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29. Juni 2018

Die funktionierende Ausnahme

Im krisengeschüttelten Südamerika ist Uruguay ein Anker der Stabilität

In den Buchhandlungen auf der Avenida 18 de Julio finden sich die Biografien über den ehemaligen Präsidenten ebenso wie auf dem sonntäglichen Flohmarkt nahe des Hafens von Montevideo. Dazu die Fotografien und Zeitungsbilder des Nationalhelden: zurückgekämmtes, gewelltes Haar, Bart, weißes Hemd und Frack. Und ein Name, der (falsche) Assoziationen des Pompösen weckt: Señor El Presidente José Pablo Torcuato Batlle y Ordóñez (1856–1929).

Personenkult also selbst hier im sozialliberal regierten Uruguay, das noch immer als „Schweiz Südamerikas“ und zusammen mit Chile und Costa Rica seit Langem in Fragen der Wirtschaftskraft, Lebensqualität und freiheitlichen Gesellschaft als Spitzenreiter gilt? Nicht ohne Grund. Denn Präsident Batlle y Ordóñez hat in seinen zwei Amtszeiten die Grundlagen des bis heute funktionierenden Sozialstaats errichtet: Arbeitslosengeld, allgemeine Haftpflichtversicherung, Trennung von Kirche und Staat, Kruzifix-Verbot in Krankenhäusern, allgemeines Wahlrecht, 48-Stundenwoche, Altersrente ab 60, kostenloses Schul- und Bildungssystem.

Uruguayer, vom großen Nachbarn Argentinien zuweilen gönnerhaft-­herablassend als „die netten Leute vom anderen Flussufer“ bezeichnet, können damit umgehen, notorisch unterschätzt zu werden. Ihr Spott über jene auswärtige Ignoranz, die zu großsprecherischen Polit-Bankrotteuren wie General Perón oder Comandante „Che“ Guevara aufblickt, ist milde – hat es doch ausgerechnet ein Uruguayer ins kollektive internationale Gedächtnis geschafft, der gängige Stereotype bediente: Eduardo Galeano und seine kapitalismuskritische Bibel „Die offenen Adern Lateinamerikas“.

Das uruguayische Wunder – gewaltsam unterbrochen in den Jahren der Militärherrschaft von 1973 bis 1985 – ist derweil weiterhin Realität. Nachdem der zum gewitzten Sozialliberalen gewordene Ex-Guerillero José Mujica vor drei Jahren als Präsident abtrat, ist nun mit Tabaré Vázquez sein politisch ähnlich sozialisierter Amtsvorgänger auch der Nachfolger. Das bedeutet Kontinuität, fortgesetzte wirtschaftliche Prosperität bei beibehaltenem hohem Sozialniveau – und sorgt zugleich bei der jüngeren Genera­tion für Verdruss: Der ­medial noch immer präsente Mujica ist 83 Jahre alt, Amts­inhaber Vázquez ist 78, und auch der 78-jährige Wirtschaftsminister Danilo Astori werkelt bereits seit einer gefühlten Ewigkeit.

Das Tor zu Brasiliens Binnenmarkt

Dass Uruguay in der IT-Branche und bei der Digitalisierung nicht noch schneller ist, wird von den ungeduldigen jungen Leuten deshalb vor allem jenen „Alten“ vorgeworfen. Dazu einige Skandälchen um staatsnahe Unternehmen und ein Raubmord in den Außenbezirken der geruhsam-­sicheren Hauptstadt, der die aufgeschreckte Öffentlichkeit seit Wochen beschäftigt. Auch die Diversifizierung der auf Agrarexporte konzentrierten Wirtschaft lässt auf sich warten – kurz: Das seit 2005 regierende Parteienbündnis Frente Amplio, mit Christdemokraten und moderaten Kommunisten, ist in die Jahre gekommen und bräuchte dringend neuen Anschub, weibliche Führungskräfte inklusive.

Dennoch: Der Staat ist nicht überschuldet, die Sozialausgaben sind nicht auf Pump finanziert, auch werden von der Frente weder Presse und Institutionen noch die freie Wirtschaft gegängelt. Auch deshalb ist die Kritik an der Regierung konkret anstatt alarmistisch, und selbst einfluss­reiche liberale Ökonomen stellen das uruguayische Modell nicht infrage. Dabei hatte doch, zumindest aus puristischer Sicht à la Hayek und Friedman, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter ­Batlle y Ordóñez alles mit einer vermeintlichen Todsünde begonnen: Um die einheimische Wirtschaft aufzubauen und neben der Landwirtschaft auch Industrie­gründungen als Einkommensquelle zu generieren, hatte es anfangs sehr wohl Importzölle und temporären Protektionismus gegeben – Uruguay sollte nicht von ausländischen Großkonzernen überrannt und zur billigen Produktionsstätte gemacht werden.

Das Erfolgsmodell des Landes über ein ganzes Jahrhundert: untauglich für Ideologen jedweder Couleur. In der deutsch-uruguayischen Handelskammer vis-à-vis der sonnenhellen Plaza Independencia versucht man derweil, Deutschland und der EU zu vermitteln, dass der moderne Hafen von Montevideo das Tor ist für den riesigen brasilianischen Binnenmarkt, der von hier aus auf dem Schienenweg zu erreichen ist. Das sind die Hard Facts des Ökonomischen. Und die Soft Power des Lebensweltlichen: Im Hafenviertel Montevideos kann man gefahrlos durch eine sozial ausbalancierte Nachbarschaft spazieren.

„Entweder der Westen wacht auf oder China macht den Schnitt“, heißt es in der Handelskammer lapidar, denn schon jetzt sind die Lobbys der Hauptstadthotels voll chinesischer Geschäftsleute. Zu beobachten ist jedoch auch dies: verdutzte Mienen bei den Parteikapitalisten, denn bereits hier läuft ihr autoritäres Gebaren ins Leere – Uruguays Rezeptionisten, Kellner und Zimmermädchen sind kein zu kujonierendes „Personal“, sondern freundlich-selbstbewusste Staatsbürger.

Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Im Frühjahr ­erschien sein jüngstes Buch, die ­Monographie „Nelson Mandela“ (Reclam).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 128 - 129

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