Weltmacht und Menetekel
Dass der Westen zu wenig über das Reich der Mitte weiß, darüber ist man sich unter Experten schnell einig. Doch ob wir es mit einem finsteren digitalen Überwachungsstaat zu tun haben oder mit einem Land, dessen Bevölkerung sich wahre Autokraten wünscht, das ist auch unter den Autoren der drei hier besprochenen Bücher umstritten.
Wenn spätere Historiker sich dereinst mit dem Wandel unserer China-Wahrnehmung beschäftigen sollten, dann könnten sie ihn an den Untertiteln der publizierten Sachbücher festmachen. Diese sind inzwischen fast genauso lang wie zu Zeiten der Forschungsreisen und der Kolonialreiche, als dem westlichen Leser Enzyklopädisches geliefert wurde, verbunden mit praktischen Hinweisen für eigene Geschäftsprojekte.
Skepsis und Furcht
Freilich findet das Revival des Ratgeber-Genres nun unter umgekehrten Vorzeichen statt: An die Stelle der westlichen Selbstsicherheit, mit der man Informationen über eine vermeintlich exotische Region sammelte, sind Skepsis oder gar Furcht getreten. Man versucht, sich mit Wissen zu wappnen angesichts eines China, das längst zu einem Global Player geworden ist. Und das mit Xi Jinping einen Staats- und Parteichef hat, der über eine Machtfülle verfügt, wie es sie seit dem Ende der Mao-Zeit nicht mehr gegeben hatte.
Auch deshalb gibt der britische Sinologe und Ex-Diplomat Kerry Brown seinem Buch über „Die Welt des Xi Jinping“ den Untertitel „Alles, was man über das neue China wissen muss“. Brown bietet weit mehr als nur eine Beschreibung von Xi Jinpings forscher Re-Ideologisierung der Kommunistischen Partei, seiner zur Machtfestigung benutzten Antikorruptionskampagnen oder der weltumspannenden Wirtschaftsprojekte. Er gräbt tiefer und beschreibt ein Dilemma: „Ironischerweise ist dadurch, dass Chinas Wachstum so sehr vom nichtstaatlichen Sektor abhängig ist, die Partei zum Parasiten geworden, dessen Überleben auf jenem beruht. Denn die Partei braucht diesen Sektor für Arbeitsplätze und für Innovation und Wachstum.“
Gerade deshalb aber bleibt Xi nichts anderes übrig, als die Partei zu einer Art politischer Inkarnation Chinas zu überhöhen, sie als einzigen Garanten der Stabilität darzustellen und ihren Kontrolleinfluss überall auszubauen: In der Wirtschaft ebenso wie in der Wissenschaft und Kultur, in der flächendeckend überwachten digitalen Kommunikation ohnehin. Doch wenn die Partei sich anheischig macht, jeden Winkel der Gesellschaft zu dominieren, wird bei auftretenden Problemen auch sie im Fokus stehen, d.h. der Parteichef selbst, der sich damit angreifbar macht.
„Am Ende sind es Unzufriedenheit und Missfallen im Volk, die das größte Risiko für einen Machtverlust der Partei bergen“, schreibt Brown. Sein Resümee fällt dann aber etwas fragwürdig aus: „Es wäre armselig und kleinkariert, wollte man den Menschen in China ihren Augenblick der Erneuerung in Abrede stellen. Letzten Endes sind ihre Sehnsüchte und Hoffnungen die wahren Autokraten des modernen China. Xi ist nicht mehr und nicht weniger ihr Diener.“
Der China-Experte nimmt hier nicht nur seine vorhergehenden Warnungen vor einem neuen chinesischen, als Herrschaftskitt dienenden Nationalismus zurück – er gerät bei seiner Verständnisrede auch in eine altkoloniale Empire-Rhetorik. Denn wer sind „die Menschen in China“? Muss man über sie – wenn auch in wohlmeinender Diktion – noch immer derart kollektivistisch sprechen?
Aufholeifer vs. Selbstgerechtigkeit
Der seit einem Vierteljahrhundert in China lebende Wirtschaftsjournalist Frank Sieren gibt seinem Buch „Zukunft? China!“ ebenfalls einen längeren, erklärenden Untertitel: „Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert“. Sieren zeigt, wie groß inzwischen die Herausforderung durch ein China ist, das längst nicht mehr mit der harmlos klingenden Vokabel „aufstrebend“ zu beschreiben ist. Wie überhaupt wird in diesem Buch, das voller hervorragend aufbereiteter Daten, Zahlen und Statistiken ist, so manche westliche Selbstgewissheit fast genüsslich zerpflückt.
So zeigt Sieren, dass derzeit 40 Prozent der Gewinne der deutschen Autoindustrie in China erwirtschaftet werden – jedoch mit abnehmender Tendenz. Denn China investiert längst in Elektroautos, wie ohnehin die Umweltproblematik der Regierung mittlerweile bewusst zu sein scheint: Die größten Wasserwerke und die meisten Windmühlen stehen inzwischen im Reich der Mitte, das im Jahr 2017 zehnmal soviel Gigawatt aus Solarzellen schöpfte wie das gesamte Europa. Hinzu kommt die Vorreiterrolle im Digitalen, wo man nach dem von der Partei festgelegten Ziel in einigen Jahren Marktführer sein will.
Nicht ohne Süffisanz wird an einem Beispiel die Diskrepanz zwischen europäischer Selbstgefälligkeit und chinesischer Aufhol-Präzision verdeutlicht: Während Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer stolz eine neue App zum Aufspüren von Funklöchern präsentiert, investiert China derzeit 500 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) und denkt darüber nach, bereits Grundschüler in KI-Kurse zu stecken. Hinzu kommt eine Geo- und Finanzpolitik, die darauf achtet, sich nicht in finanzielle Abhängigkeit zu begeben, gleichzeitig jedoch durch Billigkredite viele Länder entlang des gigantischen Projekts „Neue Seidenstraße“ an sich bindet. Auch für die USA ist China der größte Gläubiger.
Was hat der Westen all dem entgegenzusetzen, zumal Peking mit der Initiative „16 plus 1“ nun sogar europäische und EU-Länder erfolgreich umgarnt? Frank Sierens Plädoyer für ein Aufwachen der verschlafenen Brüsseler Bürokratie, für mehr Investitionen auch in Afrika klingt plausibel, geizt jedoch mit konkreten Vorschlägen. Zwar spricht er Bundeskanzlerin Merkel das entsprechende Problembewusstsein zu – was sie aus der mediokren Schar ihrer Kollegen heraushebe –, belässt es jedoch bei der Mahnung, dass angesichts der jetzigen Niedrigverschuldung gerade für Deutschland der Moment gekommen sei, in fortschrittliche Zukunftstechnologien zu investieren, bevor auch da Peking uneinholbar sei.
Recht abenteuerlich mutet dann die These an, dass die Russland-Sanktionen des Westens Präsident Putin „in die Arme Chinas“ treiben würden, wo doch ein europäisch-russischer Schulterschluss die einzige Gewähr biete, Pekings Ambitionen etwas entgegenzusetzen. So tabubrechend sich dieser Vorschlag auch gibt – er ist eher der Aufguss eines alten Großraum-Denkens, das die noch vorhandenen Potenziale freier Gesellschaften zusätzlich paralysieren würde.
Ohnehin scheint trotz beeindruckender Detailkenntnis auch Sieren ein bedenklich homogenes Menschenbild zu pflegen. In seinen Betrachtungen über digitale Überwachung bietet er Folgendes als Resümee an: „Was die Chinesen moralisch oder unmoralisch finden, müssen sie selbst entscheiden. Was sie ihrem Staat durchgehen lassen und was nicht, auch.“ Wer aber hätte „die Chinesen“ jemals nach ihrer Meinung gefragt? Wenn dann am Schluss ohne jegliche Distanz davon geschwärmt wird, dass nach dem Ende der westlichen Dominanz „nun China dafür sorgt, dass global die Mehrheit bestimmt“, geht der Autor endgültig in die Falle jener Xi Jinping-Ideologie, die nicht müde wird, das totalitäre Zukunftsbild eines hocheffizienten, von der KP gleichgeschalteten Staatsvolks zu entwerfen.
Digitaler Überwachungsstaat
Frank Sierens eloquente Affirmation findet in der neuesten Veröffentlichung von Kai Strittmatter, des China-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, einen ebenso wortmächtigen Widerpart. Sein Buch „Die Neuerfindung der Diktatur“ lässt sich nicht vom staatlich geförderten Bau von (Daten-)Autobahnen blenden und ist ebenfalls bereits im Untertitel programmatisch: „Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert“.
Strittmatter lässt keinen Zweifel daran, dass die Herausforderung nicht zuletzt eine ethische und politische ist, denn: „Ein Leben nach Abschaffung der Wahrheit, eingebettet in fake news, manipuliert durch ‚alternative Fakten‘ – ich lebe das seit zwanzig Jahren. Unter einem Regime, dem nun mit Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts und ihren radikal neuen Möglichkeiten der Kontrolle und der Manipulation Machtinstrumente bereitstehen, über die noch keine Diktatur verfügen konnte.“
Und der Westen? Ist nicht einmal ansatzweise auf die Konsequenzen solch digitaler Unterwerfungstechniken vorbereitet, wo jeder Bürger zu jeder Zeit im öffentlichen Raum gescannt, beobachtet und bewertet werden kann und ein „soziales Bonitätssystem“ etwa den Zugang zu Arbeitsverträgen, Krediten, ja selbst zu Bahnreisen vom penibel aufgelisteten Wohlverhalten abhängig macht. Sogar versäumte Verwandtenbesuche oder despektierliche Bemerkungen beim Chatten können hier einen Malus bedeuten – für die entsprechende Person, jedoch auch für deren Freundeskreis, der dann ebenso mit „Punktabzug“ bedroht wird: Nur wer gehorsam ist, darf konsumieren.
Mischung aus Orwell und Huxley
Anstatt jedoch diese perfide Mischung aus Orwells 1984 und Huxleys Schöner neuer Welt offensiv zu thematisieren, weigert sich der Westen laut Strittmatter, die beängstigende Realität anzuerkennen. Sofern denn altehrwürdige Institutionen wie der Wissenschaftsverlag Springer Nature oder das Unternehmen Apple nicht sogar noch weitergehen und sich den Zugang zum chinesischen Markt mit einem Kotau vor den dortigen Zensurpraktiken erkaufen.
Gleichzeitig wird das verunsicherte Europa durch die wie Pilze aus dem Boden schießenden staatlichen Konfuzius-Auslandsinstitute mit einer „Harmonie“-Ideologie gelockt, welche die verführerische Kunde gibt von einer Amnesie-seligen, gleichgeschalteten und ab nun vermeintlich nie mehr von Dissonanzen zerrissenen Gesellschaft. Von China direkt bezahlte Sinologen-Lehrstühle an deutschen Universitäten und der mehr oder minder subtile Kauf westlicher China-Experten tun ein Übriges, damit die Pekinger Diktatur weichgezeichnet wird.
Das gelingt auch deshalb, weil diese trotz aller Rigidität auf maoistische Askese-Forderungen verzichtet und den „Genossen Consumer“ äußerst subtil steuert. Kai Strittmatter zitiert Lehrer, deren Schüler zwar genaue Kenntnis über Zensur-aushebelnde „Tunnel-Software“ besitzen, diese jedoch nur nutzen, um verbotene Skandalgeschichtchen über Popstars und Modesternchen aufzufinden.
Wie sollte es auch anders sein, wenn inzwischen schon in Schulen so genannte „Himmelsaugen“ jede Gemütsregung von Schülern aufzeichnen und eine skeptische Mimik oder gar ein Gähnen Grund sein kann für Sanktionen. Der Untertanenstatus wird damit verinnerlicht, schließlich möchte niemand ein „Wortverbrecher“ sein, der gegen die verordnete Harmonie aufbegehrt.
Jene im Westen, die mit kulturrelativistischer Nonchalance all dies nun mit „Jahrtausende alter chinesischer Tradition“ erklären, konfrontiert Strittmatter abschließend mit den beeindruckenden Gegenbeispielen Hongkong und Taiwan, wo eine selbstbewusste, wiewohl ebenfalls chinesische Bürgergesellschaft dem Lockruf des Autoritären widersteht. Man wünscht insbesondere diesem Augen öffnenden Buch viele aufmerksame Leser.
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin.
Frank Sieren: Zukunft? China! Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert. München: Penguin Verlag 2018. 368 Seiten, 22,00 €
Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. München: Piper Verlag 2018. 288 Seiten, 22,00 €
Kerry Brown: Die Welt des Xi Jinping. Alles, was man über das neue China wissen muss. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2018. 155 Seiten, 16,00 €
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 137-140