Buchkritik

01. Juli 2014

Zwischen Hitler und Stalin

Eine westöstliche Spurensuche nach den Tiefenschichten von „89“

Wie hat sich die totalitäre Erfahrung in Osteuropa auf die Menschen, namentlich die jüdische Bevölkerung ausgewirkt? Um das heraus-zufinden, hat sich Marci Shore nach dem Umbruch von 1989 auf die Reise gemacht. Am Ende steht ein Kaleidoskop bitterer Jahrhunderterfahrungen, im Lichte derer die Herausforderungen von heute beherrschbar erscheinen.

Der Epochenwechsel von 1989, der sich dieses Jahr zum 25. Mal jährt, scheint in deutscher Perspektive inzwischen allein auf das Gedenken des Mauerfalls geschrumpft. An die Umwälzungen in den Nachbarländern erinnern höchstens noch ein paar vage Prag-Reminiszenzen. Und was die Kontinuität postkommunistisch korrupter Herrschaftsausübung betrifft, so scheinen Öffentlichkeit und EU-Kommission stets aufs Neue verdutzt, was sich da so alles tut zwischen Bratislava und Bukarest.
Auch der in Osteuropa nach wie vor virulente Antisemitismus wird kaum wahrgenommen. Selbst als die Herrscher im Kreml jetzt den dreisten Versuch unternahmen, die ukrainischen Juden zum Zweck der Delegitimierung des Kiewer Maidan-Aufstands zu instrumentalisieren, kam man im Westen nicht auf die Idee, das mit dieser unseligen Tradition in Verbindung zu bringen. Umso wichtiger, dass die in Yale lehrende Historikerin Marci Shore (ihr Ehemann ist Timothy Snyder, der preisgekrönte Verfasser von „Bloodlands“) mit „Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa“ ein Buch vorgelegt hat, das es in Stil und Analyse durchaus mit Garton Ashs 89er-Meisterwerk „Ein Jahrhundert wird abgewählt“ aufnehmen kann.
Dabei kommt der 1972 geborenen Amerikanerin die späte Geburt zugute: Vermeintlich alte, bis zur Erschöpfung erzählte Geschichten werden unter ihrem unbefangenen Blick neu lebendig. Etwa wenn sie in Toronto Paul Wilson trifft, einen ehemaligen Englischlehrer und seinerzeit Leadsänger der tschechischen Rockgruppe „Plastic People of the Universe“, und sich von ihm über die Prager Oppositionszene um Václav Havel erzählen lässt.

Irrwitzige Überlebensgeschichten

Shores Buch gleicht einer westöstlichen Bildungsreise, vereint Alltags­beobachtungen mit Begegnungen, ­Interviews, Archivrecherchen und Reflexionen. Mit verschiedenen Stipendien ausgestattet, war die Studentin seit Beginn der neunziger Jahre immer wieder auf Reisen gegangen.
In der tschechischen Provinz schlägt sie sich als Nachhilfelehrerin in einer noch stark der alten Zeit verhafteten Schule durch und knüpft Freundschaften zu heimkehrenden – und rasch desillusionierten – Emigranten. In der Slowakei und in Rumänien erlebt sie, wie einstige Regimekollaborateure sich ganz unverfälscht als Nationalchauvinisten geben – gegen das liberale Westeuropa, gegen einheimische Minderheiten, gegen Juden ohnehin. Vor allem deren Geschichte beginnt Shore zu interessieren – und zwar jenseits der alleinigen Fokussierung auf den Holocaust.
Bei Aufenthalten in Warschau, Krakau, in Moskau, in Kiew und Lwiw stößt sie auf jene Jahrhundertbiografien polnischer Juden, die sich entweder dem Zionismus verschrieben hatten oder dem Kommunismus. Letzteres endete auf verhängnisvolle Weise tragisch, führte aber in einigen Fällen zu einem beeindruckenden Engagement als Dissidenten.
Gewiss: Zu diesem Thema gibt es schon eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, von Shlomo Na’amans „Marxismus und Zionismus“ über Francois Fejtös „Judentum und Kommunismus“ bis hin zu Léon Poliakovs Standardwerk „Vom Antisemitismus zum Antizionismus“. Marci Shore aber gebührt das Verdienst, anhand konkreter, geradezu irrwitziger Lebens- und Überlebensgeschichten damalige Prägungen und Entscheidungen auch einer jüngeren Leser­generation begreiflich zu machen.
Mit unprätentiöser Neugier nimmt uns Marci Shore auf diese Reise mit – in New Yorker Wohnküchen steinalter linker Juden, die noch immer mit den „rechten“ Zionisten ihrer Jugend einen Strauß ausfechten, zu antistalinistischen Überlebenden des Warschauer Ghetto-Aufstands oder zu improvisierten Sabbat-Abenden, an denen einst katholisch Getaufte oder geborene Atheisten ein frisch erlerntes Jiddisch radebrechen oder von der Auswanderung nach Israel träumen.
Sie sind die Kinder, häufig bereits schon die Enkel polnischer Kommunisten, die einst im Kreml die einzige Alternative zu Hitler gesehen hatten. Aber wie konnten Juden, die 1939 nach der Aufteilung Polens zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR doch ebenfalls zu Tausenden in Stalins kasachische und sibirische Arbeitslager gesteckt wurden, nach ihrer Rückkehr dem neuen Gewaltregime dienen?

„Nazistische Zionisten“

Es sind die Nachgeborenen, die bei Marci Shore zu Wort kommen. „Für die Generation meiner Eltern war die Entscheidung klar. Sie hieß: der Gulag oder die Gaskammern. Und aus dem Gulag kamen die Leute zurück – zumindest jene, die Glück hatten. Wenn die Juden die Kommunisten akzeptierten, dann nur, weil die Kommunisten die Einzigen waren, die uns akzeptierten – für einige Zeit.“
Dennoch waren dann viele der in den stalinistischen Schauprozessen der fünfziger Jahre Angeklagten jüdischer Herkunft. Auch ihr totaler Bruch mit der Religion rettete sie nicht mehr. Allerdings waren auch viele der damals Verantwortlichen Juden, und es spricht für die skrupulöse Präzision der Historikerin, dass sie sich um diese Tatsache nicht mit dem gängigen Argument herummogelt, diese Funktionäre seien doch wohl weniger jüdisch als radikal stalinistisch gewesen.
In jenem Jahr 1968, in dem in Prag die Sowjetpanzer rollten, hatte die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei die in Warschau protestierenden Studenten der „zionistischen Kon­spiration“ geziehen und die gegen die Zensur gerichteten Demonstrationen als Vorwand genutzt, eine antisemitische Kampagne loszutreten. Die ­regierenden Kommunisten verbreiteten die hanebüchene Unterstellung, „nazistische Zionisten“ hätten sich gegen Polen verschworen, und 13 000 Juden – darunter viele Holocaust-Überlebende und bislang überzeugte Kommunisten – mussten ihre polnischen Ausweise gegen Ausreisevisa eintauschen.
Manche hatten jedoch Polen schon früher in Richtung Israel verlassen, wie etwa Adolf Berman, der als bekennender Zionist im Ghetto-Aufstand gekämpft hatte und seine ­Rettung Wladysław Bartoszewski verdankte, dem katholischen Auschwitz-Überlebenden, späteren Solidarnosc-Aktivisten und polnischen Außenminister in den neunziger Jahren. Nach Kriegsende war Bartoszewski selbst vom stalinistischen Sicherheitsdienst verhaftet worden. Dessen damaliger Politbüro-Chef war kein anderer als der Stalin-gläubige Jakub Berman – der Bruder des zionistischen Adolf Berman.
Man liest all diese Lebensgeschichten mit atemloser Aufmerksamkeit und versteht irgendwann, weshalb der 1968 als junger Mann nach Paris emigrierte Politikwissenschaftler Alexander Smolar bei Marci Shores Nachfragen zu diesem Resümee kommt: „Dennoch – alles Gute an mir habe ich von meinen Eltern. Wenn ich mich mehr als zehn Jahre darum bemüht habe, das System niederzureißen, das sie mit errichtet haben, dann nur wegen der Werte, die sie mir vermittelt haben.“
In der Tat eine schöne Pointe: Aus dem kommunistisch missbrauchten Wort der Solidarität war dann Anfang der achtziger Jahre die polnische „Solidarnosc“ geworden, und was damals an der Danziger Lenin-Werft begann, fand sein glückliches Ende beim Berliner Mauerfall. Nicht zuletzt jüngere polnisch-jüdische Dissidenten wie Adam Michnik und Alexander Smolnar waren in diesem Kampf engagiert, und Ältere wie Marek Edelman, einst der letzte Kommandant des Warschauer Ghetto-Aufstands, fanden sich wie selbstverständlich an ihrer Seite.

Das vitale Erbe von „89“

Und heute? Im Warschau der Gegenwart trifft Marci Shore eben nicht auf dumpfe rechtsnationale Antisemiten, sondern auf erfreulich viele junge Leute, die weiterhin davon überzeugt sind, dass sich Veränderungen lohnen – trotz alledem. „Diese junge Generation hatte gelernt, sich vor dem kollektivistischen Geist und dem Wunsch nach der großen Erzählung zu fürchten. Sie standen vor der Aufgabe, solche Welterklärungsmodelle zu verabschieden, ohne dabei ethische Werte aufzugeben, sich von der Ideologie zu befreien, ohne dabei in Nihilismus zu verfallen. Während ich als Zugereiste Ähnliches gelernt hatte: Ich erfuhr, dass die edelsten Motive zu den verwerflichsten Ergebnissen führen konnten und dass Handlungen zwangsläufig Folgen hatten, die ihre Absichten bei weitem übertrafen.“
Weit davon entfernt, diese Einsicht als Alibi für politische Abstinenz zu missbrauchen, zeigt Shore das vitale Erbe von „89“: jene humane Skepsis, die ein menschenrechtliches Engagement erst ermöglicht. Ein Engagement, das desto eher fruchten wird, je günstiger die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind und je weniger sich die Aktivisten als einsame Rufer in posttotalitärer Wüste fühlen müssen. Und es ging dabei nicht nur um die Aufklärung der kommunistischen Verbrechen: Das Wendejahr 1989 bietet die Chance, dem Totschweigen oder Verfälschen jüdischen Vor- und Nachkriegslebens durch eine homogenisierende KP-Lesart ein Ende zu bereiten.
Dass die Autorin gerade in Polen viele interessante und fruchtbare Diskussionen dazu erlebt, ist wenig verwunderlich. Handelt es sich doch um ein Land, wo die exkommunistische Linke 1999 für einen Beitritt zur NATO votierte und wo die nationalistische Kaczynski-Rechte ihre Wahlniederlage grummelnd zur Kenntnis nahm, aber eben nicht auf die Idee käme, mit irgendwelchen Garden (wie in Ungarn) zu kooperieren oder bewaffnete Freischärler auszubilden.
Anders in Rumänien, wo die Autorin auf rechtslinks-populistische Bürgermeister (zumeist ehemalige Mitglieder von Ceausescus Securitate) stößt, noch einmal ganz anders in Russland, wo sie um einen de jure eigentlich garantierten Zugang zu ­historischen Moskauer Archivakten zu kämpfen hat. Im derzeitigen Konflikt um die Ukraine scheint diese Epochen-Thematik wieder aufzutauchen: Wird sich die Ukraine – zusammen mit Russland – zivilgesellschaftlich modernisieren können oder wird sie im Dämmer etatistischer Misswirtschaft, autoritärer Machtausübung und historischer Amnesie verbleiben?
So skeptisch man die gegenwärtige Lage aber auch beurteilen mag – angesichts der bitteren Jahrhunderterfahrungen, die Marci Shores Gesprächspartner machen mussten, erweisen sich die heutigen Gefahren und Herausforderungen als anachronistischer Nachklapp, vor dem man nicht kapitulieren muss. Oder wie es der Publizist und ehemalige Solidarnosc-Aktivist Dawid Warszawski seiner amerikanischen Generationsgenossin so treffend in den Schreibblock formulierte: „Wer das Jahr 1989 erlebt hat, hat nicht das moralische Recht, Pessimist zu sein.“

Marci Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa.München: C.H. Beck Verlag, 2014, 376 Seiten, 26,95 €

Marko Martin 
lebt als freier Schrift-steller in Berlin. Dem-
nächst erscheint sein Buch „Treffpunkt 89. Von der Gegenwart einer Epochenzäsur“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 138-141

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