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01. Juli 2013

Zögerliche Interventionisten

Das Eingreifen der Hisbollah in Syrien erhöht den Handlungsdruck des Westens

Mit der Beteiligung von Hisbollah-Kämpfern an der Wiedereinnahme des Ortes al-Qusair durch syrische Regierungstruppen hat der Konflikt eine neue Stufe erreicht. Im Westen dürfte dies die Debatten über die richtige Syrien-Politik neu entfachen. Die schiitische Miliz beginnt eine „völlig neue Phase“, deren Ausgang militärisch entschieden wird.

Für Hassan Nasrallah hat der Krieg in Syrien gerade erst begonnen. „Wir werden bis zum Ende gehen“, sagte der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah bei einer Fernsehansprache im Mai. Dem Präsidenten Baschar al-Assad versicherte der Schiitenführer in seiner Brandrede ebenso die Treue wie den eigenen Anhängern, die er auf eine „völlig neue Phase“ im Kampf der Parteimiliz einstellte: „Es ist unsere Schlacht und wir sind bereit dafür.“

30 Jahre nach ihrer Gründung als anti­israelische Miliz hat die Hisbollah offen militärisch auf Seiten der Regierung in Damaskus in den Krieg eingegriffen. Das Ziel ist klar: Die „Partei Gottes“ werde nicht zulassen, dass Syrien als „Rückgrat des Widerstands“ in „die Hände von Amerikanern, Israelis und Gruppen von Abtrünnigen“ falle, so Nasrallah.

Fast zweieinhalb Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Assad sind damit die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Nicht nur hat der Konflikt längst auf den Libanon übergegriffen. Im Irak liefern sich fünf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs sunnitische Milizen und die schiitisch dominierten Regierungstruppen von Ministerpräsident Nuri al-Maliki wieder offene Gefechte, denen allein in den vergangenen Monaten Tausende zum Opfer fielen. Auf mehr als 93 000 beziffern die Vereinten Nationen die Toten in Syrien selbst. Und nur zwei Wochen nach Nasrallahs öffentlicher Ankündigung, schiitische und iranische Interessen auch außerhalb des Libanons zu verteidigen, fiel die Stadt al-Qusair: Sunnitische Extremisten der mit Al-Kaida verbündeten Al-Nusra-Front lieferten sich Gefechte mit Hisbollah-Kämpfern, die kurz zuvor zu Hunderten aus der nahen Bekaa-Ebene kommend die libanesische Grenze überquert hatten.

Der sunnitisch-schiitische Konflikt, der die Politik im Nahen Osten seit dem von den Vereinigten Staaten geführten Einmarsch im Irak 2003 bestimmt, ist nun auch in Syrien zur dominierenden Variable im Machtkampf zwischen Aufständischen und dem Regime geworden. Nach der Einnahme al-Qusairs rief Al-Kaida-Führer Ayman al-Zawahiri zum „Dschihad in der Levante“ auf. In Damaskus sollten die sunnitischen Gotteskrieger ein islamisches Kalifat errichten, forderte der Nachfolger Osama Bin Ladens. Der Generalstabschef der Freien Syrischen Armee (FSA), Salim Idriss, warnte die Hisbollah nach dem Rückzug seiner Einheiten aus al-Qusair vor Vergeltung. Die Oppositionskämpfer seien bereit, „die Schlacht in den Libanon zu tragen“, um die Schiitenmiliz zu bekämpfen.

Der Libanon wird Kampfzone

Wegen des Übergreifens des Konflikts hat das Parlament in Beirut bereits die Wahlen um anderthalb Jahre auf November 2014 verschoben. Das hat es seit Ende des Bürgerkriegs 1990 nicht gegeben. Die syrische Luftwaffe hat zuletzt häufiger Ziele in sunnitischen Gebieten der Bekaa-Ebene angegriffen; Aufständische auf der syrischen Seite der Grenze beschossen die Hisbollah-Hochburg Baalbek. Auch in Tripoli an der Mittelmeerküste hat sich der sunnitisch-schiitische Stellvertreterkrieg seit dem Frühjahr verschärft: Bei Kämpfen zwischen Gegnern und Gefolgsleuten Assads kamen im Mai mehr als 30 Menschen ums Leben. 

Der Krieg in Syrien, das hat die Schlacht um al-Qusair deutlich gemacht, wird militärisch entschieden. Länger als ein Jahr hatte die bewaffnete Opposition im strategisch wichtigen Grenzgebiet zum Libanon die Oberhand – zur Beschaffung von Nachschub waren die direkten Rückzugsmöglichkeiten in die Bekaa-Ebene bedeutend. Diese Versorgungswege zu nutzen, dürfte schwieriger werden.

Al-Qusair ist nicht Syriens Stalingrad; eine entscheidende militärische Wende im ganzen Land ist auch westlichen Militärs zufolge noch nicht erkennbar, selbst wenn die Propaganda des Regimes das suggeriert: An der zehn Kilometer nördlich der libanesischen Grenze gelegenen Gemeinde vorbei verläuft die Verbindungsstraße von Damaskus über Homs zum Mittelmeer. Sollte es den Aufständischen eines Tages gelingen, die Hauptstadt einzunehmen, dann könnten sich Assad und seine Gefolgsleute in die alawitischen Orte an der Küste zurückziehen. Zentrale Bedeutung hat diese Verbindungsstraße aber auch für die Versorgung Aleppos. Und deshalb wird die nordsyrische Handelsmetropole wieder zu einem strategischen Ziel. 

Schon vor dem Fastenmonat Ramadan 2012 hatten Regime und Aufständische die Entscheidungsschlacht um die eng mit dem Assad-Gegner Türkei verbundene Stadt ausgerufen. Seitdem ist die Lage dort militärisch festgefahren. Wie in allen anderen großen syrischen Städten, Rastan ausgenommen, ist es der Opposition nicht gelungen, sämtliche Viertel einzunehmen. Berichte, wonach sich Assads Einheiten nach der Rückeroberung al-Qusairs zu Angriffen auf Aleppo rüsteten, riefen jedoch Mitte Juni die französische Regierung auf den Plan. „Wir müssen diese Aggression stoppen“, sagte Frankreichs Außenminister Laurent Fabius. „Es ist das nächste Ziel der Hisbollah und des Irans.“

Nicht nur in Paris ist man besorgt, dass die von Nasrallah in seiner Rede bekräftigte Allianz mit Assad und dem Iran als großer Sieger aus dem Syrien-Krieg hervorgeht. Die Gefahr ist durchaus real, und die Folgen wären weitreichend: Anders als im Kleinkrieg um Beirut 2008, als die von Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten unterstützten Anti-Hisbollah-Kräfte von den schiitischen Kämpfern besiegt wurden, hätte der Machterhalt des Regimes in Damaskus regionale Auswirkungen. Der Nachschub an Waffen aus dem Iran an die Hisbollah wäre weiter gesichert, der von Teheran über Bagdad bis zum Südlibanon reichende „schiitische Halbmond“ bliebe bestehen. Das erklärt die Anspannung in der französischen Regierung, die Mitte Juni darauf drängte, die Opposition stärker zu unterstützen. Man stehe, so Fabius, vor einem „Wendepunkt“.

Entscheidend für den weiteren Verlauf des Krieges wird sein, wie weit der amerikanische Präsident Barack Obama dem Druck der sunnitischen Golf-Staaten nachgeben wird, sich stärker in Syrien zu engagieren. Die Ankündigung von Obamas stellvertretendem Nationalen Sicherheitsberater Benjamin Rhodes Mitte Juni, die Hilfe für die syrische Opposition auszuweiten, deutet darauf hin, dass sich in Washington die Gewichte verschieben. Rhodes erklärte die neue Linie, die auch „militärische Hilfe“ einschließe, mit dem nunmehr erwiesenen Einsatz chemischer Waffen auf Seiten der Truppen Assads. Obama habe bereits vor einem Jahr erklärt, dies würde „seine politischen Kalkulation ändern, und das ist der Fall“, so Rhodes. Ein Umschwenken mit langem Vorlauf: Israelische, türkische, britische und französische Regierungsvertreter hatten Damaskus mehrfach bezichtigt, in kleinen Dosen chemische Kampfstoffe eingesetzt zu haben. Auch amerikanische Geheimdienste waren bereits im April „mit unterschiedlichen Graden an Gewissheit“ zu dem Schluss gekommen, dass das Assad-Regime „in geringem Maße“ C-Waffen eingesetzt habe.

Waffen in die richtigen Hände?

Wie weit Washington mit seiner neuen Hilfsbereitschaft gehen wird, ist noch nicht abzusehen. Eine Flugverbotszone schloss Rhodes praktisch aus. Auch Luftabwehrraketen will Washington offenbar nicht liefern, aus Sorge, diese könnten wie in Afghanistan eines Tages gegen eigene Verbündete eingesetzt werden. Medienberichten zufolge sollen aber gemäßigte Aufständische mit panzerbrechenden Waffen ausgestattet werden. „Zu wenig, zu spät“, kritisieren bereits manche in der Opposition. Denn Außenminister John Kerry scheint weiter auf eine baldige Verhandlungslösung zu setzen, auch wenn er Katar und Saudi-Arabien schon kurz nach seinem Amtsantritt grünes Licht für eine Bewaffnung der Aufständischen gegeben hatte.

Ein Schlingerkurs, der die amerikanische Syrien-Politik auszeichnet, seitdem Obama im August 2011 erstmals Assads Rücktritt forderte. Bereits seit Herbst 2011 sind Mitarbeiter des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA im Süden der Türkei präsent, um dafür zu sorgen, dass von Saudi-Arabien und Katar finanzierte Waffen in die – aus amerikanischer Sicht – richtigen Hände gelangen. Weil das offenbar zu selten der Fall war, orientierte sich Obamas risikoscheue Regierung im Sommer 2012 um und schickte Spezialkräfte nach Jordanien, um die bislang wenig aktiven bewaffneten Aufständischen in der Geburtsprovinz der Revolution im südsyrischen Daraa zu stärken.

Offenbar ist es seitdem gelungen, gemäßigte Einheiten besser auszustatten. Nach Recherchen des Militär­beobachters Eliot Higgins profitierten Gruppen wie die Al-Furqan- und die Ahfad-al-Rasul-Brigaden von Waffenlieferungen aus kroatischen Beständen. FSA-Einheiten brachten im Januar Grenzübergänge nach Jordanien unter ihre Kontrolle; zwei Jahre nach Beginn des Aufstands in Daraa rückten Oppositionsverbände erstmals von Süden her näher an Damaskus heran. Die Entscheidung Washingtons, dem Begehren des jordanischen Königs Abdullah II. nachzugeben und Patriot-Abwehrraketen sowie F-16-Kampfflieger dauerhaft im Land zu lassen, gibt den Aufständischen Rückenwind.

Möglicherweise will die Regierung in Washington dadurch aber lediglich den Druck auf Assad und seine ausländischen Verbündeten erhöhen, in konstruktive Verhandlungen einzutreten. Die von Kerry und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow zunächst für Mai in Genf geplante Friedenskonferenz wurde immer wieder verschoben. Ob Teheran und Riad als wichtigste Unterstützer der verfeindeten Parteien daran teilnehmen, ist nur einer der Streitpunkte. Bedeutender erscheint, dass alle Seiten die Aufrüstung vorantreiben – der Iran und Russland mit Waffenlieferungen an Assads Sicherheitskräfte, die sunnitischen Regionalmächte Katar und Saudi-Arabien mit entsprechender Unterstützung der Aufständischen. Riad will auch Luftabwehrraketen liefern, mit denen die Übermacht von Assads Luftwaffe gebrochen werden könnte. 

Selbst wenn das von Diplomaten als „Genf II“ bezeichnete Treffen zustande kommt, bräuchte es wohl weitere Zusammenkünfte, um die verfeindeten Parteien zu einem dauerhaften Waffenstillstand und einem politischen Ausweg aus dem Krieg zu bewegen. So war der bisherige Höhepunkt diplomatischen Bemühens um eine friedliche Lösung zugleich dessen vorläufiges Ende: Nachdem nicht nur die westlichen Vetomächte im UN-­Sicherheitsrat, sondern auch Russland und China im Frühjahr 2012 der Entsendung Kofi Annans zum Syrien-Sondergesandten von UN und Arabischer Liga zugestimmt hatten, eskalierte die Gewalt wie nie zuvor. Die Forderungen der syrischen Opposition nach Einrichtung einer Flugverbotszone blieben ohne Wirkung – bis heute.

Unentschlossenheit des Westens

Der Fall al-Qusairs hat die Debatte wieder belebt, die Frankreich und Großbritannien zu Beginn des Jahres innerhalb der Europäischen Union lostraten: Mit ihrer Forderung nach Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen Syrien haben sie sich inzwischen zwar durchgesetzt. Doch offen auf die Seite der bewaffneten Opposition gestellt haben sich die beiden einstigen Mandatsmächte in Nahost nicht. Durch die Unentschlossenheit des Westens, gemäßigte Gruppen zu unterstützen, konnten islamistische Milizen wie die Al-Nusra-Front oder die Liwa-al-Tawhid-Brigaden der Muslimbrüder erstarken. Einheiten, die aus der friedlichen Aufstandsbewegung hervorgingen und zunächst nur zum Schutz von Demonstrationen gebildet wurden, sind im vergangenen Jahr von islamistischen Verbänden an den Rand gedrängt worden.

Die Ausbildung gemäßigter Oppositionskämpfer in Jordanien deutet darauf hin, dass aus dem Königreich der Durchbruch zur Hauptstadt beginnen könnte – von Daraa an der jordanischen Grenze bis nach Damaskus sind es nur hundert Kilometer. Bis dahin dürfte es allerdings noch dauern – wenn es überhaupt dazu kommt.

Dass Obama so lange zauderte, hat zum Zögern in Paris und London beigetragen. Das offene Eingreifen der Hisbollah in den Krieg allerdings dürfte die Interventionsdebatte erneut beleben – und den Umgang mit der bewaffneten Opposition ändern. Nach Zentralisierung ihrer Kommandostrukturen im Winter in der Türkei erfährt der Oberste Militärrat der Freien Syrischen Armee um Stabschef Idriss neuerdings stärkere Unterstützung. Wie vor zwei Jahren in Libyen ist Obama spät auf die Linie Großbritanniens und Frankreichs eingeschwenkt. Aus einem internationalisierten Konflikt mit fast 100 000 Toten ist nun vollends ein Stellver­treterkrieg geworden, mit Ankara, Paris, London sowie den autoritären Monarchien in Doha und Riad auf der einen Seite und Moskau mit Teheran auf der anderen. Doch während Russland gemeinsam mit dem Iran alles versucht, einen raschen militärischen Sieg Assads herbeizuführen, geht der Westen weiter nur zögerlich vor. Anders auch als Israel: Bereits drei Mal hat die israelische Luftwaffe in diesem Jahr Militärlager rund um Damaskus bombardiert, in der aus dem Iran gelieferte, für die Hisbollah bestimmte Raketen gelagert gewesen sein sollen.

Spät haben sich die Vereinigten Staaten Großbritannien und Frankreich an der Spitze der zögerlichen Interventionisten angeschlossen. Die Entscheidung Präsident François Hollandes zur Bewaffnung der Aufständischen Anfang 2013 beendete die Appeasementpolitik, die sein Vorgänger Nicolas Sarkozy gegenüber der Diktatur in Damaskus fuhr. Als erstes EU-Land hat Frankreich einen von der oppositionellen Nationalen Koalition ernannten Botschafter akkreditiert.

Die Revolution geht weiter

Auch wenn sich Vertreter der Nationalen Koalition über mangelnde militärische Unterstützung beklagen, stärkt dieser Kurs die Kräfte innerhalb der Opposition, für die ein Dialog mit dem Regime keine Option mehr ist. Die Verhandlungsposition des Sondergesandten von UN und Arabischer Liga, Lakhdar Brahimi, ist eine andere: Für ihn bildet die Genfer Initiative vom Juni 2012 die Grundlage der Gespräche; auch Kerry und Lawrow setzen weiter auf die Bildung einer Übergangsregierung, der Regimevertreter ebenso wie Oppositionelle angehören sollen. 

Durch ihre Anerkennung der Nationalen Koalition als „legitime Vertretung des syrischen Volkes“ im vergangenen Dezember in Marrakesch hat sich die internationale Gemeinschaft selbst unter Zugzwang gesetzt. Die Entscheidung des Ministerpräsidenten der Nationalen Koalition, Ghassan Hitto, und des FSA-Stabschefs Idriss, in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten eigene Verwaltungsstrukturen aufzubauen, zeugt vom Selbstvertrauen der Aufständischen, ihre Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen. Die Revolution geht weiter.

In seiner Rede im Mai sprach Nasrallah der syrischen Opposition ab, eine „Volksrevolution gegen ein politisches Regime“ anzuführen. Vielmehr seien die Assad-Gegner wahlweise Handlanger Amerikas und des Westens oder der verlängerte Arm Al-Kaidas; sie hätten überdies nichts Geringeres zum Ziel, als „das israelische Projekt“ in der Region umzusetzen. Deshalb sei die Intervention der Hisbollah richtig. Der einstige Held der arabischen Massen hat sich damit auf gefährliches Terrain begeben. Gefeiert für den von seinen Milizen erzwungenen Abzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon im Jahr 2000, facht Nasrallah mit dem Eingreifen in Syrien den sunnitisch-schiitischen Konflikt in der Region weiter an. Wohin diese „völlig neue Phase“ die Organisation führt, wird sich militärisch entscheiden.

Markus Bickel ist Kairo-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Autor des Buches „Der vergessene Nahostkonflikt – Syrien, Israel, Libanon, Hisbollah“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 82-87

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