verfehlten Praxis der Frühverrentung. Die in vielen Ländern bestehenden Anreize zum Vorruhestand müssen beseitigt und die Altersgrenze für den Bezug einer vollen Rente muss angehoben werden. Erste Korrekturen in diese Richtung sind in verschiedenen Ländern eingeleitet worden. Sie sind aber in der Regel noch zu zaghaft. Im kommenden Jahrzehnt sollte der Renteneintritt mit 67 Jahren die Regel sein. Mit einem höheren Renteneintrittsalter lässt sich eine doppelte Dividende erzielen. Wenn die Versicherten später ins Rentenalter eintreten, also länger arbeiten, steigt einerseits die Länge der Beitragsperiode, andererseits verringert sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer. Beide Effekte tragen nachhaltig zu einer Stabilisierung der Rentenfinanzen bei.

Mit der Anpassung der Lebensarbeitszeit an die lange und nach aller Voraussicht weiter zunehmende Lebenserwartung wäre eine wichtige Aufgabe gelöst. Allerdings geht der Reformbedarf weit darüber hinaus. Auch wenn der Staat den Bürgern künftig erst von einem deutlich höheren Lebensalter an als heute eine Rente gewährt, wird das bislang noch hohe Niveau der staatlichen Renten wegen des mangelnden Nachwuchses an Beitragszahlern nicht nachhaltig zu finanzieren sein. Vor allem die jüngeren Bürger müssen daher mit erheblichen Einschnitten bei den Renten rechnen. Entsprechend groß fällt bei den Jungen daher die absehbare Lücke zwischen dem eigenen Erwerbseinkommen und der späteren staatlichen Rente aus. Sie kann nur durch vermehrtes privates Vorsorgesparen gedeckt werden.

Eigenvorsorge

Die Notwendigkeit vermehrter Eigenvorsorge sollte nicht (nur) als unvermeidbares Übel, sondern auch als Chance begriffen werden. Das private Vorsorgesparen bietet nennenswerte Vorteile für den Einzelnen sowie für die Volkswirtschaft. Beiträge bzw. Prämien, die die Bürger bei privaten Institutionen – Banken, Investmentfonds, Rentenversicherung oder betrieblichen Vorsorgeträgern – ansparen, lassen eine höhere Rendite erwarten als die Beiträge an eine staatliche Rentenversicherungen, zumal die Spargelder auch in Ländern mit günstigeren demographischen Perspektiven angelegt werden können.

Zudem ist ein privater Kapitalstock grundsätzlich besser vor staatlichen Eingriffen geschützt als die Anwartschaften in einer Kollektivversicherung. Eine Gewichtsverlagerung hin zu mehr privater Vorsorge kann daher die Bereitschaft der Bürger zur Leistung in der offiziellen Wirtschaft und zur Kapitalbildung stärken. Je mehr Kapital gebildet, von leistungsfähigen Kapitalsammelstellen verwaltet und über die Finanzmärkte den produktivsten Unternehmen zugeführt wird, desto kräftiger kann künftig die Wirtschaft wachsen.

Der 2002 in Deutschland erfolgte Einstieg in die systematische Förderung des Vorsorgesparens im Rahmen der individuellen Vorsorge und der betrieblichen Altersversorgung markiert deshalb eine wichtige Weichenstellung. Daran könnten sich grundsätzlich auch andere Partnerländer mit Nachholbedarf beim Ausbau der privaten Altervorsorge orientieren. Im Interesse einer möglichst breiten Akzeptanz seitens der Bürger sollte der Staat die private Vorsorge freilich weniger stark regulieren, als es in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.

Wachstumsmarkt Gesundheitswesen

Während ein Umbau der Alterssicherungssysteme ungeachtet der eingangs erwähnten Proteste einzelner Gruppen allmählich in Gang kommt, stehen im Gesundheitswesen vielerorts Strukturreformen noch aus. Bislang hat sich die Politik in diesem Bereich meist nur auf Kostendämpfungsprogramme konzentriert, die früher oder später unwirksam wurden. Dabei kann es nicht bleiben. Eine solche Politik torpediert eine effizientere, humane Gesundheitsversorgung und bietet keine Perspektive für die Zukunft.

Der Gesundheitssektor ist ein Wachstumsmarkt mit großem Potenzial. Dafür sorgt eine rasante Rate des Fortschritts von Medizin und Pharmazie. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten neuer Basistechnologien wie der Gentechnik und der Informationstechnologie verfügt dieser Wachstumsmotor weiterhin über große Schwungkraft. Zugleich nimmt die Gesundheit einen hohen Rang in der Werteskala der Bürger ein.

Dies spricht – insbesondere in den alternden Ländern – für eine dynamische Entwicklung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Europa wäre schlecht beraten, dieses Potenzial nicht bestmöglich zu nutzen – zumal im Gesundheitsbereich quantitatives und qualitatives Wachstum Hand in Hand gehen. Ein prosperierender Gesundheitssektor kann eine große Zahl attraktiver Arbeitsplätze bieten und einen wichtigen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung leisten. Zugleich besteht die Chance, dass viele Menschen vom medizinisch-technischen Fortschritt profitieren können. Die Wachstumschancen werden heute noch viel zu wenig erkannt. Stattdessen behindern staatliche Regulierung und Rationierung die Entfaltung der Gesundheitsmärkte.

Hier ist ein Umdenken erforderlich. Anstatt immer wieder neue Regulierungen für den Gesundheitsbereich zu erfinden, wäre es sinnvoll, mehr Markt und mehr Wettbewerb zu wagen. Wettbewerb sorgt besser als staatliche Regulierung dafür, dass Wachstumskräfte freigesetzt und die heute zu beobachtende Fehllenkung und Verschwendung von Beitragsgeldern vermieden werden.

Wettbewerb kann sich nur dort entwickeln, wo der Staat liberale Rahmenbedingungen setzt und sich mit Interventionen und eigenen Leistungsangeboten zurück hält. Dies spricht dafür, von dem heute noch vielerorts üblichen Vollkaskoprinzip bei den staatlichen Krankenkassen Abschied zu nehmen und deren Leistungsangebot auf die Absicherung größerer Risiken, d.h. schwerer Krankheiten, zu beschränken.

Zugleich müsste ein Versicherungsschutz in diesem Mindestumfang für alle Bürger obligatorisch sein. Auf diese Weise ließe sich zum einen Trittbrettfahrerverhalten verhindern. Zum andern entstünden neue Freiräume für eine an den individuellen Bedürfnissen orientierte Eigenvorsorge. Der mündige Bürger sollte über den Umfang des Versicherungsschutzes im Krankheitsfall grundsätzlich selbst entscheiden können.

Des Weiteren sollte das Übermaß an Umverteilung bei der Finanzierung staatlicher Gesundheitsleistungen eingeschränkt werden. Institutionen, deren Aufgabe darin besteht, Lebensrisiken abzusichern, sind kein geeigneter Ort für verteilungspolitische Maßnahmen im Sinne einer Unterstützung wirklich Hilfsbedürftiger. Das gilt schon deshalb, weil der Bedarf an Gesundheitsleistungen im Allgemeinen wenig mit Bedürftigkeit zu tun hat.

Wo dies missachtet wird, besteht die Gefahr unsinniger Verteilungseffekte und damit der Fehlleitung von knappen Mitteln. Ein Beispiel dafür ist der generelle unentgeltliche Versicherungsschutz von Ehegatten ohne eigenes Einkommen, der etwa in Deutschland allen verheirateten Beitragszahlern unabhängig von deren Bedürftigkeit gewährt wird. Verzicht auf Umverteilung impliziert, dass die Beiträge zur Krankenversicherung an relevanten Risiken, nicht aber am Einkommen orientiert sein sollten. Im Rahmen einer obligatorischen Mindestsicherung wären einheitliche Beiträge für alle Bürger sachgerecht. Auf dieser Basis könnte auch Wettbewerb zwischen den Versicherungsträgern initiiert werden. Verteilungspolitische Ziele hingegen lassen sich mit dem Instrumentarium der Steuer- und Transferpolitik effizienter erreichen.

Der Arbeitsmarkt

Reformbedürftig ist auch die Arbeitsmarktpolitik. Staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt, sei es durch Beschäftigungsprogramme, sei es durch Mindestlöhne, sei es durch hohe Transfers an Arbeitslose, haben sich als Mittel erwiesen, Menschen von marktorientierter Arbeit fern zu halten. Sie verzerren die zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage notwendigen Marktsignale. Der Staat verknappt und verteuert durch solche Eingriffe das Angebot an Arbeitskräften und erschwert damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Wirtschaft.

Statt den Mangel an Arbeitsplätzen schlecht zu verwalten, gilt es, die Marktkräfte zu stärken. Dazu muss sich die Politik zum Abbau verfehlter Schutzvorschriften durchringen, und sie muss größere Freiräume für eine an den Gegebenheiten des Arbeitsmarkts orientierte Lohnbildung schaffen. So zeigen Erfahrungen aus den Niederlanden, dass die Korrektur komfortabler Sozialleistungen zusammen mit langfristig moderaten Lohnerhöhungen zu mehr Beschäftigung führen kann. Dort vereinbarten die Tarifparteien 1982 im so genannten Akkord von Wassenaar eine langfristig orientierte Lohnpolitik mit Augenmaß, die bis Ende der neunziger Jahre durchgehalten wurde. In dieser Phase stiegen die Löhne im Durchschnitt jährlich um knapp 2,5 Prozent, und die Arbeitslosigkeit ging von fast 10 auf 3,3 Prozent zurück. In Westdeutschland hingegen nahm die Arbeitslosigkeit während dieser Zeit bei wesentlich kräftigeren Lohnsteigerungen von 9 auf knapp 10 Prozent zu.

Welches Politikfeld man auch betrachtet, das Fazit ist eindeutig: Europas Sozialstaatsmodelle sind nicht zukunftsfähig. Bedauerlicherweise blieb das günstigste Zeitfenster für die erforderliche sozialpolitische Kehrtwende, die achtziger Jahre mit dem damals noch stark von jüngeren Altersjahrgängen geprägten Bevölkerungsaufbau, ungenutzt. Heute ist es für einen gänzlichen Abriss der tradierten Systeme fast schon zu spät, weil der Aufbau neuer privatwirtschaftlich organisierter Modelle der sozialen Sicherung insbesondere bei der Altersvorsorge vieler Jahre bedarf. Aber grundlegende Reformen mit dem Ziel einer entschlossenen Reduzierung des übergroßen Staatssektors und einer nachhaltigen Stärkung der privaten Vorsorge tun gleichwohl Not.

Staatliche Hilfe sollte sich künftig – so weit wie möglich – direkt an bedürftige Personen statt an Institutionen und Objekte richten. Dies gilt für viele Bereiche, angefangen von der Beschäftigungsförderung über das Gesundheitswesen bis hin zum Hochschulbereich. Personengebundene Transfers sind dem staatlichen Angebot sozialer Leistungen weit überlegen. Sie ermöglichen eine treffsichere Förderung, schaffen Freiräume für privates soziales Engagement und gestatten es im Wettbewerb stehenden Privatanbietern, die Leistungen zu erbringen. Private Anbieter sind nicht nur kostengünstiger, sondern gewährleisten meist auch eine bessere Qualität der angebotenen Dienste.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2003, S. 23 - 30

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